: „Ich bin nicht der Heldinnen-Typ“
Viele reden über AfD-Wähler, die Schriftstellerin Juli Zeh lebt mit ihnen im Dorf. Ein Gespräch über den Umgang mit den Rechtspopulisten, Zehs Rolle in Talkshows und durchtanzte Nächte
Gespräch Antje Lang-Lendorff und Peter Unfried
Der Weg ins Havelland führt durch Wälder, über Alleen und an Seen vorbei. Auf einem großen Feld zur Linken stehen Kraniche, rechts ziehen Wildgänse vorüber. In einem Dorf hat Juli Zeh ein altes Häuschen zu ihrem Büro umgebaut. Abgemacht war, dass wir für die genaue Adresse anrufen, wenn wir in der Nähe sind. Aber wir kriegen kein Netz. Klappt dann doch. Erst kommt der Hund um die Ecke, dann sie selbst.
taz: Schön hier. Aber haben Sie in letzter Zeit mal überlegt wegzuziehen?
Juli Zeh: Bis jetzt nicht. Aber im idyllischen Sinn ist es gar nicht so schön, oder?
taz: Nein? Die vielen Seen, das Schilf, die Vögel …
Zeh: Es ist nicht lieblich, eher karg. Aber ich mag’s. Es lässt einen sehr in Ruhe, sowohl die Landschaft als auch die Leute.
taz: Bei der Bundestagswahl im Februar haben 54 Prozent der Leute im Dorf AfD gewählt.
Zeh: Ja, da sind wir Spitzenreiter der negativen Art.
taz: War das ein Schock für Sie?
Zeh: Das hielt sich in Grenzen. Es ist ja keine neue Entwicklung, die Zustimmung für die AfD wird Jahr für Jahr mehr.
taz: Ist es krass zu wissen, dass so viele Ihrer Nachbarn für die AfD stimmen?
Zeh: Was genau ist daran krass?
taz: Dass Sie umgeben sind von Leuten, die eine mindestens in Teilen verfassungsfeindliche Partei gut finden.
Zeh: Die Menschen hier finden vor allem die anderen Parteien schlecht. Ich glaube, wir haben momentan niemanden im Dorf, der mit seinen Meinungen außerhalb der Verfassung stünde.
taz: Sind Sie da sicher?
Zeh: Ich würde es wahrscheinlich mitkriegen. Anders, als immer mal wieder berichtet wird, ist der durchschnittliche AfD-Wähler glücklicherweise ja kein Rechtsradikaler. Die überwiegende Mehrheit ist nicht der Meinung, man müsste alle Ausländer remigrieren oder noch Schlimmeres. Es gab vor Jahren mal jemanden im Dorf, der offen rassistisch war. Der hat aber Widerstand bekommen, wenn er sich auf Partys schlecht benommen hat.
taz: Sie werden auf Partys eingeladen? Anderswo werden Neue oft viele Jahre nicht einbezogen.
Zeh: Hier ist das nicht so. Das liegt sicher auch an der Historie der Region. Sie wurde im letzten Jahrhundert von der Geschichte so krass durchgeknetet, es gibt kaum Leute, die hier geboren sind. Man ist eher froh über Zugezogene, lange hieß es ja, die Dörfer würden sterben. Wir wurden wirklich mit sehr offenen Armen aufgenommen, obwohl wir speziell sind, Wessis, noch dazu Künstler.
taz: Dann treten Sie auch noch in Talkshows auf und erklären Brandenburg.
Zeh: Das finden die Leute eher gut. Ich kenne viele Landwirte, das sind fast die einzigen Arbeitgeber hier. Die gehen Stück für Stück pleite. Grauenvoll, dann verlieren 40 Leute ihren Job, da hängen Familien dran. Wenn ich davon im Fernsehen erzähle, bringe ich eine gewisse Sichtbarkeit. Es wäre natürlich cooler, wenn man die Betroffenen mal direkt fragen würde. Das ist ja ihr Gefühl, dass in Bezug auf sie eine totale Entfremdung herrscht, ein Nichtwissen.
taz: Wären Sie nicht weiß, würden Sie dann anders über Ihre Nachbarn reden?
Zeh: Ich glaube, nicht, aber das kann ich natürlich nicht beschwören. Da müssen Sie die Menschen mit Migrationshintergrund fragen, die hier auf den Dörfern leben. Mein Eindruck ist, dass das ganz gut funktioniert. Gewiss sagen manche Nachbarn Sachen wie: „Den Ausländern wird alles in den Arsch geschoben, und wir machen drei Jobs und können die Raten für das Einfamilienhaus nicht bezahlen.“ Solche Aussagen gibt es. Aber es ist immer noch ein Riesenunterschied, ob man politisch so redet oder ob man eine Person ablehnt, die einem gegenübersteht.
taz: Aus Worten können Taten werden.
Zeh: Wird oft gesagt, stimmt aber Gott sei Dank in der Regel nicht. Jedenfalls beobachte ich das hier nicht.
taz: Fühlen Sie sich hier zu Hause?
Zeh: Ja klar, wir sind ja bald seit 20 Jahren hier. Und wir haben uns wirklich schnell sehr wohl gefühlt. Ich war enorm froh, Menschen kennenzulernen, mit denen ich sonst niemals Kontakt gehabt hätte.
taz: Leute, die nicht so sind wie man selbst.
Zeh: Genau. Dieses etwas abgenutzte Reden von Bubbles und Blasen stimmt ja. Es gibt immer weniger Kontakt zwischen den gesellschaftlichen Schichten. Das sind geschlossene Communitys. Ich finde es sehr bereichernd, wenn ich die Möglichkeit habe, da reinzuschauen und Menschen wirklich kennenzulernen.
taz: Ab und an brauchen Sie doch die Stadt. In einem Arte-Porträt haben Sie gesagt, dass Sie regelmäßig nach Berlin fahren und die Nacht durchtanzen. Wirklich?
Zeh: Ja, ich tanze die Nacht durch und miste morgens den Pferdestall aus.
taz: Alle paar Monate?
Zeh: Nein, schon so einmal die Woche. Sonst wäre es ja nicht der Rede wert.
taz: Warum wählen denn so viele im Dorf AfD?
Zeh: Die Leute sind einfach extrem unzufrieden. Sie haben nicht das geringste Vertrauen in die herkömmlichen Parteien, weil es an allen Ecken und Enden an der simplen Grundversorgung fehlt: Bildung, Mobilität, Gesundheit, Pflege, bezahlbarer Wohnraum. Mir hat eine Frau erzählt, dass ihrer Tochter ein Schulplatz zugewiesen wurde, den sie kaum erreichen konnte. Es gibt ja nicht wirklich öffentlichen Nahverkehr bei uns. Das Mädchen musste x-mal umsteigen. Die Mutter wollte nicht, dass ihr Kind alleine bei Kälte und Dunkelheit am Bahnhof steht. Also hat sie es immer gefahren. Deswegen kam die Mutter jeden Tag zu spät zur Arbeit. Nach zwei Wochen wurde ihr gekündigt. Ein halbes Jahr später haben sie doch noch einen Schulplatz etwas näher zum Wohnort bekommen, Gott sei Dank. Aber der Job der Mutter war weg. Dass Menschen, die so etwas erleben, AfD wählen, wundert mich nicht.
taz: Denkt diese Mutter wirklich, dass die AfD für mehr Schulplätze sorgen würde?
Zeh: Nein. Die meisten, mit denen ich spreche, glauben gar nicht, dass die AfD Lösungen parat hätte.
taz: Aber?
Zeh: Die AfD ist anschlussfähig mit dem, was sie so rumplärrt, mit ihrer Elitenfeindlichkeit und Verachtung für Politiker. Ich würde sagen, dass die Elitenverachtung von fast allen hier geteilt wird, selbst von Menschen, die nicht AfD wählen. Auch von Leuten mit Abi und Studium. Man kann daraus aber nicht ableiten, dass alle gegen die Demokratie sind. Es gibt auf rechtsextremer und linksextremer Seite Leute, die ernsthaft glauben, dass Demokratie nicht die richtige Staatsform ist. Aber das ist nicht die Mehrheit, das sind wenige.
taz: Moment mal. Die AfD-Wähler hier im Dorf erwarten nichts mehr von der liberaldemokratischen Regierung, aber die Demokratie an sich finden sie gut?
Zeh: Ja, selbstverständlich. Das sind doch zwei vollkommen unterschiedliche Dinge. Die Leute, die AfD wählen, die wollen ja zum Teil sogar mehr Demokratie. Die wollen mehr Plebiszite, mehr Einfluss des Volkes. Die sind der Meinung, dass ein großer Teil der Bevölkerung ihre Auffassung teilt, zum Beispiel bei der Kritik an Zuwanderung, und dass die sogenannten Eliten in Wahrheit undemokratische Institutionen sind. Aus dieser Sicht haben die Eliten die Pressefreiheit eingeschränkt und einen homogenen medialen Diskurs geschaffen. Die Eliten treffen angeblich Entscheidungen, die nicht vom Volk getragen sind. Sie machen eine Top-down-Politik im Land, obwohl sie demokratisch gewählt sind.
taz: Frau Zeh! Die wollen nicht mehr Demokratie, die tragen auf der Fiktion einer Volksmehrheit minderheiten- und migrationsfeindliche Positionen mit.
Zeh: Frau Lang-Lendorff und Herr Unfried! Demokratie ist nicht, wenn Menschen Dinge wählen, die man selbst gut und richtig findet! Sonst müssten Sie die Schweiz als eine untergegangene Demokratie betrachten, weil es dort erfolgreiche Plebiszite gegen den Bau von Minaretten gibt. Man muss unterscheiden können zwischen eigenen politischen Überzeugungen und Demokratie. Im Extremfall setzt unsere Verfassung auch demokratisch legitimierten Entscheidungen Grenzen, aber man kann nicht alles als undemokratisch bezeichnen, was einem nicht gefällt. Der durchschnittliche AfD-Wähler will nicht das Parlament abschaffen. Er hegt vielmehr ein tiefes Misstrauen gegen alle Entscheidungsträger in den Hauptstädten. Natürlich ist das Misstrauen in dieser Form aus meiner Sicht nicht gerechtfertigt. Aber wenn man irgendetwas verstehen will, muss man es zur Kenntnis nehmen.
taz: Seit dem Frühjahr haben wir eine neue Bundesregierung. Wie wird die bewertet?
Zeh: Das interessiert schon gar keinen mehr, würde ich sagen. Ich will den Defätismus nicht größer reden, als er eh schon ist. Aber dieses Wegdriften ist schon dramatisch. Dadurch werden die Leute verführbar und manipulierbar durch Extremisten.
taz: Mit Wegdriften meinen Sie die Systemferne?
Zeh: Nennen wir es mal so. Wenn man jahrzehntelange in der Diktatur gelebt hat, ist das Misstrauen gegenüber staatlichen Instanzen sowieso noch mal größer, und es wird auch an die nachfolgenden Generationen weitergegeben. Für mich als Westlerin ist es normal zu sagen: Ich bin zu Hause in dieser Staatsform, ich traue den gewählten Vertretern auch dann, wenn sie nicht meine Favoriten sind. Sich so stark mit dem Staat zu identifizieren, kann aber für jemanden, der aus der DDR kommt, ganz merkwürdig sein. In Diktaturen lernen die Menschen: Man wurschtelt unter dem Radar, grenzt sich von Politik ab und setzt nicht so große Hoffnungen in sie.
taz: Bei urbanen Schnöseln wird schon darüber gesprochen, in welches Land man gehen könnte, wenn die AfD regiert. Das käme für Sie nicht in Frage?
Zeh: Weggehen wegen der AfD? Ich würde fliehen, wenn man mich politisch so verfolgt, dass ich Angst haben muss um mein Leben und meine Familie. Ich bin nicht der Heldinnen-Typ. Aber das ist nicht die Situation, vor der wir stehen. In unserer Geschichte gab es das ja, nicht nur die Flucht aus dem Dritten Reich, sondern auch aus der DDR. Heute leben hier Syrer, die im Schlauchboot über das Mittelmeer fliehen mussten. Und wir sitzen da, beim Rotwein, und sagen: „Ach Gott, ich halt’s nicht mehr aus.“ Also, das ist ganz schön wohlfeil.
taz: Was halten Sie selbst von der Merz-Regierung?
Zeh: Ich bin kein Fan von Friedrich Merz.
taz: Fanden Sie hilfreich, was er über die „Probleme im Stadtbild“ gesagt hat?
Zeh: Nein. Ich will ihm nichts unterstellen, aber häufig genug werden solche Debatten ja nicht geführt, um tatsächlich Probleme zu benennen und Dinge zu verbessern. Es geht nur darum, eine Form von Alarm zu machen, in der Hoffnung, man könnte Leute vom rechten Rand zur CDU zurückholen. Das halte ich für absolut kontraproduktiv und das Dümmste, was man machen kann. Funktioniert einfach nicht.
taz: Dass die Leute wegdriften, liegt Ihrer Meinung nach vor allem am Politikversagen, richtig?
Zeh: Die ganze Regierungsphase Merkel hat das Land bei der Daseinsvorsorge nicht vorangebracht. In der Zeit ist ein riesiger Rückstau entstanden, was Reformen angeht. Bildung, bezahlbares Wohnen, Mobilität, Gesundheitsversorgung. Ich zeige da auch auf meine Partei, die SPD, weil die vor allem für Menschen zuständig ist, die sich keine Privatschulen und keine private Krankenkasse leisten können. Abgesehen davon hat der Erfolg von Rechtspopulisten natürlich auch was zu tun mit dem Hin- und Herschwingen des Pendels zwischen Progression und Reaktion. Schließlich gibt es die Entwicklung nicht nur bei uns, sondern in der ganzen westlichen Hemisphäre.
taz: Wenn das Pendel nun zurückschwingt, was kann man da tun?
Zeh: Standhaft bleiben. Kein Geld mit Alarmismus verdienen, das geht jetzt auch in Ihre Richtung. Wenn man sagt, die Apokalypse droht, wer hat dann noch Zeit für Demokratie und Liberalismus? Dann befördert man den Erfolg der Rechtspopulisten. Das gilt für jeden, der wegen einer erfolgreichen Schlagzeile so tut, als stünden wir unmittelbar vor dem Zusammenbruch des Landes oder vor dem dritten Weltkrieg.
taz: Wenn der Rechtspopulismus derart an Zuspruch gewinnt, müssen wir dann unsere Demokratie nicht schützen?
Zeh: Ja, gerne, und wie? Mit einem AfD-Verbotsverfahren oder der Brandmauer, meinen Sie? Gute Frage. Ich weiß nicht, ob die AfD heute ohne Brandmauer besser oder schlechter dastünde.
taz: Sie sind dagegen?
Zeh: Ich bin kein Fan davon, ich bin halt auch Juristin. Man sollte nicht die eigenen Regeln und Grundsätze über Bord werfen, um einen politischen Gegner zu bekämpfen. Ich kann einfach nicht glauben, dass das funktioniert. Man begeht quasi Selbstmord aus Angst vor dem Tod. Die Brandmauer hat zum Teil auch diesen Effekt.
Die Person
Juli Zeh, geboren 1974, wuchs in Bonn auf. Sie studierte Jura in Passau und Leipzig. Daneben besuchte sie das Deutsche Literaturinstitut in Leipzig und entschied sich anschließend, nicht als Strafrichterin, sondern als Schriftstellerin zu arbeiten. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern im Havelland, wo sie ein altes Haus saniert haben. Dort hat Zeh auch ihre Pferde, sie reitet viel.
Die Autorin
Ab 1996 veröffentlichte Juli Zeh Kurzgeschichten und Essays, später auch Romane, Kinderbücher und Bühnenstücke. Für ihr Werk, das in über 30 Sprachen übersetzt wurde, erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen. Ihr Roman „Unterleuten“, der in Brandenburg spielt und 2016 erschien, wurde ein Publikumserfolg und auch verfilmt. 2023 veröffentlichte sie gemeinsam mit Simon Urban den Roman „Zwischen Welten“, ein Whatsapp-Dialog einer Bäuerin mit einem Journalisten.
taz: Sie hält die AfD von der Macht fern.
Zeh: Scheint mir nicht so, die Prozente der AfD steigen ja immer weiter. Abgesehen davon bewegt man sich ja selbst oft in der Grauzone des Verfassungsrechts, indem man versucht, die AfD auf diese Weise zu bekämpfen. Zum Beispiel, wenn AfD-Mitglieder kategorisch vom Staatsdienst ausgeschlossen werden sollen und Ähnliches.
taz: Wenn eine Partei gesichert rechtsextremistisch ist, dann muss die Demokratie sich schützen.
Zeh: Das kann man so sagen, und alle Nicht-AfD-Wähler werden zustimmen. Aber was soll das denn konkret heißen? Der Versuch, mit der Brandmauer die AfD kleinzuhalten, hat in den letzten zehn Jahren nichts gebracht. Im Brandenburgischen Landtag gibt es schon jetzt keine Zweidrittelmehrheit mehr ohne die AfD. Um beispielsweise einen Verfassungsrichter zu wählen, braucht man aber zwei Drittel des Landtags. Wählen wir dann halt keine Verfassungsrichter mehr?
taz: Sie waren vehement gegen ein AfD-Verbot. Sind Sie es immer noch?
Zeh: Ich bin doch nicht prinzipiell gegen ein AfD-Verbot. Ich sag’s noch mal: Ich bin Juristin. Wenn ein Parteiverbotsverfahren Aussicht auf Erfolg hat, kann und muss man es anstrengen. Wenn nicht, wird es der AfD nutzen. Wenn Sie einen halbwegs cleveren AfD-Funktionär fragen, was auf seinem Wunschzettel für 2026 steht, dann sagt der wahrscheinlich: Ich wünsche mir ein Parteiverbotsverfahren. Allein der Versuch, sie zu verbieten, würde der AfD krass nutzen.
taz: Wir haben eine Situation, in der fast alles dem Rechtspopulismus nützt.
Zeh: Außer guter Politik und gutem Journalismus vielleicht.
taz: Dafür muss man möglicherweise die systemischen Grundlagen für erfolgreiche Politik überarbeiten.
Zeh: Momentan sehen wir einen Teufelskreis. Je stärker die AfD wird, desto zufälliger werden die Koalitionen, desto dysfunktionaler läuft es ab und desto leichter kann die AfD sagen: Hahaha, die kriegen es wieder nicht hin. Das heißt, die Mitglieder einer noch so schwierigen Koalition müssten ihr Profilierungsstreben beiseite lassen und gemeinsam sagen: Bildung, Krankenhäuser, Transport, billiges Wohnen, das werden wir jetzt vier Jahre lang machen.
taz: Das hätte doch Ihr Parteigenosse Olaf Scholz tun können.
Zeh: Hätte er müssen. Das ist, wenn überhaupt, der einzige Hebel, wie man den Rechtspopulisten beikommen kann – durch Politik, die wirklich konkrete Probleme adressiert. Und dadurch das Misstrauen auflöst.
taz: Wir haben auch noch so kleine Probleme wie die Erderwärmung, die Amerikaner, die Russen, die Chinesen. Regieren ist nicht mehr so einfach wie zu den goldenen Zeiten der Volksparteien.
Zeh: Ich glaube nicht, dass es jemals einfach oder irgendwie golden war. Die Verklärung der Vergangenheit ist eine weitere Ursache für Zukunftsangst, sie verstärkt das Misstrauen gegenüber den demokratischen Institutionen. Damit sollte man vorsichtig sein.
taz: Auch in den Städten gibt es Probleme mit Wohnraum oder Schulplätzen und trotzdem wählen die Menschen nicht AfD. Die Probleme auf Rente, Miete, Schule und Gesundheit zu reduzieren, ist zu einfach.
Zeh: Die Probleme in den Städten betreffen ebenfalls die Peripherie, Stadtrandlagen, wo eher Benachteiligte wohnen. Wenn man den gesellschaftlichen Frieden wahren will, muss man verstehen, dass es berechtigte Interessen gibt, die in einer Demokratie von den Wählern ausgedrückt werden. Wählen und Demokratie ist nicht in erster Linie eine moralische Angelegenheit, so gerne wir auch von Werten sprechen. Es ist ein System zur Herstellung von Interessenausgleich und damit von gesellschaftlichem Zusammenhalt. Wenn man es so weit kommen lässt, dass das Land wirklich gespalten ist, wie in den USA, dann kriegt man halt irgendwann gar nichts mehr auf die Kette. Keine Verteidigung, keine Wirtschaft, keine Klimapolitik, gar nichts.
taz: Sie mischen regelmäßig in der öffentlichen Debatte mit. In dem Arte-Portrait sagten Sie: „Ich habe das Gefühl, dass es wichtig ist, dass ich das mache.“ Warum?
Zeh: Ich kriege das gespiegelt, und das treibt mich immer wieder an. Ich hätte es gemütlicher, wenn ich mich nicht einmischen würde. So schön ist das nicht, sich dauernd ankacken zu lassen.
taz: Bekommen Sie viele Shitstorms?
Zeh: Schon manchmal.
taz: Sie haben früh die Coronapolitik kritisiert, Sie haben zusammen mit Sahra Wagenknecht Waffenlieferungen an die überfallene Ukraine kritisiert. Wo kommt der Antrieb her, gegen die linksliberale Mehrheitsmeinung zu sprechen?
Zeh: Der Antrieb ist simpel: Das Thema muss mir wichtig sein und die kritische Position zu wenig vertreten. Meinungspluralismus ist das Gesundheitselixier der Demokratie. Daran mitzuwirken, ist aus meiner Sicht gerade eine Aufgabe von freiberuflichen Intellektuellen. Wenn medial so ein komisches Schweigen herrscht, dann denke ich immer: Hier stimmt was nicht. Jetzt muss ich was sagen.
taz: Ist Ihnen immer klar, für welche Rolle Sie für Talkshows gecastet werden?
Zeh: Ich denke schon. Es gab eine Phase, in der ich viele Einladungen abgelehnt habe, weil ich als Punchingball kommen sollte. Etwa zur Ukraine, wenn da vier Leute sitzen, die der Meinung sind, wir müssen das durchkämpfen, wir besiegen Russland militärisch. Und dann braucht man noch eine Person, die was dagegen sagt, damit die anderen sich daran abarbeiten können. Bei so was mache ich nicht mit. Aber in letzter Zeit werde ich wieder für eine Rolle eingeladen, mit der ich mich gut identifizieren kann.
taz: Welche?
Zeh: Als jemand, der nicht fest in einem Lager verortet ist.
taz: Na ja, Sie sagen immer „meine Partei“, wenn Sie von der SPD sprechen.
Zeh: Weil ich da Mitglied bin. Aber ich bin keine Politikerin, ich muss nicht für eine Institution sprechen. Ich kann sagen, was ich will, ganz egal, was gerade die Parteilinie ist. Man kann mich ja nicht stoppen.
taz: Mal erwogen, zum BSW zu wechseln?
Zeh: Nein.
taz: Teilweise spricht Sahra Wagenknecht ähnliche Dinge aus wie Sie.
Zeh: Ich bin Sozialdemokratin. Das ist für mich nicht nur eine politische Idee, sondern eine Weltsicht. Und wenn die Realität nicht so ist, muss man nicht gleich austreten. Man kann auch versuchen, für etwas einzutreten.
Antje Lang-Lendorff, 47, ist Redakteurin der wochentaz. Sie hat eine Datsche in Brandenburg.
Peter Unfried, 62, ist Chefreporter der taz und nachhaltig beeindruckt von Juli Zehs Romanen „Unterleuten“ und „Zwischen Welten“.
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