Wagenknechts Impfskepsis: Das laute Schweigen der Linken
Linke-Politikerin Sahra Wagenknecht gibt sich offen impfskeptisch. Das Problem ist aber nicht sie, sondern die fehlende Gegenstrategie der Partei.
Es ist erhellend, wenn Sahra Wagenknecht und Karl Lauterbach übers Thema Impfen streiten. Am Sonntag zählte Wagenknecht bei Anne Will bekannte Zweifel auf: neue Impfstoffe, unerforschte Nebenwirkungen, Impfdurchbrüche und ja, auch Geimpfte können das Virus weitergeben. Letzteres führte sie zu der steilen These, dass Impfen keineswegs ein Akt der Solidarität sei, sondern eine individuelle Entscheidung, bei der es in erster Linie um Selbstschutz gehe. Lauterbach hörte geduldig zu, nur ein Räuspern nach sechs Minuten zeigte seine Ungeduld, und konterte mit Fakten: Bis zu sechs Monate nach der Impfung sind Geimpfte sehr wohl weniger ansteckend, die Viruslast zwar hoch, aber weniger lebendig und die Zeit der Infektiosität kürzer.
Man war danach klüger. Alles gut? Mitnichten. Denn da diskutierten nicht nur zwei Repräsentat:innen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen, die eine ungeimpft und skeptisch, der andere geimpft und aufklärend. Beide sind auch Vertreter:innen ihrer jeweiligen Parteien: Wagenknecht ist die prominenteste Politikerin der Linken, Mitglied des Bundestages, sie führte die Landesliste der NRW-Linken im Wahlkampf an. Lauterbach ist SPD-Gesundheitsexperte, möglicherweise bald Gesundheitsminister.
Natürlich darf Wagenknecht ihre private Impfskepsis öffentlich äußern, sie spricht sicher vielen Menschen aus der Seele. Doch warum widerspricht ihr niemand aus der eigenen Partei, und kontert Halbwissen, ins verschwörungstheoretisch abgleitende Andeutungen – Long Covid vielleicht doch nicht so schlimm – mit Fakten? Wieso ist die meist zitierte Linkenpolitikerin, die sich in Talkshows zum Thema Corona äußert, nicht mal selbst geimpft und streut Zweifel? In einer Zeit, in der die Impfbereitschaft stagniert und die Inzidenzen in die Höhe schnellen.
Einfache Antwort. Die Medien sind schuld. Die laden Wagenknecht in jede Talkshow ein und sie nimmt das gerne an. So funktionieren Talkshows nun mal, prominente Politiker:innen, die der Parteilinie widersprechen, sorgen für Aufmerksamkeit.
Wer spricht für die Linke?
Der Linken fehlt eine Gegenstrategie. Keine ranghohe Linkenpolitiker:in wagt es, Wagenknecht öffentlich Paroli zu bieten, obwohl die Mehrheit der Partei ganz anders tickt. „Ich will und werde Wagenknecht nicht mehr erklären“, sagt die Parteivorsitzende Susanne Hennig-Wellsow, die doppelt geimpft ist, am Montag auf den Auftritt angesprochen. In der Linkspartei gilt: Eine Debatte um Wagenknecht führt nur zu Streit, den man vermeiden will.
Die Linke ist mit 4,9 Prozent nur noch mit Ach und Krach in den Bundestag eingezogen, also: Bitte bloß kein Krach! Falsch. Viele Menschen fragen sich, wer derzeit eigentlich für die Linke spricht. Wagenknecht, die vorm Impfen warnt. Oder Fraktionschef Dietmar Bartsch, der auch aus Gründen der Solidarität fürs Impfen wirbt – aber nicht direkt auf Wagenknecht rekurriert.
Es ist schon absurd, dass sich Marx’ Schüler:innen ausgerechnet bei Wagenknecht dem Widerspruch und dem Prinzip dialektischer Aufklärung entziehen.
Noch absurder ist es, zu einer öffentlichen Diskussion zu schweigen, wenn auch mit dem Argument, die Position der Partei sei bekannt. Die Linke ist bei Corona so vorsichtig, dass auf der Wahlparty das Prinzip 2G plus Test galt, weshalb Wagenknecht, selbst wenn sie gewollt hätte, nicht hätte kommen können. Die Parteipositionen zu ignorieren, macht offenbar noch bekannter.
Böse Langzeitfolgen für die Partei
Das Problem der Linken geht noch tiefer. Die Versorgungsmentalität in der Partei hat dazu geführt, dass die Landeslisten für die Bundestagswahl mit Altvorderen besetzt wurden und Jüngere und ausgewiesene Fachleute erst auf den hinteren Plätzen auftauchten. Die Folge: Aufgrund des miserablen Wahlergebnisses stellt die Linke nun die zweitälteste Fraktion im Bundestag und es fehlt an Expertise.
Der Gesundheitsexperte Achim Kessler – nun gut, auch den kannte kaum jemand – ist nicht mehr vertreten, aber auch Staatsrechtler, Klimapolitiker und Finanzexpert:innen gehören der Fraktion nicht mehr an.
Die Linke hat derzeit kaum präsentables Personal, das bei Sachthemen überzeugend auftreten kann. Die Kombination aus wenig Widerspruch und wenig Leuten kann für die Linke ziemlich böse Langzeitfolgen haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin