Arbeitskräftemangel in Deutschland: Akademikerkinder in die Produktion!
Überall fehlt es hierzulande an Personal. Dabei sollten AkademikerInnen anfangen, Ausbildungen zu machen – denn soziale Mobilität nach unten ist wichtig.
I m Film „American Beauty“ bewirbt sich Protagonist Lester Burnham, gespielt von Kevin Spacey, um eine Stelle in einem Burger-Lokal. „Ich suche den möglichst geringsten Grad an Verantwortung“, ruft Anzugträger Burnham, ein desillusionierter Angehöriger der amerikanischen Mittelschicht mit großem Einfamilienhaus, Frau und Kind, der verblüfften Angestellten durch das schmale Fenster am Drive-thru zu.
Nach einem Gespräch mit dem anfänglich skeptischen Filialleiter („Ihre Fast-Food-Erfahrung liegt 20 Jahre zurück“) bekommt er den Job. „Sie werden doch sicherlich irgendeine Form von Fortbildungsprogramm haben. Es ist unfair anzunehmen, dass ich nicht lernen will!“ Dagegen kann der Filialleiter nichts einwenden.
Lester Burnhams Entscheidung (o. k., er stirbt am Ende des Films, aber das ist ein anderes Thema) weist den Weg aus dem derzeitigen Arbeitskräftemangel in Deutschland. Der ist nicht nur darin begründet, dass die Gesellschaft altert und es zu wenig Nachwuchs für den Arbeitsmarkt gibt. Ein weiterer wichtiger Grund ist, dass immer mehr junge Leute Abitur machen, danach studieren wollen und so später eher nicht eine Ausbildung zum Industriekaufmann oder zur Zerspanungsmechanikerin beginnen wollen. Zwar sind Arbeiterkinder immer noch deutlich unterrepräsentiert, doch auch sie sind Teil des Sogs an die Unis.
Wenn nun aber alle, selbst FDP-PolitikerInnen, Aufstieg durch Bildung gut finden, muss trotzdem irgendjemand die notwendigen Blue-Collar-Jobs machen. Man kann nicht soziale Mobilität nach oben fördern und gleichzeitig erwarten, dass die sogenannten unteren Schichten die für sie sonst üblichen Berufe übernehmen.
Überall fehlt es an Personal
Die Lösung ist: Wir brauchen mehr Abstieg trotz Bildung. Akademikerkinder und AkademikerInnen sollten umsatteln und Hilfsjobs annehmen oder eine Berufsausbildung anfangen. Es wird zwar Widerstände im eigenen Milieu geben, aber dennoch lohnt es sich für sie.
Es fehlen derzeit nicht nur Fachkräfte, also Polizistinnen, Krankenpfleger, Heizungsinstallateurinnen oder Lkw-Fahrer. Es zeigt sich auch ein großer Mangel bei den Anlernjobs: Es fehlt Personal in der Gastronomie, es fehlen Lagerarbeiterinnen, es fehlen Securitys, es fehlen Loader – das sind die meist unsichtbaren Flughafenmitarbeiter, die die 20 oder 30 Kilo schweren Koffer in den Flugzeugbauch wuchten und später wieder aus ihm herausholen.
Medien beschreiben die Lage in einem Ton, der zwischen Überraschung und Kränkung changiert. Der Spiegel titelt: „Wo sind die nur alle hin?“ Die Zeit schreibt zielgruppensicher: „Mitarbeiter vermisst! Urlaub, Konzert, Restaurant – das alles wäre jetzt so schön, würde nicht überall das Personal fehlen“ – das besorgte Nicken in den Vintage-Lesesesseln der Professorenhaushalte der Republik kann man förmlich sehen. Der Subtext: Das ungezogene niedere Personal will nicht mehr die Jobs, die ihnen die Klassengesellschaft, in der man sich selbst gemütlich eingerichtet hat, zuweist.
Wenn plötzlich das Personal verschwunden ist
Die meisten, um die Spiegel-Frage zu beantworten, haben sich Jobs gesucht, die nicht unbedingt besser bezahlt, aber krisensicherer sind und bessere Arbeitsbedingungen bieten. Sie arbeiten im Supermarkt, bei der Post oder als Busfahrer bei einer kommunalen Verkehrsgesellschaft. In einer Zeit, in der man die Wahl hat, sind diese Jobs attraktiver, als sich von cholerischen Küchenchefs anbrüllen zu lassen oder mit ständig wechselnden Schichtplänen bei 40 Grad auf dem Vorfeld eines Flughafens seinen Rücken zu ruinieren – oder als Lkw-Fahrer wegen langer Abwesenheitszeiten seine Ehe.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Die Lage ähnelt psychologisch gesehen der in den Südstaaten der USA vor 100 Jahren, als die Nachfahren der Sklaven wegen fortdauernder Diskriminierung in Massen in den liberaleren Norden zogen, der bessere Lebensbedingungen bot. Damals saßen die ehemaligen Sklavenhalterfamilien und weißen Privilegierten plötzlich ohne das gewohnte Dienstpersonal da, heute ist man in Berlin-Dahlem ratlos, weil der Lieblingsitaliener einen weiteren Ruhetag eingeschoben hat – Personalmangel! – und die Putzfrau gegangen ist, weil sie nicht mehr „schwarz“ arbeiten möchte.
Hartnäckig hält sich derweil das altbackene Nachkriegsideal, dass es beruflich immer nur nach oben gehen soll – mit Blick auf die individuelle Lebensgeschichte, aber auch bezogen auf Familienbiografien. Doch wenn man den Begriff soziale Mobilität ernst nimmt, ist auch soziale Mobilität nach unten nötig.
Nicht alle haben Lust auf das Studium
Natürlich sollte die analytisch begabte und belesene Akademikertochter nicht zwingend als Gabelstaplerfahrerin anfangen, das wäre eine Vergeudung von Talenten. Aber es ist stark anzunehmen, dass unter den 75 Prozent Akademikerkindern, die jedes Jahr ein Studium beginnen, einige sind, die das nicht tun, weil sie wirklich Lust darauf haben, sondern weil die Familie es so erwartet und weil „man das eben so macht“ im eigenen Milieu.
Auch dynastisches Denken ist noch immer kraftvoll: „Dein Großvater war auch schon Jurist“ ist ein Satz, der schon an manchen gediegenen Esszimmertischen gesagt worden sein dürfte; Berufsberatung in der eigenen Familie kann manchmal seltsame Formen annehmen.
Jeder kennt Geschichten über die merkwürdigen Lebensläufe in gehobenen Kreisen. Da ist der Sohn, diskret finanziert von den Eltern, der nach dem lustlos absolvierten Studium erst mal drei Jahre lang auf Weltreise geht und den 372. Fernreise-Instagram-Kanal eröffnet. Oder die Tochter, die ein nicht näher definiertes „Aufbaustudium“ anhängt. Den Schein zu wahren oder sich (scheinbar) selbst zu verwirklichen gilt trügerischerweise immer noch als bessere Option im Vergleich zu einer Entscheidung für einen womöglich passenderen, handfesten Job.
Dabei entgehen den Bürgerkindern zentrale Emanzipationserfahrungen, die prägender sind, als Strandbilder aus Indien zu posten oder mit 35 noch im Hörsaal zu hocken. Die soziale Aufsteigerin, Strafrichterin am Landgericht, zieht Freitagnachmittag ihre Robe aus und trinkt am Wochenende im Kleingarten ihrer Cousinen Bier aus der Dose und tanzt zu Helene Fischer – wie man das in ihrer Herkunftsfamilie eben so macht. Sie kennt zwei Welten.
Und wenn es in einer der Welten zu absurd wird, kann sie innerlich vor sich hin lächeln und weiß, dass es noch ein anderes Leben gibt. Sie kann Distanz halten. Das gilt für ihre Arbeit am Landgericht genauso wie für die Freizeitgestaltungen ihres Herkunftsmilieus.
Bürgerkinder bleiben ihrer Klasse treu
Diese Erfahrung ist eher selten in bürgerlichen Milieus. Man mag an einen anderen Ort ziehen, aber man bleibt seiner Klasse treu. Und auch wenn man nicht eindeutig begabt für eine akademische Karriere ist und diese auch nicht will, beugt man sich den Berufserwartungen der Eltern, auch um familiäre Subventionen oder die Schenkung einer Eigentumswohnung nicht zu gefährden. Dinge, die insgeheim einkalkuliert sind, aber eben auch abhängig machen.
Nicht wenige dürften sich fremdbestimmt fühlen wie Lester Burnham aus „American Beauty“. Individueller Aufstieg ist ein Akt der Emanzipation. Umgekehrt kann der Ausbruch aus dem Milieu nach unten ebenso selbstbefreiend sein: Ich gehe meinen eigenen Weg.
Hilfsjobs sind, wenn der 12-Euro-Mindestlohn bald kommt, finanziell gar nicht mal so unattraktiv. Während man hinten im Backshop Brötchen schmiert, kann man ungestört über das Leben nachdenken. In geistig fordernden Jobs geht das nicht. Und nach Feierabend hat man wirklich frei, weil man nicht durch E-Mails des Chefs belästigt wird.
Es gibt viel Spielraum nach oben
In Jobs mit Berufsausbildung und Tariflohn ist die Bezahlung sehr ordentlich. Industriemechaniker fangen in Westdeutschland im ersten Berufsjahr mit 2.900 Euro brutto ohne Zulagen an, da sind sie in der Regel Anfang 20. Egal ob Speditionskauffrau oder Lagerist – die 3.000-Euro-Schwelle ist schnell erreicht, bei unbefristeten Verträgen. Und weil Arbeitskräfte gesucht werden, ist zumindest bei verhandelbaren Löhnen derzeit viel Spielraum nach oben.
Nie war es attraktiver, diese Berufe zu ergreifen, anstatt die Erwartungen anderer zu bedienen oder sich in angeblich prestigeträchtigen, eigentlich prekären Jobs an der Uni oder im Kunstbetrieb zu zermürben.
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