Krieg in der Ukraine: Zurückhaltung ist gefährlich

Kritik an Waffenlieferungen: Zehn Gegenthesen zum offenen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz und den Debattenbeitrag von Jürgen Habermas.

Menschen demonstrieren mit Plakaten gegen den Krieg in der Ukraine

„Stop Putin“: Ohne Waffen wird sich der russische Präsident kaum stoppen lassen Foto: J. Große/AdoraPress

In einem offenen Brief, der von der Zeitschrift Emma verbreitet wurde, haben deutsche Prominente von Reinhard Mey über Alexander Kluge bis Dieter Nuhr vor einer Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine gewarnt. „Die Lieferung großer Mengen schwerer Waffen könnte Deutschland selbst zur Kriegspartei machen.“ Es drohe die Eskalation des Krieges zum Dritten Weltkrieg, zum atomaren Konflikt.

Auch der Philosoph Jürgen Habermas hat in der Süddeutschen Zeitung ähnlich schwere Bedenken geäußert. Letztlich entscheide der russische Präsident Wladimir Putin darüber, ab wann er die Unterstützung der Ukraine durch die Nato-Staaten als Kriegseintritt des Westens betrachtet. „Angesichts des unbedingt zu vermeidenden Risikos eines Weltenbrandes lässt die Unbestimmtheit dieser Entscheidung keinen Spielraum für riskantes Pokern“, warnt Habermas.

Diese Diskussionsbeiträge sind nicht überzeugend. Hierzu einige Gegenthesen.

1. Völkerrecht: Es gibt bisher keine umfassenden völkerrechtlichen Regeln, ab wann der Kriegsbeitritt eines Staates vorliegt. Die Mehrheit der deutschen bzw. westlichen Völkerrechtler hat sich in den letzten Wochen darauf festgelegt, dass die Verhängung von Sanktionen und die Lieferung von Waffen keinen Kriegseintritt darstellt. Erst das Eingreifen von Soldaten der Nato-Staaten führe zu einem Kriegseintritt dieser Staaten. Diese völkerrechtliche Position ist gut vertretbar und in sich konsistent. Sie setzt auch eine klare Grenze.

2. Konsistenz: Deutlich weniger konsistent ist es, die Grenze bei der Lieferung von schweren Waffen wie Panzern anzusetzen und die Lieferung leichter Waffen sowie das Verhängen von Sanktionen als noch ungefährlich anzusehen. Wer kein Risiko eingehen will, dass Putin ein Verhalten als Kriegseintritt werten kann, darf die Ukraine überhaupt nicht unterstützen, das heißt: ihr keinerlei Waffen liefern und gegen Russland keinerlei Sanktionen verhängen. Er müsste völlig neutral bleiben und sollte besser auch auf die – eigentlich eindeutige – Bewertung der russischen Invasion als völkerrechtswidrigen Angriffskrieg verzichten. Denn Russland sieht seine Invasion als gerechtfertigt an, um den nur von Russland anerkannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk gegen einen angeblichen Völkermord der angeblich faschistischen ukrainischen Regierung beizustehen, so die Ausgangslüge dieses Krieges. Eine so weitgehende Neutralität Deutschlands fordern aber selbst die Emma-Prominenten und Habermas nicht.

3. Abschreckung: Bisher hat Putin die Nato-Lieferung von Waffen an die Ukraine und die Sanktionen gegen Russland nicht zum Anlass genommen, nun das Nato-Gebiet anzugreifen. Das ist aber nicht Ausdruck einer völkerrechtlichen Position Russlands. Denn verbal hat die russische Seite die Waffenlieferungen durchaus bereits als Kriegsbeitritt bezeichnet. Dass Russland hierauf nicht mit einem Angriff auf Nato-Territorium geantwortet hat (zum Beispiel gegen polnische Bahnhöfe, auf denen Waffen verladen werden), ist wohl ausschließlich eine Wirkung der militärischen Abschreckung der Nato. Denn wenn Russland das Nato-Gebiet angreift, müsste es auch mit Angriffen der Nato auf das eigene Gebiet rechnen. Wenn Russland Atomwaffen gegen Nato-Staaten einsetzt, müsste es auch mit dem Einsatz von Nato-Atomwaffen gegen Russland rechnen. Inzwischen haben zahlreiche Staaten (etwa die USA) auch schwere Waffen an die Ukraine geliefert, ohne dass Russland deshalb die Nato-Staaten angegriffen hat. Dies zeigt, dass bei der Lieferung schwerer Waffen die gleichen Mechanismen der Abschreckung wirken und eben keine „rote Linie“ überschritten wurde und wird.

4. Nicht-Eskalation: Das bisherige Verhalten der Nato war und ist nicht eskalierend. Russland hat die Ukraine unter einem erfundenen Vorwand mit einer gewaltigen Armee militärisch angegriffen, um seine Einflusssphäre zu sichern. Das ist ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg. Es ist völlig eindeutig, dass die Nato der Ukraine militärisch helfen darf, sich gegen diese rechtswidrige Aggression zu verteidigen. Die Nato ist dazu zwar nicht verpflichtet, weil die Ukraine kein Nato-Mitglied ist, aber sie ist dazu berechtigt, weil die Ukraine ausdrücklich um diese Hilfe gebeten hat. Die Nato verzichtet auf eine Intervention mit eigenen Armeen, weil sie den militärischen Konflikt lokal begrenzt halten will. Es soll ein militärischer Konflikt zwischen Russland und der Ukraine bleiben und kein militärischer Konflikt zwischen Russland und den Nato-Staaten werden. Die Nato vermeidet damit einen Dritten Weltkrieg.

5. Nato-Interesse: Die Nato setzt hier auf Nicht-Eskalation, obwohl sie politisch genügend Gründe hätte, der Ukraine beizustehen. Eine militärische Intervention an der Seite der Ukraine wäre keineswegs nur ein selbstloser Akt der Hilfe für einen rechtswidrig angegriffenen Staat. Schließlich besteht die ernsthafte Gefahr, dass Russland, wenn es gelänge, die Ukraine zu einem Vasallenstaat zu machen, weitere Staaten seiner ehemaligen Einflusssphäre (z.B. die baltischen Staaten und Polen) unter erfundenen Vorwänden angreifen würde, um sie von ihren angeblich faschistischen Regierungen zu befreien. Bei einem derartigen Angriff auf Nato-Staaten müssten die übrigen Mitglieder dann auch militärisch eingreifen.

6. Hilfe für die Ukraine: Wenn die Nato-Staaten also auf einen Kriegseintritt verzichten, aber ein elementares Interesse haben, dass die russische Aggression gegen die Ukraine erfolglos bleibt, müssen sie schon aus eigenem Interesse alles tun, um der Ukraine bei ihrer Verteidigung zu helfen und Russland zum Rückzug zu zwingen. Das heißt: Sie müssen der Ukraine schnell und umfassend die Waffen liefern, die sie für die Verteidigung braucht. Und sie müssen so massive Wirtschaftssanktionen verhängen, dass diese möglichst schnell wirkungsvoll sind. Angesichts der großen Nicht-Eskalation (Verzicht auf einen eigenen Kriegseintritt) gibt es keinen Grund zu noch weitgehender Nicht-Eskalation, wenn man die Interessen der Ukraine und die eigenen Interessen wirklich ernst nimmt.

7. Selbstbestimmung: Man kann es durchaus als moralisch zweifelhaft ansehen, den Konflikt militärisch auf die Ukraine zu begrenzen, obwohl es doch auch um elementare Interessen der Nato-Staaten geht. Indem die Ukraine von der Nato aufgerüstet wird, wird diese aber nicht gegen ihren Willen als Kampffeld missbraucht. Vielmehr fordert die Ukraine diese Aufrüstung selbst massiv ein. Die Ukraine würde zwar einen Kriegseintritt der Nato bevorzugen (etwa indem die Nato-Luftwaffe eine Flugverbotszone über der Ukraine durchsetzt). Die Unterstützung des ukrainischen Kampfes mit Nato-Waffen ist für die Ukraine insofern nur die zweitbeste Lösung, aber es ist immer noch eine sehr erwünschte Lösung.

8. Schutz der Zivilbevölkerung: Natürlich geht dieser Krieg auch auf Kosten der ukrainischen Zivilbevölkerung. Doch zum einen steht diese ganz überwiegend hinter der militärischen Selbstverteidigung ihres Landes und damit auch hinter den Waffenlieferungen an die Ukraine. Zum anderen haben die EU-Staaten eine fundamentale Hilfe für die ukrainische Zivilbevölkerung beschlossen, indem sie der gesamten ukrainischen Bevölkerung freien Zutritt und ein dreijähriges Aufenthaltsrecht in den EU-Staaten ermöglichen. Dieses Angebot gilt auch für ukrainische Männer, die sich nicht an den Kämpfen beteiligen wollen.

9. Gesichtswahrung: Es ist nicht Aufgabe der Ukraine oder der Nato-Staaten, sich zu überlegen, wie Wladimir Putin gesichtswahrend diesen verbrecherischen Krieg beenden kann. Putin hat diesen Krieg mit Lügen begonnen, er kann ihn auch jederzeit mit Lügen seiner Wahl beenden. Die russische Bevölkerung scheint derzeit auch überwiegend gewillt, Putin jede Lüge zu glauben. Wenn die neuen Lügen zu einem Ende des Krieges führen, dürfte es hiergegen auch in der russischen Bevölkerung kaum Proteste geben.

10. Kriegsvermeidung: Es ist immer besser, einen Konflikt auf diplomatischem Wege zu lösen als mit militärischen Mitteln. Hier geht es aber nicht mehr um einen Interessenskonflikt, sondern um einen Krieg, den Russland begonnen hat. Russland hat damit den Krieg und das Drohen mit Kriegen wieder zum Mittel der Politik gemacht. Damit darf Russland keinen Erfolg haben, wenn der Vorrang der Diplomatie bewahrt werden soll. Deshalb müssen auch Pazifisten (klammheimlich) auf eine eindeutige militärische Niederlage Russlands hoffen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Geboren 1965, Studium in Berlin und Freiburg, promovierter Jurist, Mitglied der Justizpressekonferenz Karlsruhe seit 1996 (zZt Vorstandsmitglied), Veröffentlichung: „Der Schiedsrichterstaat. Die Macht des Bundesverfassungsgerichts“ (2013).

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.