Kita will Namen „Anne Frank“ ablegen: Getilgtes Gedenken
Eine Kita in Sachsen-Anhalt will nicht mehr nach NS-Opfer Anne Frank benannt sein. Wunsch sei ein Name „ohne politische Hintergründe“, so die Leitung.
Die Zeitung zitierte die Kita-Leiterin Linda Schichor mit den Worten, der Kinderrat der Einrichtung habe einen Namen gewählt, der kindgerechter sei. Die Geschichte von Anne Frank sei gerade für kleinere Kinder schwer fassbar. Auch Eltern mit Migrationshintergrund könnten mit dem Namen oft nichts anfangen. „Wir wollten etwas ohne politische Hintergründe“, so Schichor. Es laufe eine Unterschriftensammlung für den neuen Namen.
Nach allem was bekannt ist, geht der Vorschlag, auf den Namen zu verzichten, nicht auf Forderungen von rechts zurück – selbst wenn die „AfD ein Faktor in der Stadt“ ist, wie Ortskundige sagen. Er kommt viel eher aus der bürgerlichen Mitte.
Bürgermeister will „nicht Moralapostel spielen“
Auch Bürgermeister Andreas Brohm (parteilos) ist in die Diskussion einbezogen. Er ist Mitglied des Präsidiums des Evangelischen Kirchentages und seit fast zehn Jahren Stadtoberhaupt. Brohm hatte 2018 an der Festveranstaltung zum 50. Geburtstag des Kindergartens teilgenommen. Trotz des Hamas-Terrors gegen Israel ist er offen für die Umbenennung.
Es gebe ein neues pädagogisches Konzept für die Einrichtung, so Brohm. Wenn Eltern und Mitarbeiter:innen einen Namen wollten, der dieses Konzept besser abbilde, habe dies „gegenüber der weltpolitischen Lage mehr Gewicht“. Es sei ein „Abwägungsprozess“, so Brohm zur taz. „Ich finde, Demokratie muss aushalten, dass man Dinge einfach ausdiskutiert.“ Er wolle in dieser Diskussion „nicht der Moralapostel“ sein.
Kritik kommt von der Opposition im Landtag. Henriette Quade (Linke) sagte der taz: „Die Kita umbenennen zu wollen, halte ich angesichts des allgegenwärtigen Antisemitismus für ein falsches Signal.“ Sebastian Striegel (Grüne) forderte, der Name solle bleiben: „Über die Person Anne Frank kann eine Beschäftigung mit Menschenwürde und universalen Werten auch kindgerecht vermittelt werden.“
Verband Jüdischer Gemeinden ist irritiert
Auch der Landesverband Jüdischer Gemeinden Sachsen-Anhalt zeigte sich irritiert über die Pläne zur Umbenennung des Kindergartens. Mit Blick auf den erstarkenden Antisemitismus sagte Verbandschef Max Privorozki der taz, die Namensänderung gerade jetzt erzeuge einen unguten Beigeschmack und komme womöglich im unpassenden Moment. „Kleine Kinder in Tangerhütte können genauso gut die Welt entdecken in einer Anne-Frank-Kita wie in einer Weltentdecker-Kita!“
Der Hinweis auf Eltern mit Migrationshintergrund, die mit dem Namen von Anne Frank oft nichts anfangen können, sei das beste Argument gegen die Namensänderung. „Dieses Argument bedeutet, dass die Integration dieser Eltern in die deutsche Gesellschaft misslingt.“ Statt den Kita-Namen zu ändern, sollten die Eltern lieber zu einer Lesung des Tagebuches von Anne Frank oder auch zu einem Workshop zum Thema eingeladen werden.
David Begrich vom Verein Miteinander wirft den Beteiligten in Tangerhütte mangelnde Sensibilität vor. Er unterstelle den Beteiligten ausdrücklich nicht Antisemitismus, sagt er der taz. Allerdings bitte er darum, dass diese ihr Handeln „in einem größeren gesellschaftspolitischen Zusammenhang sehen“.
Zu diesem gehöre auch, dass 2006 im sachsen-anhaltischen Pretzien (Salzlandkreis) sieben junge Männer aus der Neonazi-Szene das Tagebuch der Anne Frank verbrannt haben. „Alles Lüge“, soll einer gerufen haben. Es gebe gute, erprobte und altersgerechte Konzepte zur Vermittlung des Lebens der Anne Frank und ihres weltberühmten Tagebuchs an Kinder und Jugendliche, so Begrich.
Diskussion über Namensänderung hält an
Am Montag deuteten Bürgermeister Brohm und die Einheitsgemeinde Stadt Tangerhütte vage einen Rückzieher an. „Kita,Anne Frank' – Entscheidung einer Namensänderung steht vorerst nicht an“, hieß es in einer Erklärung auf der Homepage der Stadtverwaltung. Die Diskussionen um einen neuen Namen würden immer noch laufen, „ohne dass aktuell eine Entscheidung darüber anstünde“.
Selbstverständlich werde mittelfristig auch „die aktuell öffentlich geführte Diskussion um die Namensgebung mit einfließen“. Einen Termin, zu dem der Stadtrat entscheidet, gibt es noch nicht. Brohm betonte: „Viele konstruktive Anregungen und Vorschläge haben uns dazu erreicht, für die wir sehr dankbar sind. Diese werden dem Abwägungsprozess eine neue Dynamik verleihen, was wir sehr begrüßen.“
In vielen ostdeutschen Städten sind Kindertagesstätten nach Anne Frank benannt, etwa in Frankfurt (Oder), Anklam, Fürstenwalde und Rostock, aber auch im baden-württembergischen Heilbronn. 2021 wollte die Kindertagesstätte im thüringischen Elxleben ihren Namen „Anne Frank“ ablegen und sich in Anlehnung an den örtlichen Faschingsverein „Elchzwerge“ nennen. Der Plan wurde damals nach Protesten der Jüdischen Landesgemeinde rasch aufgegeben.
Hinweis der Redaktion: Der Text wurde am Montag, 6. November, gegen 15 Uhr um den Hinweis aus der Stadtverwaltung zur anhaltenden Diskussion um die Namensänderung ergänzt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Nordkoreas Soldaten in Russland
Kim Jong Un liefert Kanonenfutter
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW