Einigungen der Ampel-Parteien: Das steht im Koalitionsvertrag
Was sieht der Koalitionsvertrag der Ampel fürs Klima vor? Was für Familien? Die Einschätzung unser Fachredakteurinnen im Überblick.
K napp zwei Monate nach der Bundestagswahl steht der Vertrag zur Bildung der ersten Ampel-Koalition auf Bundesebene. Die Spitzen von SPD, Grünen und FDP haben ihre Beschlüsse am Nachmittag in Berlin vorgestellt. Aber was steht zu den einzelnen Themen drin? Unsere Fachredakteur*innen geben den Überblick.
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Gesundheit und Pflege
Am Grundsystem der Krankenhausfinanzierung wird sich nur wenig ändern – allerdings soll es künftig Vorhaltepauschalen geben. Verschiedene Krankenhausbereiche würden dann nicht mehr primär über die Versorgung pro Patient finanziert, sondern auch dafür bezahlt, bestimmte Kapazitäten bereitzustellen. So könnten etwa in Pandemien Kapazitäten für Covid-Patienten freigehalten werden, ohne dass Krankenhäusern Verluste entstehen. Etwaige Vorschläge sollen aber von einer Kommission unterbreitet werden. Ganz unmittelbar soll sich nur die Finanzierung von Pädiatrie, Notfallversorgung und Geburtshilfe verbessern.
Das in der Pandemie überbeanspruchte Pflegepersonal soll offenbar weitere Zahlungen erhalten, eine Milliarde Euro stehen dafür bereit. Der Pflegebonus soll bis zu 3.000 (bisher 1.500) Euro steuerfrei sein.
Um das alte Problem mit der Überlastung von Notaufnahmen zu lösen, sollen Kassenärzte und Krankenhäuser künftig in Integrierten Notfallzentren zusammenarbeiten. Die Idee: Patienten, die weniger akut gefährdet sind, können außerhalb der teuren Notaufnahme bedarfsgerecht behandelt werden. Zudem wollen SPD, FDP und Grüne die Digitalisierung des Gesundheitssystems weiter vorantreiben. Dazu gehört die beschleunigte Einführung der elektronischen Patientenakte und des E-Rezepts.
Vor allem der grüne Ex-Parlamentarier Hans-Christian Ströbele („Gebt das Hanf frei“) darf sich freuen: Die Ampel führt die kontrollierte Abgabe von Cannabis an Erwachsene „zu Genusszwecken in lizenzierten Geschäften“ ein. Grüne und FDP hatten sich dafür stark gemacht. Insgesamt zeigt die Koalition sich zögerlich. Zwar will man die bedarfsgerechte Finanzierung des Krankenhaussystems voranbringen, allerdings eher durch Feinjustierung als eine grundlegende Neuordnung. Jörg Wimalasena
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Klima
Für die Grünen war der Auftrag klar: Regieren nur mit dem 1,5-Grad-Ziel im Blick. Folgerichtig heißt es im Koalitionsvertrag: „Wir werden national, in Europa und international unsere Klima-, Energie- und Wirtschaftspolitik auf den 1,5-Grad-Pfad ausrichten.“ Ob die Maßnahmen dazu ausreichen, ist aber noch unklar; viele ExpertInnen brauchen für eine seriöse Einschätzung dieser Frage ein paar Tage. Aber wenn man die Vereinbarung an dem misst, was Thinktanks und grüne Lobbys fordern, zeigt sich: Sie schreibt ehrgeizige Ziele fest, bleibt allerdings in manchen Feldern unscharf.
Vor allem beim Ausbau der Erneuerbaren herrscht großer Ehrgeiz: 80 Prozent des Strombedarfs soll bis 2030 aus Ökoquellen kommen, nicht nur 65 Prozent wie bislang geplant. Dabei rechnet die Ampel mit 20 bis 30 Prozent mehr Stromverbrauch als heute. Um das zu erreichen, soll der Bau von Erneuerbaren schneller und unbürokratischer werden und nun als „öffentliches Interesse definiert werden“.
Der Kohleausstieg und die Unterstützung der betroffenen Regionen sollen schon bis 2030 gelingen. Dabei bleibt es bei der umstrittenen Ankündigung, dass dies „idealerweise“ gelingen soll; und zwar – konkreter als im Sondierungspapier – mit einem Mindestpreis oder anderen Maßnahmen, die verhindern, dass der CO2-Preis im EU-Emissionshandel unter 60 Euro fällt.
Zum deutschen CO2-Preis auf Heizöl und -gas sowie Benzin und Diesel findet sich – wohl aus Sorge vor einer neuen „Benzinwut“-Debatte – dagegen nichts. Hier bleibt es bis 2025 bei den Erhöhungen, die bereits die Groko beschlossen hatte. Die EEG-Umlage soll verschwinden und Menschen so von hohen Energiepreisen entlasten. Die Wasserstoffwirtschaft soll überall vorangetrieben werden.
All diese Punkte wird wohl Robert Habeck als neuer Minister für Wirtschaft und Energie selbst vorantreiben können. Auch bei der Landwirtschaft, die fürs Klima ebenfalls wichtig ist, werden die Grünen vieles selbst entscheiden können. Und das ebenfalls grün geführte Außenministerium soll künftig eine „Klimaaußenpolitik“ machen und „Klimagerechtigkeit“ in den Vordergrund stellen. Der Einfluss der Grünen auf andere Ressorts ist dagegen geringer als gehofft: Klimaschutz wird zwar als „Querschnittsaufgabe“ definiert und alle Sektoren haben weiterhin genaue Einsparziele. Aber statt des geforderten Vetorechts des Klimaministeriums sieht der Koalitionsvertrag nur einen „Klimacheck für alle Gesetze“ vor, den jedes Ressort selbst macht.
Doch auch für Ministerien, die an die anderen Parteien gehen, werden ehrgeizige Vorgaben gemacht: Bis 2030 soll auch beim Heizen 50 Prozent erneuerbare Energie genutzt werden, Solaranlagen sollen auf neuen Gewerbebauten zur Pflicht und bei Privathäusern zur Regel werden. Im Verkehrsbereich werden mit 15 Millionen E-Autos bis 2030 mehr als in den ambitionierten Studien etwa der „Agora“ gefordert. „Deutlich vor 2035“ sollen keine neuen Verbrennungsmotoren mehr zugelassen werden. Beim Subventionsabbau traut sich die Ampel dagegen bisher nur an die Lkw-Steuer ran; das Dieselprivileg bleibt zunächst erhalten.
Durchgesetzt haben sich viele Ideen der Grünen – auch wenn man die roten Linien der anderen deutlich sieht. Bernhard Pötter/Malte Kreutzfeldt
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Frauen und Familie
Es ist durchaus ein Aufbruch: Das Selbstbestimmungsrecht von Frauen und deren Schutz vor Gewalt wird gestärkt, das Familienrecht entstaubt, das Transsexuellengesetz abgeschafft. Der Bereich trägt die Handschrift der Grünen, die SPD hat wohl den Rücken gestärkt – und die FDP sich zumindest in den meisten Bereichen nicht konsequent quergestellt. Einig war man sich wohl vor allem gesellschaftspolitisch, konkrete Zahlen werden nicht genannt.
„Familie ist vielfältig und überall dort, wo Menschen Verantwortung füreinander übernehmen“, heißt es im Vertrag: Soziale Eltern sollen das „kleine Sorgerecht“ bekommen können, lesbische Mütter bei Geburt ihres Kindes automatisch die Mütter sein.
„Die Gleichstellung von Frauen und Männern muss in diesem Jahrzehnt erreicht werden.“ Dazu soll unter anderem die ressortübergreifende Gleichstellungsstrategie weiter entwickelt und künftige Gesetze einem „Gleichstellungscheck“ unterzogen werden. Die Istanbulkonvention gegen Gewalt gegen Frauen soll – endlich – „vorbehaltlos und wirksam“ umgesetzt werden, die Finanzierung von Frauenhäusern einen bundeseinheitlichen Rahmen bekommen.
Der Paragraf 219a wird wie erwartet abgeschafft. Auf straffreien Schwangerschaftsabbruch, wie bei Grünen und SPD vereinbart, konnte man sich nicht einigen. Er scheint innerhalb der Verhandlungen das Gegenstück zur Liberalisierung von Eizellspende und altruistischer Leihmutterschaft gewesen zu sein, die wohl die FDP gepusht hat. Eine Kommission soll prüfen, welche Möglichkeiten es bei Abbrüchen wie auch in den reproduktionsmedizinischen Bereichen gibt. Immerhin: Die Koalitionär:innen erkennen Abbrüche als Grundversorgung an, Ärzt:innen sollen sie in der Ausbildung üben.
Durchgesetzt hat sich die FDP beim Wechselmodell für getrennt lebende Eltern, was für Kritik bei Mutterinitiativen sorgen wird. Väter sollen in bestimmten Fällen durch einseitige Erklärung das gemeinsame Sorgerecht bekommen können. Im Fall eines Widerspruchs muss das Familiengericht ran. Immerhin: Häusliche Gewalt muss im Umgangsverfahren berücksichtigt werden. Patricia Hecht
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Migration und Integration
Im Vergleich zur Groko kündigt die Ampel eine liberalere Migrations- und Integrationspolitik an. So wollen SPD, Grüne und FDP mehr legale Fluchtwege schaffen und die Integration von Migrant:innen in Deutschland erleichtern. Gleichzeitig will die künftige Bundesregierung die „irreguläre Migration“ reduzieren und Straftäter und Gefährder „konsequenter“ abschieben. Minderjährige sollen aber grundsätzlich nicht mehr in Abschiebehaft genommen werden.
Konkret möchte die Ampel mehr Schutzsuchende über Resettlement- und humanitäre Programme aufnehmen. Sollte eine Reform hin zu einem faireren EU-Asylsystem nicht klappen, will die Ampel mit einer Koalition der Willigen mehr Verantwortung unternehmen. Auch sollen Schutzsuchende in Deutschland leichter ihre Verwandten nachholen können. Zur Erinnerung: Die Groko hatte den Familiennachzug bei subsidiär Schutzberechtigten erst ausgesetzt und dann auf 12.000 Menschen im Jahr begrenzt.
SPD, Grüne und FDP garantieren, die Liste der „sicheren Herkunftsländer“ nicht auszuweiten und von den „Anker-Zentren“ abzurücken. Um das Sterben auf dem Mittelmeer zu beenden, will die Koalition die Seenotrettung auf dem Mittelmeer unterstützen. Übernehmen soll dies die EU-Agentur Frontex. Die Ampel will auch dafür eintreten, dass die zivile Seenotrettung nicht mehr behindert wird.
SPD: Neben dem Kanzleramt soll die SPD Verantwortung für die Ministerien für Inneres, Verteidigung, Gesundheit, Arbeit und Soziales, wirtschaftliche Zusammenarbeit sowie das neu geschaffene Ministerium für Bauen und Wohnen übernehmen.
Bündnis 90/Die Grünen: Die Grünen sollen den Vizekanzler stellen. Auch das Auswärtige Amt sowie die Ministerien für Wirtschaft und Klimaschutz, Umwelt und Verbraucherschutz, Familie sowie Ernährung und Landwirtschaft sollen die Grünen erhalten.
FDP: Die Freien Demokraten bekommen vier Ministerien: Bildung und Forschung, Finanzen, Justiz sowie Verkehr und Digitales.
Zudem möchte die Ampel bessere Bleibeperspektiven schaffen. So sollen künftig „alle Menschen, die nach Deutschland kommen“, Anspruch auf einen Integrationskurs erhalten. Arbeitsverbote und Kettenduldungen sollen wegfallen, geduldete Azubis eine Aufenthaltserlaubnis erhalten. Schutzsuchende sollen künftig Zugang zum Arbeitsmarkt bekommen. Dieser „Spurwechsel“ scheiterte bislang an der Union. Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz soll um ein Punktesystem nach kanadischem Vorbild ergänzt werden, auch Nichtakademiker sollen künftig per „Blue Card“ einreisen dürfen. Neu wäre auch die doppelte Staatsbürgerschaft: Deutsche mit Migrationsgeschichte dürfen demnach künftig ihren zweiten Pass behalten. Auch wollen SPD, Grüne und FDP die Einbürgerung nach fünf Jahren ermöglichen. Ralf Pauli
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Europa und Außenpolitik
Die meisten Aussagen in diesem Kapitel bleiben eine Auslegungssache. Eine eindeutige Aussage gibt es allerdings zu Kampfdrohnen: Die Bundeswehr darf ihre unbemannten Flugzeuge bewaffnen. Grüne und SPD, bisher kritisch eingestellt, hatten sich dafür in den letzten Monaten geöffnet. Die Ankündigung im Koalitionsvertrag kommt daher nicht überraschend.
Ob der Verteidigungshaushalt weiter steigen wird, bleibt dagegen offen. Dass 2-Prozent-Ziel der Nato wird im Koalitionsvertrag zwar nicht explizit erwähnt. Die Ampel will aber „langfristig“ 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Entwicklung, Diplomatie und die „in der Nato eingegangenen Verpflichtungen“ stecken.
Unklar bleibt auch die Zukunft der in Deutschland stationierten US-Atomwaffen. So will die neue Regierung zwar einen Beobachterstatus beim internationalen Atomwaffenverbotsvertrag einnehmen. Ob die Bundeswehr weiterhin bereitstehen soll, um im Ernstfall in Zusammenarbeit mit den US-Amerikanern Atombomben einzusetzen, ist aber offen.
Ähnlich beim Thema Waffenexport: Die Ampel will ein Rüstungsexportgesetz einführen. Damit könnten Regeln verbindlicher werden. Ausnahmen sollen aber möglich bleiben. Welche das sind? Man weiß es nicht.
In der Praxis muss sich zudem noch zeigen, wie die neue Koalition gegenüber autoritären Regierungen auftritt. Laut Koalitionsvertrag will sie ihre Außenpolitik auf „Freiheit, Demokratie und Menschenrechten“ aufbauen. Innerhalb der Europäischen Union will sie sich dafür einsetzen, dass es strenger geahndet wird, wenn Mitgliedsländer gegen die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit verstoßen. In Bezug auf Problemstaaten außerhalb der EU wie Russland, China und die Türkei dominiert das für Koalitionsverträge typische Sowohl-als-auch: Uns sind gute Beziehungen wichtig, wir sprechen aber auch Probleme an. Dabei wird der zweite Teil diesmal vielleicht ein bisschen stärker betont wie zum Beispiel im Absatz zu China, in dem Xinjiang, Taiwan und Hongkong explizit erwähnt werden. Tobias Schulze
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Innere Sicherheit
Das Innenministerium geht an die SPD, sein Zuschnitt wird gestutzt: Bauen wandert ab, Heimat bleibt bestehen. Die Ampel gibt sich staatstragend. „Leben in Freiheit braucht Sicherheit“, heißt es. Die Sicherheitsbediensteten verdienten „unseren Respekt“, die Polizei werde besser ausgestattet. Der Kampf gegen die organisierte Kriminalität und Kindesmissbrauch sollen zu Schwerpunkten werden.
Gleichzeitig aber wird ein progressiver Schwenk vollzogen, hin zu einer „grundrechtsorientierten Sicherheitspolitik“, wie es die Ampel benennt. Alle Sicherheitsgesetze sollen künftig wissenschaftlich evualiert werden, mit einer unabhängigen „Freiheitskommission“ und mit Blick auf die Auswirkungen für die Bürgerrechte. Flächendeckende und biometrische Videoüberwachung wird abgelehnt, ebenso Staatstrojaner für die Bundespolizei. Beim Verfassungsschutz soll die Überwachungssoftware nochmal auf den Prüfstand. IT-Sicherheitslücken, die für Überwachung genutzt werden könnten, sollen geschlossen werden. Eine Absage an die Vorratsdatenspeicherung aber fehlt: Diese soll nun „rechtssicher anlassbezogen und durch richterlichen Beschluss“ stattfinden – was eine Massenüberwachung praktisch weitgehend verunmöglicht.
Als größte Sicherheitsbedrohung wird der Rechtsextremismus benannt, so wie es zuletzt auch die Groko tat. Als Gegenmittel sollen Gefährder koordinierter überwacht, Extremisten entwaffnet und Deradikalisierung gestärkt werden. Das lange geforderte Demokratiefördergesetz soll kommen, das Projekte gegen Extremismus langfristig absichert. Frauen- und queerfeindliche Straftaten sollen besser erfasst werden. Geschaffen wird ein Anti-Rassismus-Beauftragter. Der Begriff Rasse soll aus dem Gesetz gestrichen werden – in der vergangenen Legislatur war dies noch gescheitert.
Gleichzeitig soll mehr Kontrolle für die Sicherheitsbehörden her. Ein unabhängiger Polizeibeauftragter und eine Kennzeichnungspflicht für die Bundespolizei wird geschaffen.
Der Einsatz von V-Leuten soll parlamentarisch „überprüfbar“ werden, Akten höchstens noch für 30 Jahre geheim eingestuft. Bei der Polizei soll eine Sicherheitsüberprüfung für Bewerber:innen extreme Ansichten verhindern und unabhängige Forschung dem nachgehen. Ein Archiv zum Rechtsterrorismus wird geschaffen. Und der 11. März soll nationaler Gedenktag für Opfer terroristischer Gewalt werden – so wie auf europäischer Ebene schon, in Erinnerung an den Anschlag 2004 in Madrid.
Ergo: Vieles, was unter Seehofer noch unmöglich war – die Umsetzung bleibt abzuwarten. Konrad Litschko
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Finanzen
Der Staat wird weiter Schulden machen – obwohl SPD und FDP in ihren Wahlprogrammen die Schuldenbremse propagiert haben. Doch nun werden gleich drei Tricks genutzt, um Kredite zu ermöglichen. Erstens: Die Ampel profitiert davon, dass die Merkel-Regierung für 2022 bereits neue Schulden in Höhe von 100 Milliarden Euro vorgesehen hatte. Offiziell sollen damit die weiteren Coronakosten finanziert werden, doch war immer klar, dass so viel Geld nicht nötig würde. Der Rest kann also in die Ampel-Projekte fließen.
Zweitens: Die Coronaschulden sollen zwar getilgt werden, wie es die Schuldenbremse vorsieht – aber die Tilgungszeit wird verlängert. Die Merkel-Regierung wollte die Pandemie-Kredite bis 2043 abstottern. Die Ampel will es jetzt erst bis 2058 schaffen. Drittens: Es wird Schattenhaushalte geben, obwohl die FDP dies ausgeschlossen hat. Sie werden bei der Förderbank KfW, bei der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben und bei der Bahn eingerichtet.
Teure und ökologisch schädliche Subventionen wie das Dienstwagenprivileg oder die Pendlerpauschale werden nicht beschnitten, obwohl davon vor allem Wohlhabende profitieren. Immerhin: Auch Immobilienkonzerne müssen künftig Grunderwerbssteuer zahlen. Außerdem dürfen Immobilien nicht mehr bar bezahlt werden, um die Geldwäsche zu bekämpfen.
Steuererhöhungen sind nicht geplant, was keine Überraschung ist. Grüne und SPD hatten in ihren Wahlprogramm zwar eine Vermögenssteuer von einem Prozent und höhere Spitzensätze bei den Einkommenssteuern gefordert, aber diese Projekte hatten sowieso keine Chance, weil der Bundesrat zustimmen müsste – und dort hat die Union eine Veto-Macht. Für Grüne und SPD war es also schmerzfrei, der FDP entgegenzukommen, die immer erklärt hatte, dass Steuererhöhungen eine „rote Linie“ seien.
Interessant ist, dass das Wort „Soli“ mit keinem Wort auftaucht. Noch zahlen die reichsten fünf Prozent der Bundesbürger etwa 10 Milliarden Euro pro Jahr. Die FDP wollte den Soli eigentlich abschaffen, aber wahrscheinlich hoffen die Liberalen jetzt darauf, dass das Bundesverfassungsgericht den Soli kippt. Ulrike Herrmann
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Soziales
Neue Begriffe, aber kaum zusätzliches Geld gibt es für die Empfänger:innen von Leistungen der Grundsicherung. „Anstelle der bisherigen Grundsicherung (Hartz IV) werden wir ein Bürgergeld einführen“, heißt es im Koalitionsvertrag. Genaueres über eine Erhöhung der Hartz-IV-Regelsätze beziehungsweise des Bürgergelds wird nicht gesagt.
Es gibt eine Erleichterung: „Wir gewähren in den ersten beiden Jahren die Leistung ohne Anrechnung der Vermögen und anerkennen die Angemessenheit der Wohnung.“ Neuantragsteller:innen auf die Hartz-IV-Leistung bekommen also zwei Jahre lang das Geld samt Regelsatz und Miete, auch wenn die Wohnkosten relativ hoch sind und ein größeres Vermögen vorhanden ist. Diese Erleichterung gilt schon seit Corona.
Das betrifft allerdings nur Neuanträge. Die 17 Prozent der Hartz-IV-Empfänger:innen, die jetzt schon aus dem Regelsatz einen Teil der Miete mitbestreiten müssen, weil ihre Wohnkosten die Grenze der „Angemessenheit“ überschreiten, haben nichts von dieser Regelung.
Eine „Kindergrundsicherung“ soll kommen, die die Leistungen aus steuerlichem Kinderfreibetrag, Kindergeld, Kinderzuschlag und Sozialgeld (im Hartz-IV-Bezug) „bündelt“ und in Teilen einkommensabhängig ist. Über die Höhe der Leistung und den Zeitpunkt der Einführung wird nichts gesagt. Eine „ressortübergreifende Arbeitsgruppe“ soll eingesetzt und der „Einkommensbegriff“ bis Mitte 2023 in allen Gesetzen „harmonisiert“ werden. „Bis zur tatsächlichen Einführung der Kindergrundsicherung werden wir von Armut betroffenen Kindern, die Anspruch auf Leistungen gemäß SGB II, SGB XII oder Kinderzuschlag haben, mit einem Sofortzuschlag absichern“, heißt es. Über die Höhe des „Sofortzuschlages“ wird nichts gesagt.
In der Rentenversicherung will die Koalition das Niveau von 48 Prozent halten und – jedenfalls „in dieser Legislaturperiode“ – den Rentenbeitrag auf 20 Prozent begrenzen. Ein Kapitalstock von 10 Milliarden Euro aus Steuermitteln soll aufgebaut werden. Der „Nachholfaktor“ soll ab 2022 wieder eingeführt werden, was eine Dämpfung des Rentenanstiegs bewirkt. Barbara Dribbusch
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Wohnen
Es soll gebaut werden, schnell, günstiger und unkompliziert: 400.000 neue Wohnungen sollen pro Jahr entstehen, ein Viertel davon öffentlich gefördert. Gegen Bauen hatte ja auch keine der Parteien etwas einzuwenden. Die Frage war nur: Wird auch Wohnraum für kleinere und mittlere Einkommen geschaffen? Und wird klimagerecht gebaut? Da hatte es in den Koalitionsgesprächen etwas Knatsch gegeben. Die Vorstellungen zwischen SPD, Grünen und der FDP gehen bei der Wohnungspolitik bekanntermaßen auseinander.
Eine Errungenschaft ist deshalb die Einführung einer neuen Wohngemeinnützigkeit – die alte wurde 1990 abgeschafft. Damit bekommen Wohnungsbauunternehmen, die gemeinwohlorientiert arbeiten und Wohnraum für kleinere und mittlere Einkommen schaffen, steuerliche Vorteile. Das solle „die dauerhafte Sozialbindung bezahlbaren Wohnraums erzeugen“. Das trägt die Handschrift von Grünen und SPD.
Im Gegenzug haben die beiden Parteien offenbar Abstriche bei der Begrenzung von Mieten hingenommen. Für Mieter:innen hat die Ampelkoalition quasi nichts im Angebot. Die geltenden Mieterschutzregelungen sollen lediglich evaluiert und verlängert werden. Die Mietpreisbremse soll bis zum Jahr 2029 verlängert werden. In angespannten Märkten soll immerhin die Kappungsgrenze auf 11 Prozent in drei Jahren absenkt werden. Bisher dürfen Mieten maximal 20 Prozent in drei Jahren steigen, in angespannten Lagen 15 Prozent. Das ist zwar eine kleine Verbesserung, aber völlig unzureichend gegen die Mietenexplosion an vielen Orten. Gewerbemieter:innen, die ohnehin durch die Pandemie gebeutelt sind, werden nicht einmal erwähnt.
Da hilft die Stärkung des Wohngelds und ein einmalig erhöhter Heizkostenzuschuss nur bedingt. Zumindest soll der zusätzlich anfallende CO2-Preis gerecht zwischen Mieter:innen und Vermieter:innen verteilt werden. Und: Bis 2030 will die Ampel mit einem Nationalen Aktionsplan Obdach- und Wohnungslosigkeit „überwinden“. Jasmin Kalarickal
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Verkehr
Anders als Grüne und FDP wollten, wird die Deutsche Bahn nicht in zwei Unternehmen für Schienennetz und Fahrbetrieb zerschlagen. Aber der Staatskonzern wird umgebaut. „Wir werden die Deutsche Bahn AG als integrierten Konzern inklusive des konzerninternen Arbeitsmarktes im öffentlichen Eigentum erhalten“, heißt es im Koalitionsvertrag. Die Infrastruktureinheiten DB Netz, DB Station und Service sollen zu einer neuen, gemeinwohlorientierten Infrastruktursparte zusammengelegt werden und Teil des Konzerns bleiben.
Die Ampel will mehr Geld in die Schiene als in den Ausbau von Straßen stecken und ein Programm für eine „schnelle Kapazitätserweiterung“ der Bahn auflegen. Der geltende Bundesverkehrswegeplan soll geprüft, dabei sollen Verkehrs-, Umwelt- und Wirtschaftsverbände einbezogen werden. Damit haben die Grünen einen wichtigen Punkt gesetzt. Der aktuelle Bundesverkehrswegeplan sieht den Bau von 850 Autobahnkilometern bis 2030 vor, darunter die A 49 durch den Dannenröder Forst oder die Küstenautobahn A 20, die auf massiven Protest stoßen. „Wir werden auf Basis neuer Kriterien einen neuen Bundesverkehrswege- und -mobilitätsplan 2040 auf den Weg bringen“, heißt es im Koalitionsvertrag. Einen Baustopp für begonnene Projekte gibt es nicht.
Grüne und SPD haben sich mit dem Ziel durchgesetzt, dass bis 2030 mindestens 15 Millionen E-Autos in Deutschland zugelassen sein sollen. Das klingt viel, ist aber aufgrund der Marktentwicklung ohnehin zu erwarten. Die Ladeinfrastruktur soll erheblich ausgebaut werden. Damit Kommunen mehr Spielräume bei der Einrichtung etwa autofreier Zonen haben, will die neue Regierung das Straßenverkehrsgesetz und die Straßenverkehrsordnung ändern. Die Lkw-Maut soll mit Blick auf den C02-Ausstoß reformiert werden.
Die FDP hat bereits in den Sondierungsgesprächen erreicht, dass SPD und Grüne auf ein Tempolimit auf Autobahnen verzichten. Sie wird auch den oder die Verkehrsminister:in stellen. Anja Krüger
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Ernährung und Landwirtschaft
Landwirte sollen dem Ampelvertrag zufolge aus einem „durch Marktteilnehmer“ getragenen System Geld dafür bekommen, die Tierhaltung zu verbessern. Für Fleisch will die Koalition ab 2022 eine „verbindliche Tierhaltungskennzeichnung“ einführen. Diese zeigt den VerbraucherInnen, unter welchen Bedingungen die Tiere lebten sowie transportiert und geschlachtet wurden. Auch eine Herkunftskennzeichnung strebt die Ampel an.
Die Koalition hat die Forderung der Grünen übernommen, den Anteil des Biolandbaus an der Agrarfläche bis 2030 von derzeit 10 auf 30 Prozent zu steigern. Die amtierende Regierung strebte nur 20 Prozent an.
Die Parteien wollen auch, dass Bauern weniger Pestizide einsetzen. Das meistgenutzte Ackergift, der unter Krebsverdacht stehende Unkrautvernichter Glyphosat, soll bis Ende 2023 vom Markt verschwinden. Die neue Koalition verspricht, umweltverträgliche Alternativen zu chemisch-synthetischen Pestiziden fördern, etwa Roboter oder andere Anbaumethoden. Zu einer von Umweltschützern geforderten Pestizidsteuer konnte sich die Koalition nicht durchringen.
Um eine gesunde Ernährung zu unterstützen, dürfe es an unter 14-Jährige gerichtete Werbung für Lebensmittel mit hohem Zucker-, Fett- und Salzgehalt nicht mehr geben, heißt es im Vertrag. Eine Steuer auf zuckerhaltige Erfrischungsgetränke fehlt.
Anders als von Naturschützern verlangt, wird die Agrarpolitik nicht dem Umweltministerium zugeschlagen. Es wird weiter ein eigenständiges Landwirtschaftsressort geben, in dem bisher der Bauernverband großen Einfluss hatte. Allerdings soll es nun von den Grünen geleitet werden, der Partei, die am meisten Umweltschutz in der Branche gefordert hat. Jost Maurin
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Arbeit
Das Kapitel „Arbeit“ trägt eine sozialdemokratische Handschrift, auch wenn es deutlich hinter dem SPD-Wahlprogramm zurückbleibt. Kernpunkt ist die Erhöhung des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns auf 12 Euro die Stunde. Damit erfüllt die Ampel eine Forderung der Linkspartei aus dem Bundestagswahlkampf 2017, die sich Olaf Scholz unmittelbar nach der damaligen Wahl zu eigen gemacht hatte. Nachdem sie in der Groko gleichwohl kein Thema war, erhob die SPD die Mindestlohnerhöhung im diesjährigen Wahlkampf zu einer ihrer zentralen Forderungen, Scholz machte sie sogar zu einer Bedingung für eine Regierungsbeteiligung. Schon während der Sondierungsgespräche hatte die FDP denn auch ihren Widerstand dagegen aufgegeben. Die Grünen waren ohnehin dafür. Von der SPD-Ankündigung, die Spielräume der Mindestlohnkommission für künftige Erhöhungen auszuweiten, findet sich allerdings nichts im Koalitionsvertrag.
Ebenfalls nicht in die Ampelvereinbarung geschafft hat es das SPD-Versprechen, dass Leiharbeiter:innen künftig ab dem ersten Tag den gleichen Lohn erhalten wie Festangestellte. Auch die Befristung von Arbeitsverhältnissen ohne Sachgrund bleibt, obwohl die SPD sie eigentlich abschaffen wollte. Nur beim Bund selbst als Arbeitgeber soll sie „Schritt für Schritt“ reduziert werden. Immerhin: Um Kettenbefristungen zu vermeiden, sollen mit Sachgrund befristete Arbeitsverträge beim selben Arbeitgeber auf sechs Jahre begrenzt werden.
Dünn wird’s gleichfalls beim Thema Mitbestimmung: Dank der FDP auf der Strecke geblieben sind sowohl die SPD-Forderung nach „einer echten Parität in den Aufsichtsräten“ als auch die nach einer Erweiterung des Geltungsbereichs der Mitbestimmung durch Absenkung der Schwellenwerte bei der Unternehmensgröße. Erfreulich: Die Behinderung von Mitbestimmung soll künftig als Offizialdelikt eingestuft werden. Pascal Beucker
Fortschrittsfaktor: 5 von 10 👎
Bildung
Ein „Jahrzehnt der Bildungschancen“ will die Ampel anstoßen. Oha. Die öffentlichen Bildungsausgaben sollen steigen, konkrete Zahlen fehlen aber. Auf einem Bildungsgipfel hatten sich Bund und Länder schon 2008 auf ein 7-Prozent-Ziel allein für den Bildungsbereich verständigt, es aber nie erfüllt. Gleichwohl will die Ampel auf dieses Format zurückgreifen und einen neuen Bildungsgipfel mit Bund, Ländern und Kommunen einberufen.
Der Digitalpakt für Soft- und Hardware, aber auch Wartungspersonal soll als Digitalpakt 2.0 verlängert werden. Eigentlich sind Länder und Kommunen fürs schulische Personal zuständig, aber bis zu 4.000 Schulen in sozialen Brennpunkten will der Bund gezielt mit Sozialarbeiter:innen unterstützen.
Das Bafög, das derzeit nur noch 11 Prozent der Studierenden bekommen, will die Ampel „grundlegend“ reformieren und vor allem den Kreis der Empfänger:innen ausweiten, nämlich über eine „deutliche“ Erhöhung der Freibeträge. Der Einstieg ins elternunabhängige Bafög soll, wie von der FDP gefordert, kommen. Ein Teil der Kindergrundsicherung soll direkt an volljährige Bafög-Berechtigte ausgezahlt werden. Wer eine Weiterbildung macht, soll künftig Anspruch auf Bafög haben.
Für den wissenschaftlichen Nachwuchs an Hochschulen, der fast gänzlich auf befristeten Stellen arbeitet, verspricht die Ampel das Wissenschaftszeitvertragsgesetz, das solche prekären Verhältnisse erlaubt zu reformieren. Für Daueraufgaben sollen Dauerstellen geschaffen werden, Karrierewege verlässlicher werden – in welchem Maß, bleibt ungewiss. Anna Lehmann
Fortschrittsfaktor: 6–7 von 10 👍
Digitalisierung
Digitalisierung – mit diesem Schlagwort zog so ziemlich jede Wahlkämpfer:in durch die Lande. Kein Wunder also, dass Netzthemen am Anfang des Koalitionsvertrages stehen. Schnell soll es gehen beim Ausbau der Infrastruktur, beim Aufrüsten von Verwaltung und Behörden. Alles ganz bürger:innennah und verbraucher:innenfreundlich.
Wer was anordnen darf, soll innerhalb der Bundesregierung neu geordnet und gebündelt werden. Dafür wird Geld in die Hand genommen und ein Digitalbudget geschaffen. Alle Gesetze sollen zudem einem Digitalisierungscheck unterzogen werden.
Den Glasfaserausbau und den neuesten Mobilfunkstandard hatten sich auch Union und SPD vorgenommen. Die Erfolge waren eher überschaubar. Das soll sich jetzt ändern – wieder einmal. Aber Vorhaben wie digitale Teilhabe, Barrierefreiheit, Netzneutralität und Nachhaltigkeit in der Digitalisierung sind neu. So sollen etwa neue Rechenzentren ab 2027 klimaneutral betrieben werden.
Auch der Datenschutz soll gestärkt werden. Zugänge zu Daten soll es vereinfacht geben, aber eben unter gestärkten Bedingungen. Dazu soll etwa die Datenschutzkonferenz im Bundesdatenschutzgesetz mehr Rechte bekommen. Interessant sind die Ideen gegen Desinformation und Hass im Netz. Die Ampel will etwa ein Gesetz gegen digitale Gewalt auf den Weg bringen, um Hürden für Betroffene abzubauen. Dazu gehören auch Möglichkeiten Konten einfacher zu sperren und auch die Einrichtung einer Bundeszentrale für digitale Bildung. Zumindest soll das geprüft werden. Der Digi-Schub trägt klar die Handschrift von FDP und Grünen. Tanja Tricarico
Fortschrittsfaktor 6 von 10 👍
Inklusion
Behindertenpolitische Themen kamen im Wahlkampf, etwa in den öffentlichkeitswirksamen Triellen, kaum vor. Auch hat sich keine der drei Ampelparteien besonders stark für Inklusion gemacht. Deshalb ist es erfreulich, dass im Koalitionsvertrag der Ampel immerhin zwei Seiten zu inklusionspolitischen Belangen stehen. Viele Punkte lesen sich auch erstmal gut und engagiert. Bürokratische Hürden sollen verringert werden, Zugang zu Veranstaltungen von Bundesministerien und nachgeordneten Behörden soll nicht nur durch räumliche Barrierefreiheit, sondern auch durch Übersetzungen in Gebärdensprache und durch Untertitel ermöglicht werden. Informationen zu Gesetzen und Verwaltungshandeln sollen ebenfalls barrierefrei angeboten werden. Dafür soll ein Sprachendienst in einem eigenen Bundeskompetenzzentrum „Leichte Sprache/ Gebärdensprache“ zuständig sein.
Die neue Regierung will außerdem einen Schwerpunkt ihrer Arbeit auf die Arbeitsmarktintegration von Menschen mit Behinderung legen. Dafür sollen Inklusionsunternehmen gestärkt werden, „auch durch formale Privilegierung im Umsatzsteuergesetz.“ Auch soll die Bezahlung von Menschen mit Behinderung, die in Werkstätten arbeiten, geprüft werden. Den Mindestlohn für WfbM, wie von vielen Aktivist*innen gefordert, sieht der Vertrag allerdings nicht vor.
Man kann hoffen, dass man die zukünftige Regierung auf diesen Satz festnageln kann: „Wir verpflichten in dieser Wahlperiode private Anbieter von Gütern und Dienstleistungen, innerhalb einer angemessenen Übergangsfrist zum Abbau von Barrieren oder, sofern dies nicht möglich oder zumutbar ist, zum Ergreifen angemessener Vorkehrungen“. Darüber hinaus sollen die Ausnahmemöglichkeiten des Personenbeförderungsgesetzes (ÖPNV) bis 2026 abgeschafft werden. Aktuell können Verkehrsunternehmen noch mehrere Begründungen anführen, weshalb sie von der generell geltenden Beförderungspflicht, etwa von mobilitätseingeschränkten Personen, befreit sind. Busse und Bahnen müssen bislang noch nicht komplett barrierefrei sein.
Kritik gibt es von einigen Menschen mit Behinderung an dem Satz, dass der Schwerbehindertenausweis durch einen „digitalen Teilhabeausweis“ ersetzt werden soll. Aktivist*innen stören sich daran, dass wieder ein anderes Wort für „Behinderung“ verwendet wird. Denn nicht der Begriff ist diskriminierend und exkludierend, die Barrieren, die Menschen im alltäglichen Leben behindern sind es. Von anderen Menschen war der Begriff „Schwerbehindertenausweis“ aber auch kritisiert worden.
Positiv ist es, dass von den real existierenden Hürden für Menschen mit Behinderung im Koalitionsvertrag einige angesprochen werden. Etwa soll auch das Wunsch- und Wahlrecht sowie die „Etablierung und Nutzung eines Persönlichen Budgets“, erleichtert werden, was mehr finanzielle Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderung bedeutet.
Auch wird im Vertrag Gewalt gegen Menschen mit Behinderung, insbesondere Frauen mit Behinderung, die davon besonders häufig betroffen sind, explizit genannt und „verbindlichere Maßnahmen zur Verhinderung von Gewalt“ versprochen.
Was die vielen angekündigten Gesetze, Maßnahmenpakete und Vorhaben im Einzelnen bewirken werden, bleibt abzuwarten. Auch sind die Ankündigungen zum Teil zu vage formuliert. Einige Punkte decken sich aber mit den Vorschlägen zur Behindertenpolitik für den Koalitionsvertrag, den die Organisation LIGA, ein Zusammenschluss von Selbstvertretungs-Organisationen behinderter Menschen in Deutschland, formuliert hatte. Würden alle angeschnittenen Punkte im Hinblick auf Inklusion konsequent umgesetzt werden, verdienten sie wohl das Wort „Fortschritt.“ Linda Gerner
Fortschrittsfaktor: 6 von 10 👍
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