SPD-Energieexpertin über AKW-Weiterbetrieb: „Atomenergie verdrängt Erneuerbare“
Der Kanzler hat angeordnet, drei AKWs bis April weiterlaufen zu lassen. SPD-Energieexpertin Scheer hatte zuvor davor gewarnt. Das bremse die Energiewende aus.
taz: Frau Scheer, die FDP hat argumentiert, um eine sichere Stromversorgung zu gewährleisten, sei es nötig, alle drei noch am Netz befindlichen Atomkraftwerke weiter zu betreiben. Was spricht dagegen?
Nina Scheer: Hier werden zwei Dinge kombiniert: Einerseits die Sorge um eine sichere Energieversorgung und zweitens die Angst vor galoppierenden Energiepreisen. Doch wer als Antwort auf eine fossile Energiepreiskrise die Nutzung oder gar den Ausbau der Atomenergie zu vorschlägt hat, der streut den Leuten Sand in die Augen.
Warum?
Atomenergie ist teuer und eine Hochrisikotechnologie. Sie kann die Verstromung von Gas nur sehr begrenzt ersetzen und verdrängt erneuerbare Energien im Netz. Mein Eindruck ist, dass wir uns in den letzten Wochen teilweise sehr stark von den Fakten entfernt haben. Ich weiß zumindest nicht, auf welche Fakten sich die Annahme stützt, mehr Atomenergie zu brauchen oder mit Atomenergie ein Mehr an Energiesicherheit gewinnen zu wollen. Ein Blick nach Frankreich zeigt, dass diese Rechnung nicht aufgeht.
51, ist seit 2013 für die SPD im Bundestag. Sie ist Klimaschutz- und energiepolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion und Mitglied des Fraktionsvorstands. Sie arbeitet ehrenamtlich unter anderem im Rat der Agora Energiewende. Scheer ist ausgebildete Violinistin und studierte Jura und Politikwissenschaft.
In Frankreich wurde die Hälfte der Atomkraftwerke wegen Wassermangels runtergefahren.
Ja, und auch weil Risse entdeckt wurden. Der World Nuclear Report, der gerade neu erschienen ist, zeigt zudem, dass weltweit kein Atomkraftwerk krisenresistent gebaut ist.
Aber jetzt werden in Deutschland Kohlekraftwerke wieder hochgefahren und Wirtschaftsminister Robert Habeck denkt sogar über Ölkraftwerksschiffe nach, richtige CO2-Schleudern. Fürs Klima sind das keine guten Alternativen, oder?
Kohlekraftwerke sind für Reserveleistungen technisch besser einsetzbar als Atomkraftwerke. Und auch die Annahme, dass Gaskraftwerke jetzt entsprechend durch Atomenergie ersetzt werden könnten, ist falsch.
Weshalb?
Dies ginge nur bei rein Strom liefernden Kraftwerken, hingegen nicht bei Wärme gewinnenden oder Kraft-Wärme-Kopplungen.
Das Verhältnis von eingespeistem und nachgefragtem Strom muss immer gleich hoch sein, damit die Frequenz im Netz stabil bei 50 Hertz bleibt, richtig. Die Atomkraft blockiert also einen Teil der Leitungen?
Atomkraftwerke liefern zwar kontinuierlich Strom. Das kann aber auch zu einem Teil des Problems werden, wenn dies Netzkapazitäten bindet. Bereits heute werden erneuerbare Energien zu einem erheblichen Teil abgeregelt, weil die Netze nicht mehr so viel Energie aufnehmen können. Da erneuerbare Energien fluktuierende Energien sind, ist dies bei Strom-, aber etwa auch Sonnenspitzen der Fall. Selbst Photovoltaikanlagen müssen nun teilweise schon zwangsabgeschaltet werden. Denn das oberste Gebot ist die Netzsicherheit, sie gibt sogar der Atomenergie in dem Moment, wo sie gefährdet ist, faktisch Vorrang vor erneuerbaren Energien, obwohl der grundsätzliche Vorrang eigentlich andersherum ist. Je mehr Atomkraftwerke wir in Deutschland also am Netz haben, desto weniger können wir den Anteil der Erneuerbaren steigern, ohne zugleich in Kauf zu nehmen, dass wir immer mehr von den erneuerbaren Energien abregeln müssen.
Dann muss eben der Ausbau der Netze parallel erfolgen.
Die Lösung lautet, dass wir auch den systemischen Umstieg auf erneuerbare Energien brauchen. Denn so viel Netzausbau können wir gar nicht leisten, dass wir beides zusätzlich auffangen könnten. Wer heute neue Brennelemente für AKWs fordert, der sagt zugleich, dass wir den Ausbau und die Nutzung der erneuerbaren Energien, um die Mengen zu produzieren, die wir bräuchten, nicht wollen. Die Strommengen, die uns die Atomenergie heute liefert, können wir auch durch die verstärkte Nutzung und den Ausbau erneuerbarer Energien gewinnen – in Kombination mit Speichern, Sektorkopplung und Netzmanagement.
Aber der Ausbau der Erneuerbaren kostet ja auch Zeit, kurzfristig steht dieser Strom nicht zur Verfügung.
Es gibt auch kurzfristige Maßnahmen. Erst Ende September haben wir mit der dritten Novelle des Energiesicherungsgesetzes verstärkte Auslastungsmöglichkeiten von Bioenergie, Wind- und Solar beschlossen. So müssen etwa Windenergieanlagen nun für die nächsten Monate in der Nacht weniger gedrosselt werden, als bisher aus Lärmschutzgründen vorgeschrieben. Wobei der Grenzwert für Straßenverkehr nach wie vor höher liegt. Da gäbe es auch noch weiteres Potenzial. Und auch für Bioenergie haben wir bis Ende 2024 Begrenzungen aufgehoben. So kann nach Branchenangaben ungefähr 7,7 TWh Strom beziehungsweise circa 19 TWh mehr Gas gewonnen werden.
Aber untergräbt das nicht die Akzeptanz von Windkraft?
Meine Beobachtung ist, dass diese Frage dort, wo erneuerbare Energien am stärksten genutzt werden, am wenigsten gestellt wird. Die Leute schütteln eher den Kopf, wenn Windkraftanlagen gebaut werden, aber dann stillstehen. Wir können noch mehr tun, damit die Menschen vor Ort den Mehrwert der Energiewende unmittelbar spüren – etwa, indem wir die Kommunen noch stärker beteiligen und die Hemmnisse weiter beseitigen.
Erreichen wir eigentlich noch die Klimaziele? Bis 2030 soll 80 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energien stammen, heißt es im Koalitionsvertrag.
Ja, das ist erreichbar. Es muss nur alles noch einfacher und selbstverständlicher werden. Die Schnelligkeit, mit der wir jetzt Flüssiggas-Terminals zur Diversifizierung der Gasimporte bauen, muss auch beim Ausbau der Erneuerbaren gelingen. Dafür brauchen wir übrigens auch die Sicherung von Produktionsstandorten in Deutschland und Europa. Es kann nicht sein, dass wir hier eine so hohe Importabhängigkeit haben – für Solarmodule aktuell über 90 Prozent von China.
Woran liegt das?
Es ist leichter, im Garten einen Gartenzwerg aufzustellen als eine Photovoltaikanlage. Hier haben wir schon Erleichterungen geschaffen; weitere müssen aber folgen, auch auf Länderseite. Letztlich sind sowohl die Sicherung des Ausbaus erneuerbarer Energien als auch ausreichende Netze eine Frage von Daseinsvorsorge, für die im Zweifel auch der Staat eine Garantenstellung übernimmt muss.
Also staatliche Netzbetreiber und Versorger wie in Frankreich?
Ich fände es sinnvoll, wenn für die Daseinsvorsorge wichtige Infrastruktur in staatlicher Hand ist und der Eintritt des Staates sowohl beim Netzausbau als auch dem Ausbau erneuerbarer Energien eine reale Option ist, wenn die Energiesicherheit oder das Erreichen unserer Ziele das gebieten.
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