Politik in Bautzen: Der Seiteneinsteiger
Alexander Ahrens eroberte im August 2015 das Rathaus. Ein Selbstläufer war das nicht: Er ist parteilos, aus Westberlin und Immobilienbesitzer.
Die „Blutgasse“ neben der Kirche kündet heute noch davon. Die Überraschung bei der Dame war jedenfalls vollkommen. Wenig später sind die beiden ein Paar, inzwischen haben sie vier Kinder und Ahrens, der Wirtschaftsanwalt, lebt seit 2008 in der Oberlausitz – mit erheblichen Folgen für die Region.
Seit August 2015 ist Ahrens, ein hagerer Typ mit angegrautem Bart, Oberbürgermeister der 40.000-Einwohner-Stadt Bautzen. Dass der 50-Jährige das geworden ist, war aus verschiedenen Gründen höchst unwahrscheinlich. Seine Liebe zu Preußen ist, hier im Freistaat Sachsen, der kleinste Makel. Dass er parteilos ist, wog da schon schwerer. Wie soll einer in den Wahlkampf ziehen, ohne Partei im Rücken?
Völlig unmöglich aber ist Ahrens’ Herkunft. „Westberliner – Rechtsanwalt – Immobilienbesitz!“ Ahrens lacht, als er seine Defekte aufzählt. Hinzu kommt eine unmissverständliche Ansage, mit der man sich in Bautzen nicht nur Freunde macht: Mit mir wird es keine Politik gegen Flüchtlinge geben! Das hatte Ahrens immer wieder im Wahlkampf verkündet – in der Stadt, wo 2014 bei der Landtagswahl 14,8 Prozent der Wähler für die AfD und 10,9 Prozent für die NPD gestimmt haben.
Politisches Erdbeben
Dennoch wurde der Seiteneinsteiger Alexander Ahrens zum Oberbürgermeister gewählt. In der Stichwahl gegen den CDU-Kandidaten triumphierte er mit fast 15 Prozentpunkten Vorsprung. Die Christdemokraten, in Sachsen so etwas wie eine Staatspartei, waren nach 25 Jahren das Rathaus Bautzen los. Wäre die Stadt nicht auf Granit gegründet, hätte man das politische Erdbeben bis Dresden spüren müssen. Bautzen war eine der letzten großen Städte in Sachsen mit einem CDU-Oberbürgermeister.
Ahrens sitzt in seinem Amtszimmer und löffelt genüsslich eine grüne Eiskugel, über ihn spannt sich ein Kreuzgewölbe, die hölzernen Türen haben komplizierte altertümliche Schlösser aus Eisen. „Die CDU ist immer noch beleidigt“, bemerkt Ahrens. Jetzt, wo auch der Bautzener Bürgermeisterstuhl weg ist, leide sie an Phantomschmerzen.
Netzkommentar eines Bautzeners
Nach seinen ersten hundert Tagen hat sich der unterlegene Kandidat beschwert, dass der Neue immer noch nicht in der CDU-Stadtratsfraktion war. Ja, da sei der Bürgermeister früher „eingenordet“ worden, feixt Ahrens. Die Zeiten sind vorbei.
Die Chancen für einen Wechsel in Bautzen standen günstig. Im Osten Deutschlands tritt nach mehr als 25 Jahren die Politikergeneration ab, die seit 1990 die Kommunalpolitik geprägt hat. Die einstigen Politamateure aus der Wendezeit – viele kamen aus der Bürgerbewegung – wurden binnen Monaten Landräte und Bürgermeister. Viele waren im Lauf der Jahre lokale Schwergewichte geworden und hielten für ihre Parteien – in Sachsen oft genug die CDU – in den Städten und Landkreisen die Stellung. Zu ihren Aufgaben gehörten, neben dem Neuaufbau der Verwaltung, der Umstrukturierung und Stadtsanierung, stets auch die Sicherung der Machtbasis.
CDU-Vorherrschaft gebrochen
Allerdings klappt das bei einem Generationswechsel nicht immer. In Greifswald brach 2015 ein Parteienbündnis von Grünen, Linken, SPD und Piraten mit dem Kandidaten Stefan Fassbinder die CDU-Vorherrschaft. Der 49 Jahre alte Historiker Fassbinder wurde mit der hauchdünnen Mehrheit von 15 Stimmen neuer Oberbürgermeister.
Die Neubrandenburger wählten 2015 völlig überraschend den Journalisten, Satiriker und Betriebswirt Silvio Witt, Jahrgang 1978, als Oberbürgermeister ins Rathaus. Die favorisierte Linkspartei hatte das Nachsehen.
Und im Städtchen Tangerhütte in Sachsen-Anhalt wählten die Bürger schon 2014 den Kabarettisten und Musikmanager Andreas Brohm ins Rathaus. Brohm, ein Einzelkämpfer, fällt seitdem durch unkonventionelle Gedanken auf. Flüchtlinge seien für den ausgedünnten ländlichen Raum im Osten eine einmalige Chance, verkündete der 37-Jährige im vergangenen Dezember.
In Bautzen war es eine Allianz von Linkspartei, SPD und einem lokalen Bürgerbündnis, die Alexander Ahrens aus seiner privat finanzierten Elternzeit holte und ihn als Hoffnungsträger präsentierte: Ahrens, ein erfolgreicher weltgewandter Firmenjurist, der sechs Jahre in China gelebt hat, ein Familienmensch mit vier Kindern und ein unabhängiger Kopf, dazu noch links.
Sinnvolle Gedanken
„Endlich mal ein Oberbürgermeisterkandidat für Bautzen, der frei sprechen kann und auch noch sinnvolle Gedanken hat“, kommentierte ein Bautzener im Netz. Roland Fleischer, SPD-Chef von Bautzen, der jetzt mit Ahrens durch die Altstadt spaziert, ist immer noch vom Neuen angetan.
Und Fleischer blickt nach Dresden. Wäre ein linkes Bündnis nicht eine Vorlage für einen Machtwechsel in Sachsen? Wenn solche Bündnisse in den Kommunen glücken, könnten sie nicht auch endlich die ewige Staatspartei CDU aus der Regierung jagen?
Den neuen Bürgermeister hält Fleischer sowieso für einen Sozialdemokraten. Und Ahrens dementiert das auch nicht. Schließlich war er, der aus einfachen Verhältnissen kommt und in einem Westberliner Plattenbau aufwuchs, tatsächlich Mitglied der SPD. Zudem verkörpert Ahrens mit seiner Biografie das, was die SPD seit Jahrzehnten predigt: Bildungspolitik als Chance zum sozialen Aufstieg.
Doch Unfähigkeit und Arroganz der Berliner Funktionäre haben ihn aus der SPD wieder hinausgetrieben, erzählt er weiter. „Wenn die mich nicht brauchen!“ Betrübt klingt das nicht. „Du kannst ja in den Ortsverein eintreten!“ Roland Fleischer wittert seine Chance. Alexander Ahrens, der 128. Bautzener Bürgermeister seit 1238, lächelt und schweigt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Preiserhöhung bei der Deutschen Bahn
Kein Sparpreis, dafür schlechter Service
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Housing First-Bilanz in Bremen
Auch wer spuckt, darf wohnen
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen