Zögerliche Waffenlieferung: Die Angst ist größer als der Wille

Der Bundeskanzler zögert nach einem Jahr Krieg weiter bei der Waffenlieferung an die Ukraine. Dabei kann Europa nur überleben, wenn die Ukraine siegt.

Bundeskanzler Scholz duckt sich vor einem Panzer

Wegducken wird immer schwieriger: Kanzler Scholz vor einem Leopard-Panzer im Oktober 2022 Foto: Sven Eckelkamp/imago

Seit einiger Zeit verfolgt mich der Satz „Das ist nicht unser Krieg.“ Er ist auf eine Häuserwand auf meinem Arbeitsweg gesprayt, und wenn ich ihn lese, will ich ihn am liebsten schnell wieder vergessen, weil ich ihn so ignorant finde, so selbstbezogen; aber das Vergessen fällt eben schwer, wenn man sich sogleich an Bilder wie die aus Dnipro erinnert.

Haben Sie die gelbe Küche gesehen oder das, was von ihr übrig geblieben ist? Diese ganz gewöhnliche Küche einer gewöhnlichen Wohnung, auf dem Küchentisch sah man noch die Obstschale stehen, ist zu einem weiteren Symbol russischen Terrors geworden. Ein Video in den sozialen Medien kurz nach der Zerstörung zeigte einen Geburtstag in ebendieser gelben Küche. Den Moment eines Familienlebens, den es so nicht mehr geben wird. Kurz nach dem Raketenangriff vom vergangenen Wochenende ist die Suche nach Überlebenden eingestellt worden. Die Bilanz: 44 Tote, über 20 Vermisste.

Gerade diese Woche ging es wieder heiß her in Sachen Panzerlieferungen, und dieser Häuserwandsatz, den ich täglich sehe, fasst die Haltung unseres Kanzlers und die vieler Deutscher gut zusammen. Welche Waffen, welche Panzer schicken wir in die Ukraine, solange das nicht unser Krieg ist? Welche Konsequenz hat es, wenn wir diesen Krieg zu unserem erklären?

Worin sich ja alle einig sind, ist, dass man Frieden wolle, klar. Wenn es aber auch unser Frieden ist, der da auf dem Spiel steht, müssten wir nicht für den Krieg Verantwortung übernehmen, die dem Tempo von Raketeneinschlägen angemessen ist?

Keine plausible Erklärung für fehlende Lieferung

„Die Bürgerinnen und Bürger wollen kluge und abgewogene Entscheidungen bei einer so wichtigen Frage wie Krieg und Frieden“, zitierte die FAZ den Kanzler vor einigen Tagen. Und dass man sich nicht treiben lasse, soll er noch gesagt haben. Moment mal! Da redet also einer von Sich-nicht-treiben-lassen-Wollen, und das nach bald einem Jahr Krieg? Bis heute fehlt es an einer plausiblen Erklärung dafür, weshalb sich der Kanzler mit der Lieferung von Kampfpanzern zurückhält.

Die Verlautbarungen aus dem Kanzleramt ähneln den Warnungen mancher antiimperialistischer Linker und Friedensbewegter: Putin könnte sich provoziert fühlen. Eine neue Eskalationsstufe sei mit Panzerlieferungen erreicht. Oder, zugespitzt: Ein Dritter Weltkrieg drohe dann.

Dabei sollte nach fast 12 Monaten durchgesickert sein, dass nicht das Liefern von Kampfpanzern und schweren Waffen eine Eskalation ist, sondern Raketen, die Russland auf unschuldige Menschen abfeuert. Die Angst, Putin zu provozieren, ist größer als der Wille, das Überleben der Ukraine zu schützen. Und sollte Russland doch unerwartet einen Atomkrieg auslösen, will Scholz nicht der Buhmann sein. Als ob das dann noch wichtig wäre. So versteckt er sich lieber hinter den USA und signalisiert nun zwar, Kampfpanzer liefern zu wollen, aber nur, wenn die USA es auch tun. Peinliche Selbstbezogenheit.

Muss die Ukraine siegen oder nur nicht verlieren?

Ich bin davon überzeugt, dass Europa nur überleben kann, wenn die Ukraine siegt. Unser Kanzler ist da ähnlich zurückhaltend wie beim Thema Panzer. Seit Monaten predigt er: Russland dürfe nicht siegen, die Ukraine müsse bestehen. Aha! Auszusprechen, dass die Ukrai­ne siegen muss, fällt ihm schwer.

Wohl auch deshalb, weil es an Perspektiven fehlt für eine Zeit nach den vermutlich anstehenden Leopard-Lieferungen. Was müsste folgen? Kampfflugzeuge, Hubschrauber? Schließlich kann nur eine langfristig militärisch hochgerüstete Ukrai­ne Russland zur Niederlage zwingen. Was zur nächsten Frage nach der Zukunft der Ukrai­ne nach einem gewonnenen Krieg führt. Welche Ukraine ist Scholz bereit, künftig zu unterstützen?

Bald jährt sich der Beginn des erweiterten russischen Kriegs. Unser Kanzler sollte damit anfangen, sich von Überzeugungen leiten zu lassen und nicht von Ängsten.

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Redakteurin für Gesellschaft im Ressort taz zwei. Schreibt über postsowjetische Migration, jüdisches Leben und Antisemitismus sowie Osteuropa. Axel-Springer-Preis für jungen Journalismus 2021, Kategorie Silber. Freie Podcasterin und Moderatorin.

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