Koalitionsvertrag von Union und SPD: Mehr Rückschritt wagen
Der neue Koalitionsvertrag ist da, auf 144 Seiten versprechen Union und SPD „Verantwortung für Deutschland“ zu übernehmen. Was planen sie genau?
Inhaltsverzeichnis
- Klima: Kohle-Aus bleibt
- Familien: Zentrales fehlt
- Digitalisierung: Mehr Pflicht, weniger Schutz
- Wirtschaft: Geschenke für Unternehmen
- Innere Sicherheit: Mehr Härte
- Soziales & Arbeit: Sanktionsdruck steigt, Mindestlohnerhöhung ungewiss
- Migration: Abweisungen, Abschiebungen, Aussetzungen
- Außen und Verteidigung: Erst mal keine Wehrpflicht
- Landwirtschaft: Profit first
- Verkehr: Immerhin kein Totalausfall
- Demokratieförderung: Zivilgesellschaft weiter gefährdet
W ie so oft in solchen Situationen hatte es die CSU besonders eilig: Um kurz vor 12 Uhr kam ihre Presseeinladung per Mail, die der beiden anderen Parteien folgten umgehend. Da war klar: 45 Tage nach der Bundestagswahl haben sich Union und SPD auf einen Koalitionsvertrag geeinigt. Der ist mit 144 Seiten deutlich dicker als von der CDU anvisiert und trägt den Titel: „Verantwortung für Deutschland“. Bei der Ampel war noch von Fortschritt die Rede gewesen.
Aber als um kurz nach drei Uhr am Nachmittag dann die vier Parteichef*innen von Union und SPD im Paul-Löbe-Haus vor der Presse stehen, ist schnell klar: Hier geht es angesichts multipler Krisen, Verunsicherung im Land und hoher Zustimmungswerte für die AfD vor allem darum, zu vermitteln, dass die Probleme jetzt angepackt werden – und darum, Zuversicht zu vermitteln.
CDU-Chef Friedrich Merz, der bald Kanzler werden will, spricht von einem „Aufbruchssignal“, der vom Koalitionsvertrag ausgehe und der zeige: „Die politische Mitte dieses Landes ist in der Lage, die Probleme zu lösen.“ Dann ist er schnell bei der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft, die nun gestärkt, und der Begrenzung der irregulären Migration, die nun begrenzt werden solle. Merz stand zuletzt parteiintern stark unter Druck, weil die CDU in den Koalitionsverhandlungen angeblich nicht „geliefert“ habe.
Auch SPD-Co-Chef Lars Klingbeil betont die großen Herausforderungen in diesen „historischen Zeiten“. Ein gutes Zeichen sei, dass die künftige Koalition trotz unterschiedlicher Standpunkte in der Lage gewesen sei, Brücken zu bauen. Dann müsse die Gesellschaft doch dazu auch in der Lage sein. Nun müsse man sich an die Modernisierung des Landes machen: „Die Bagger müssen arbeiten, die Faxgeräte entsorgt werden“, so Klingbeil. Das Leben der Menschen müsse einfacher und gerechter werden. Der SPD-Chef betont in Abgrenzung zu Merz aber auch, dass Deutschland ein Einwanderungsland und das Grundrecht auf Asyl „unantastbar“ bleibe.
Am 9. April 2025 hat Schwarz-Rot die Koalitionsverhandlungen abgeschlossen. Den Koalitionsvertrag zwischen SPD, CDU und CSU für die 21. Legislaturperiode finden Sie
Söders Nostalgie
CSU-Chef Markus Söder lobt den Koalitionsvertrag als „Antwort auf die Probleme dieser Zeit“. Er betont, dass Bürgergeld und Heizungsgesetz nun grundsätzlich geändert werden und es bei der Migrationspolitik einen Richtungswechsel „zurück vor 2015“ gebe. Und dann frotzelt er noch ein bisschen darüber, dass sich Merz und Klingbeil inzwischen duzen. Was, wie Klingbeils Co-Chefin Saskia Esken im Anschluss sagt, bei Söder und ihr schon seit Jahren der Fall ist.
In den Verhandlungen waren zuletzt neben dem Thema Migration vor allem die Finanzen strittig gewesen. Dabei hatten die drei Parteien mit den Grünen im Bundestag bereits eine Änderung des Grundgesetzes durchgesetzt, die unbegrenzte Schulden für Verteidigung und auch ein Sondervermögen von insgesamt 500 Milliarden Euro für Investitionen in Infrastruktur und Klimaschutz möglich macht. Schwarz-Rot hat also das Geld zur Verfügung, an dessen Mangel die Ampel noch zerbrochen war.
Ministerienvergabe ist geklärt
Klar ist nun auch, welche Partei welche Ministerien bekommt: Neben dem Kanzler und dem Kanzleramtschef gehen sechs Fachministerien an die CDU: das Auswärtige Amt, Wirtschaft und Energie, Gesundheit, Verkehr, das neu zu gründende Ministerium für Digitalisierung und Staatsmodernisierung sowie das Ressort Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Die CSU bekommt das Innen-, das Landwirtschafts- und das Forschungsministerium. Die SPD erhält sieben Ressorts und damit eins mehr als zuletzt unter Schwarz-Rot: Finanzen, Verteidigung und Justiz, Arbeit und Soziales, Bau, das Umweltressort mit Klima und Verbraucherschutz sowie das Entwicklungshilfeministerium, das jetzt doch erhalten bleibt.
Die entsprechenden Personalien wurden am Mittwoch noch nicht bekannt gegeben. Seit Wochen aber werden CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt als Innenminister und SPD-Chef Klingbeil als neuer Finanzminister und möglicher Vize-Kanzler gehandelt, der amtierende SPD-Verteidigungsminister Boris Pistorius könnte womöglich seinen Posten behalten. Über die konkrete Besetzung der Posten aber entscheidet jetzt jede der drei Parteien unabhängig voneinander.
Der Koalitionsvertrag muss von den drei Parteien noch abgesegnet werden. Bei der SPD stimmen die Mitglieder darüber ab, bei der CDU entscheidet ein kleiner Parteitag, bei der CSU reicht ein Beschluss des Parteivorstands. Geht das alles klar, könnte Merz Anfang Mai, vermutlich am 6. oder 7., zum Kanzler gewählt werden.
Klima: Kohle-Aus bleibt
Am deutschen Klimaziel, bis zum Jahr 2045 klimaneutral zu sein, hält die neue schwarz-rote Koalition fest. Auch am Kohleausstieg 2038 rütteln Union und SPD nicht. Sie setzen weiter auf erneuerbare Energien, wollen aber auch neue Gaskraftwerke mit einer Leistung von 20 Gigawatt „anreizen“. Expert*innen hatten davor gewarnt, sich für flexible Stromerzeugung auf Gaskraftwerke zu versteifen, weil Stromspeicher diese Aufgabe mit weniger CO2-Ausstoß übernehmen könnten.
Um das deutsche Klimaziel zu erreichen, setzt Schwarz-Rot auf riskante Ideen: In begrenztem Umfang sollen „hochqualifizierte und glaubwürdige CO2-Minderungen in außereuropäischen Partnerländern“ angerechnet werden, obwohl bei solchen Projekten bisher oft betrogen wurde.
Außerdem seien CO2-Speichertechnologien „unerlässlich“ und sollen auch bei Gaskraftwerken Einsatz finden. CO2-Speicherung ist bislang unerschwinglich, ihr Einsatz bei der Stromerzeugung gilt als Wunschdenken. Sie bleiben in großem Maßstab unerprobt und könnten die Umwelt an Land und im Meer gefährden.
Von einem Klimageld ist nicht die Rede, obwohl es alle Parteien versprochen hatten. Stattdessen will Schwarz-Rot die Einnahmen aus der CO2-Bepreisung durch niedrigere Strompreise und Klimainvestitionen an Bürger*innen und Unternehmen zurückgeben.
Immerhin wollen Union und SPD die ambitionierte Klimaanpassungsstrategie der Ampelregierung umsetzen. Länder und Kommunen sollen finanziell unterstützt, eine entsprechende Grundgesetzänderung soll geprüft werden.
Verantwortlich für Klimaschutz wird das Umweltministerium, das von der SPD geleitet werden soll. Unter der Ampelregierung war noch das mächtigere Wirtschaftsministerium zuständig. Jonas Waack
Familien: Zentrales fehlt
Einige solide Ziele beinhaltet der Koalitionsvertrag in Bezug auf Frauen und Familie immerhin: So wird der Fonds sexueller Missbrauch fortgeführt, häusliche Gewalt soll in sorgerechtlichen Verfahren berücksichtigt werden, ein digitales Gewaltschutzgesetz soll kommen. Ein paar Maßnahmen für Alleinerziehende wie Sanktionen bei säumigem Unterhalt sind geplant. Und das Selbstbestimmungsgesetz wird nicht gleich wieder abgeschafft, sondern evaluiert – uff.
Vieles jedoch bleibt vage: Die Gleichstellungsstrategie soll weiterentwickelt werden – wie, ist unklar. Die Möglichkeit einer „kostenlosen Abgabe von Verhütungsmitteln für Frauen“ bis zum 24. Lebensjahr soll geprüft werden – aber eben nur geprüft, und Männer scheinen nicht verhüten zu müssen. Wie Aufklärungs-, Präventions- und Täterarbeit im Gewaltschutz verstärkt werden sollen, bleibt offen, ebenso wie Benachteiligung von Frauen im Alltag beseitigt werden soll. Und gleicher Lohn für gleiche Arbeit bis 2030 ist zwar ambitioniert, aber leider realitätsfern.
Bezeichnend ist, dass für queeres Leben vier dürre Zeilen reserviert sind. Teils ist der Vertrag im generischen Maskulinum gegendert, was Frauen und queere Personen unsichtbar macht. Das Verständnis von Geschlechter- und Familienpolitik, das diesem Vertrag zugrunde liegt, ist ein eher bleiernes – was dazu passt, dass die Union das Ministerium bekommt, aber angesichts des Rechtsrucks Sorge macht.
Und Zentrales fehlt: Hebammen und Geburtshilfe werden nur am Rande erwähnt, dringend nötige Änderungen im Abstammungsrecht wie die Stiefkindadoption für lesbische Mütter gar nicht, ebenso wenig die Familienstartzeit. Kinderrechte schaffen es wieder nicht ins Grundgesetz, ein Armutszeugnis. Und wie zu erwarten bleibt der Paragraf 218 vorerst in Stein gemeißelt. Patricia Hecht
Digitalisierung: Mehr Pflicht, weniger Schutz
Ob in der Verwaltung, im Gesundheitsbereich oder Unternehmen – die schwarz-rote Koalition will die Nutzung von persönlichen Daten der Bürger:innen über den Schutz stellen und Digitalisierung mitunter verpflichtend machen.
Für die Umsetzung der Pläne soll ein Digitalministerium unter CDU-Führung sorgen, das den Aufgabenbereich „Staatsmodernisierung“ dazu bekommt. Für Bürger:innen heißt das: Mehr soll digital funktionieren – auch gegen den Willen von Einzelnen. „Jeder Bürger und jede Bürgerin erhält verpflichtend ein Bürgerkonto und eine digitale Identität“, so die Vereinbarung. Auch Künstliche Intelligenz soll Einzug halten in die Verwaltung. Ein Hinweis darauf, wie problematisch KI gerade bei der Nutzung durch staatliche Stellen sein kann, etwa was Intransparenz und Diskriminierung angeht, fehlt.
Auch in der Wirtschaft soll Datennutzung über den Schutz gestellt werden. Man wolle „Datenschätze“ heben. Damit es dabei möglichst wenig Widerstand gibt, sollen die Landesdatenschutzbehörden einen Teil ihrer Zuständigkeiten verlieren. Sie sollen an die Bundesdatenschutzbeauftragte gehen. Das dürfte unterm Strich weniger Ressourcen bedeuten, wenn es darum geht, Unternehmen für Datenschutzverstöße haftbar zu machen.
Passend dazu soll die Bundesbehörde einen neuen Namen und damit einen neuen Fokus bekommen: Bundesbeauftragte für Datennutzung, Datenschutz und Informationsfreiheit. Mehr Datennutzung ist auch im Gesundheitsbereich geplant. Freuen dürften sich darüber Wissenschaft – und Pharmaindustrie. Svenja Bergt
Wirtschaft: Geschenke für Unternehmen
Die künftige Bundesregierung will Unternehmen massiv entlasten. CDU, CSU und SPD haben vor, die Körperschaftssteuer ab 2028 in fünf Schritten um jeweils einen Prozentpunkt zu senken. Bislang liegt der Steuersatz bei 15 Prozent. Für Betriebe und Beschäftigte mit kleineren und mittleren Bezügen soll die Einkommensteuer gedämpft werden.
Die Umsatzsteuer für Speisen in der Gastronomie soll ab 2026 auf 7 Prozent fallen. Dokumentationspflichten für Unternehmen werden gestrichen.
„Das Lieferkettengesetz wird Geschichte“, kündigte CSU-Chef Markus Söder bei der Vorstellung des Koalitionsvertrags am Mittwoch sichtlich zufrieden an. Mit einem Strompreispaket will die neue Koalition die Industrie mit niedrigen Strompreisen beglücken. Die Gasspeicherumlage soll abgeschafft werden, die Netzentgelte und die Stromsteuer sollen sinken.
Um die schwächelnde deutsche Wirtschaft zu stärken, wollen Union und SPD einen Investitionsfonds auflegen. Dafür sollen mindestens 10 Milliarden Euro durch Eigenmittel des Bundes zur Verfügung gestellt werden. Durch Hebung privater Mittel soll das Volumen des Fonds auf 100 Milliarden Euro steigen. Die angeschlagene Autoindustrie soll durch Kaufanreize für E-Autos unterstützt werden. Dazu will die neue Regierung unter anderem ein Programm für Haushalte mit kleinen und mittleren Einkommen auflegen.
In den Aufgabenbereich des Wirtschaftsministerium wird – wie bisher – auch Energie fallen. Es wird von der CDU besetzt werden. Anja Krüger
Innere Sicherheit: Mehr Härte
Sozialdemokratin Nancy Faeser wird das Innenministerium verlieren. Es geht an die CSU, wie einst schon unter Horst Seehofer. Und Markus Söder kündigte bereits an, man werde auf die bayrische „Sicherheitsphilosophie“ setzen, auf „Law and Order“. Im Koalitionsvertrag wird nichts weniger als eine „Zeitenwende in der inneren Sicherheit“ angekündigt. Gemeint ist vor allem die Einführung von Überwachungsmaßnahmen. Sicherheit und Datenschutz würden „neu austariert“ – zulasten des Letzteren.
So will die neue Koalition die seit Jahren diskutierte und wiederholt von Gerichten kassierte Vorratsdatenspeicherung reaktivieren und eine 3-monatige Speicherfrist für IP-Adressen einführen. Das ist üppig: Das BKA hatte zuletzt erklärt, auch zwei bis drei Wochen würden schon helfen. Dazu soll die Bundespolizei die sogenannte Quellen-TKÜ erhalten, um sich in verschlüsselte Onlinekommunikation einzuklinken. Die Sicherheitsbehörden sollen Daten automatisiert analysieren, leichter austauschen und Internetdaten biometrisch abgleichen dürfen, die Geheimdienste mehr „Übermittlungsbefugnisse“ bekommen.
Ein Klassiker: Für Extremisten gilt „Null Toleranz“, egal ob rechts, links oder islamistisch. Die „Task Force Islamismusprävention“ soll gestärkt werden – sonst liest man zur Prävention wenig. Immerhin: Das NSU-Dokumentationszentrum soll doch entstehen, in Nürnberg, wo die Terrorserie begann. Auch die lange geforderte Waffenrechtsreform soll kommen, nun indes „anwenderfreundlich“. Das Informationsfreiheitsgesetz soll nicht abgeschafft, aber reformiert werden.
Wenn es hier eine „Zeitenwende“ gibt, dann die der neuen Überwachungsmaßnahmen. Die progressiven Ansätze der Ampel in der Sicherheitspolitik werden vielfach wieder abgeräumt. Konrad Litschko
Soziales & Arbeit: Sanktionsdruck steigt, Mindestlohnerhöhung ungewiss
Das Ministerium für Arbeit und Soziales bleibt in der Hand der SPD. Vereinbart haben die Koalitionäre unter anderem eine Umgestaltung des „Bürgergelds“ hin zu einer „neuen Grundsicherung für Arbeitssuchende“. Das bedeutet unter anderem, dass „Mitwirkungspflichten und Sanktionen im Sinne des Prinzips Fördern und Fordern“ verschärft werden sollen.
So sollen „Menschen, die arbeiten können und wiederholt zumutbare Arbeit verweigern“, vollständig die Leistungen entzogen werden. Wie das vereinbar sein soll mit dem Bekenntnis, die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu beachten, bleibt unklar. Außerdem soll die Karenzzeit für Vermögen abgeschafft werden und die Höhe des Schonvermögens „an die Lebensleistung“ gekoppelt werden.
Auf eine Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf 15 Euro brutto pro Stunde konnten sich die Koalitionäre nicht verständigen. Stattdessen wird auf die unabhängige Mindestlohnkommission verwiesen, die sich „im Rahmen einer Gesamtabwägung sowohl an der Tarifentwicklung als auch an 60 Prozent des Bruttomedianlohns von Vollzeitbeschäftigten orientieren“ soll. „Auf diesem Weg ist ein Mindestlohn von 15 Euro im Jahr 2026 erreichbar“, schreiben die Koalitionäre blumig. Ob es so kommen wird, hängt nun von den Gewerkschafts- und Arbeitgebervertreter:innen in der Kommission ab.
Wie von der CSU gefordert, soll die Mütterrente künftig unabhängig vom Geburtsjahr der Kinder gezahlt werden. Um Kinderarmut abzumildern, soll der Teilhabebetrag des Bildungs- und Teilhabepakets von 15 auf 20 Euro erhöht werden. Darüber hinaus setzt die Koalition eine „Kommission zur Sozialstaatsreform“ ein, die Empfehlungen unter anderem zur Zusammenlegung von Sozialleistungen geben soll. Pascal Beucker
Migration: Abweisungen, Abschiebungen, Aussetzungen
Hier hat sich die Union weitgehend durchgesetzt. Das heißt: Es wird hart. Asylbewerber*innen sollen künftig an den Grenzen zurückwiesen werden – allerdings „in Abstimmung“ mit Nachbarstaaten. Der Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte wird für zwei Jahre ausgesetzt. Außerdem sollen weitere Länder als sichere Herkunftsländer gelten. Humanitäre Aufnahmeprogramme werden beendet.
In Asylverfahren soll künftig der „Beibringungsgrundsatz“ gelten: Statt der Behörden sollen also Schutzsuchende Infos über Gefahren im Herkunftsland beschaffen. Ukrainische Geflüchtete sollen nur noch Geld nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten, statt Bürgergeld. Das dürfte die Länder belasten, denn die müssen zahlen. Eine der wenigen echten Verbesserungen: Für geflüchtete Frauen, die sexualisierte Gewalt erfahren, sollen Wohnsitzauflagen gelockert werden. Andere Ausnahmen fallen dafür weg.
Abschiebungen sollen ausgeweitet und beschleunigt werden. Zielländer für Abschiebungen sollen auch Syrien und Afghanistan sein, obwohl die humanitäre Lage dort verheerend ist. Betroffene bekommen zudem keinen Anwalt mehr gestellt. Und Gefährder und Schwerkriminelle sollen in „dauerhaften Ausreisearrest“.
Da, wo es nicht um neue Fluchtmigration geht, ist der Koalitionsvertrag milder. So soll eine „Work-and-stay-Agentur“ bald Fachkräfte locken. Auch beim Staatsbürgerschaftsrecht konnte die SPD größere Einschränkungen verhindern. Nur die besonders schnelle Einbürgerung nach nur 3 Jahren Aufenthalt soll gestrichen werden. Das Chancenaufenthaltsrecht, das bisher Geduldeten den Weg zum legalen Aufenthalt ermöglichte, wird durch einen neuen Mechanismus ersetzt, dessen Details allerdings offen sind. Frederik Eikmanns
Außen und Verteidigung: Erst mal keine Wehrpflicht
Personell soll in der deutschen Außenpolitik künftig die Union den Ton angeben: Das Außenministerium geht an die CDU, die CSU erhält einen Staatssekretär im Auswärtigen Amt, und den Bundeskanzler stellt bekanntermaßen auch die CDU.
Inhaltlich ist in den Grundpfeilern der neuen Koalition aber auch viel Kontinuität zu lesen: SPD und Union wollen die internationale regelbasierte Ordnung stärken, betonen die Bedeutung der transatlantischen Partnerschaft und sprechen sich auch weiterhin für eine Zweitstaatenlösung im Nahen Osten aus, die es zu verhandeln gelte.
Die Eigenständigkeit der von Russland angegriffenen Ukraine sei bedeutsam für die Sicherheit Deutschlands. Die Koalition will daher die „militärische, zivile und politische Unterstützung“ des Landes „substanziell stärken“. Es gelte, sich für einen „echten und nachhaltigen Frieden einzusetzen, in dem die Ukraine aus einer Position der Stärke und auf Augenhöhe“ agiere. Ob ein möglicher Friedensschluss in der Ukraine auch mit Bundeswehrsoldaten unterstützt werden soll, beantwortet der Koalitionsvertrag nicht. Es heißt dort lediglich, die Ukraine benötige „materielle und politische Sicherheitsgarantien“.
Das Verteidigungsministerium bleibt in den Händen der SPD, ob weiterhin Boris Pistorius die Geschäfte dort führt, war zunächst jedoch unklar. Die künftige Bundesregierung will, anders als aus der CSU gefordert, auch weiterhin an der Freiwilligkeit des Diensts an der Waffe festhalten. „Wir schaffen einen neuen attraktiven Wehrdienst, der zunächst auf Freiwilligkeit basiert.“ Durch das Wörtchen „zunächst“ hat die Union rhetorisch ein Hintertürchen offen gehalten.
Das Entwicklungshilfeministerium bleibt bestehen und geht ebenfalls an die SPD. Cem-Odos Güler, Tobias Schulze
Landwirtschaft: Profit first
Die neue Koalition will den Umweltschutz zugunsten der kommerziellen Interessen von Landwirten zurückdrängen. „Wir werden die Agrardiesel-Rückvergütung vollständig wieder einführen“, steht im Koalitionsvertrag. Diese von der Ampel abgeschaffte Subvention in Höhe von 450 Millionen Euro pro Jahr senkt die Anreize, klimaschädlichen Kraftstoff einzusparen. Die Landwirtschaft soll auch nicht in den Emissionshandel einbezogen werden. Das künftig von der CSU geführte Agrarministerium soll die Stoffstrombilanz im Düngerecht abschaffen, mit der die Menge von Pflanzennährstoffen berechnet wird, die die Höfe in die Umwelt abgeben.
Künftig sollen auch weniger Projekte wie Industrie- oder Stallbauten eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchlaufen. Das Verbandsklagerecht etwa von Umweltorganisationen soll ausgehöhlt werden, das Umwelt-Informationsgesetz wollen die Koalitionäre „verschlanken“.
Die EU-Entwaldungsverordnung soll für deutsche Forstwirte praktisch nicht gelten. Auch bei der EU-Verordnung zur Wiederherstellung der Natur wollen die Koalitionäre „Erleichterungen“. Wenn die EU den Schutzstatus des Wolfs herabstuft, soll das „unverzüglich“ in nationales Recht umgesetzt werden. Pestizide sollen schneller zugelassen werden. Die neue Regierung will überprüfen, ob die bundeseigene Bodenverwertungs- und -verwaltungs GmbH (BVVG) ihr Land weiterhin vorrangig an ökologisch oder anderweitig „nachhaltig“ wirtschaftende Betriebe verpachten soll.
Damit mehr Obst und Gemüse in Deutschland angebaut wird, wollen die Parteien die Beschäftigung von Saisonkräften ohne gesetzliche Krankenversicherung von 70 auf 90 Tage verlängern.
Auf der anderen Seite verspricht die Koalition „ein Prüf- und Zulassungsverfahren für Stallsysteme“. Sie beabsichtigt auch, „den tierwohlgerechten Stallbau“ auf Grundlage staatlicher Verträge dauerhaft zu finanzieren. Die verpflichtende Kennzeichnung der Tierhaltungsform von Fleisch will sie „praxistauglich“ reformieren. Das Aktionsprogramm natürlicher Klimaschutz und die Moorschutzstrategie sollen „verstetigt“ werden. Jost Maurin
Verkehr: Immerhin kein Totalausfall
Ein klares Bekenntnis zur Verkehrswende sieht anders aus, aber immerhin ist der Koalitionsvertrag kein verkehrspolitischer Totalausfall. Das Deutschlandticket bleibt, aber soll ab 2029 teurer werden. Zuvor war eine „sozialverträgliche und schrittweise“ Preissteigerung des 58-Euro-Tickets schon ab 2027 im Gespräch. Die Kosten für das beliebte Angebot sollen zukünftig nach einem festen Schlüssel zwischen Bund, Ländern und Kund:innen aufgeteilt werden, das soll für Planungssicherheit sorgen.
Die Schiene geht als großer Gewinner aus den Verhandlungen hervor. Durch das neu eingerichtete Sondervermögen soll deutlich mehr Geld in die Sanierung des maroden Streckennetzes fließen. Vor allem die extrem aufwändige Sanierung der Hochleistungskorridore will die Koalition durch das Sondervermögen finanzieren. Die dadurch frei werdenden Mittel stehen dann weniger stark frequentierten Strecken zur Verfügung. Außerdem darf die Deutsche Bahn mit weiteren Milliarden aus dem Klima-Transformation-Fonds für die Elektrifizierung und Digitalisierung rechnen.
Wenig überraschend bleibt Schwarz-Rot der autofreundlichen Politik der Vorgängerregierungen treu. Ein Tempolimit auf Autobahnen schaffte es nicht in den Vertrag. Auch am Bundesverkehrswegeplan, der zahlreiche klima- und umweltschädliche Autobahnneubauprojekte enthält, wird nicht gerüttelt. Die Koalitionäre räumen lediglich ein, dass „Erhalt vor Neubau“ gilt, ein Grundsatz, der schon in der Vergangenheit recht frei interpretiert wurde. Freuen dürften sich viele Fahrschüler:innen über die geplante Entschlackung und Vergünstigung der Fahrschulausbildung.
Der Rad- und Fußverkehr wird hingegen mit keinem Wort in dem 146-Seitigen Dokument erwähnt. Steuerungsinstrumenten wie einem Nationalen Radwegeplan scheint die neue Regierung keine Bedeutung beizumessen. Handlungsfreudig gibt sich Schwarz-Rot hingegen bei der Subvention des Flugverkehrs. So sollen „Steuern, Gebühren und Abgaben“ gesenkt und Regionalflughäfen weiter unterstützt werden. Jonas Wahmkow
Demokratieförderung: Zivilgesellschaft weiter gefährdet
Immerhin: Das Programm „Demokratie leben!“ soll fortgesetzt und nicht ins CSU-geführte Innenministerium versetzt werden, wie zwischenzeitlich von der Union gefordert. Bereits vor den Koalitionsverhandlungen hatte die Union mit einer 551 Fragen umfassenden parlamentarischen Anfrage zivilgesellschaftliche Initiativen und Vereine angegriffen und diskreditiert. Zudem drohten Unionspolitiker*innen missliebigen Organisationen mit Streichung der Finanzierung, weil sie es gewagt hatten, auch gegen die CDU zu protestieren, nachdem diese im Bundestag gemeinsam mit der AfD abgestimmt hatte. Auch, wenn sie wie die Omas gegen Rechts überhaupt keine dauerhafte Förderung bekommen.
Nun bleibt das Programm „Demokratie Leben!“ im Familienministerium. Im Koalitionsvertrag heißt es auch, dass man „verstärkt in die Wehrhaftigkeit unserer Demokratie investieren müsse“. Das heißt aber leider nicht, dass alles gut ist: Denn das Familienministerium soll von der CDU geführt werden und „Demokratie Leben!“ damit erstmals unter der Verantwortung der Union stehen. Die dreht in einigen Regionen bereits zivilgesellschaftlichen Vereinen den Geldhahn zu – zusammen mit der AfD.
Dieser Praxis stehen im Koalitionsvertrag Sätze gegenüber wie: „Wir unterstreichen die Bedeutung gemeinnütziger Organisationen, engagierter Vereine und zivilgesellschaftlicher Akteure als zentrale Säulen unserer Gesellschaft.“ Hinzu kommen aber auch Einschränkungen: „Wir werden eine unabhängige Überprüfung dieses Programms in Bezug auf Zielerreichung und Wirkung veranlassen“. Zudem wolle man „weiterhin die Verfassungstreue geförderter Projekte“ sicherstellen, was seitens der Union wohl eher restriktiv mit Blick auf alles Linke gemeint ist.
Dazu passt, dass Silvia Breher (CDU) als mögliche Familienministerin gehandelt wird. Die beklagte in der Vergangenheit unter anderem „linksextremistische Tendenzen“ von geförderten Vereinen und Organisationen. Die Angriffe auf die Zivilgesellschaft könnten also weitergehen. Von einem Demokratiefördergesetz, wie es die Ampel noch plante, aber wegen der FDP nicht umsetzen konnte, ist indes längst keine Rede mehr. Gareth Joswig
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