Hetzkampagne bei „Welt“: Decolonize Springer!
Die Springer-Zeitung „Welt“ wütet gegen eine dekoloniale Veranstaltung in Berlin. Dabei bedient sie uralte konservative Ressentiments.
I n der Friedenskirche in Berlin-Charlottenburg führen am Montag eine muslimische Theologin und ein christlicher Theologiestudent durch die Weihnachtsgeschichte. Unter dem Titel Decolonizing Christmas wollen sie dabei insbesondere auf koloniale und rassistische Aspekte von Weihnachtserzählungen aufmerksam machen. So weit, so unaufregend.
Doch die Welt nimmt die Veranstaltung zum Anlass, eine Empörungskampagne zu starten, die eine leidige, urkonservative Panik wiederbelebt: Die Linken wollen uns unser Weihnachten wegnehmen! Gibt es denn nichts, was denen noch heilig ist? – so in etwa der Ton der jährlich sich entfesselnden Entrüstung.
„Sie wollen Weihnachten abschaffen. Ich bin sprachlos“, „Weihnachtshasser schwingen Rassismuskeule“ und „‚Decolonizing Christmas‘ braucht niemand“, lauten einige der Zitate, mit denen die Welt seit einigen Tagen ihre Beiträge zum Thema betitelt. So werden mutwillig die altbekannten Ängste vor dem Niedergang des Abendlandes geschürt. Kein Wunder, dass die CDU – in diesem Fall Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner – oder Portale wie „Nius“ mit einstimmen.
In einem Beitrag wird dann etwa beanstandet, dass man sich nur auf christlichen Kolonialismus fokussiere. Dabei sei die Ausbreitung des Islam doch „auch nichts anderes als ein großes, koloniales Unternehmen“ gewesen. Dass die Nachwirkungen des westlichen Kolonialismus die globalen Machtverhältnisse aber bis heute in besonderem Maße strukturieren, einen kritischen Blick darauf zu werfen, also völlig legitim ist – zu dem Schluss kommt man bei der Welt erwartbarerweise nicht.
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Muslim*innen sprechen, Springer verleumdet
Stattdessen wird sich darüber empört, dass unter den Veranstalter*innen ausgerechnet zwei Musliminnen sind, „die sich den Westen jetzt vorknöpfen“. Man solle sich andersrum mal vorstellen, was passieren würde, wenn Christen ein entsprechend kritisches Event in einem islamischen Land machen würden. „Diese Leute wären sofort im Gefängnis“, ist sich die sogenannte Islamwissenschaftlerin Susanne Schröter sicher.
Hier offenbart sich die ganze Scheinheiligkeit der Springer-Kampagne: Erst schmückt man sich mit den demokratischen Freiheiten, die man im Westen doch genieße. Im nächsten Moment diffamiert man mit aller Anstrengung Muslim*innen, die eben diese Freiheiten nutzen, um Kritik zu üben.
Dass sich diese konservative Kritikunfähigkeit gerade dann in besonders unkontrollierter Schnappatmung äußert, wenn es um das christliche Hochfest geht, ist nichts Neues. In den USA wird schon seit Jahrzehnten von einem „War on Christmas“ fabuliert, auch in Deutschland wird gerne die Verdrängung des Christentums heraufbeschwört, wenn es mal „Wintermarkt“ statt „Weihnachtsmarkt“ heißt. Dabei steht fest: Auch dieses Jahr werden die Konservativen nach der vorweihnachtlichen Aufregung wieder in Ruhe ihr Fest feiern können.
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