Erben in Deutschland: 20.000 Euro für alle
Die ungleiche Verteilung von Erbschaften ist unsozial, schadet aber auch der Idee der Leistungsgerechtigkeit. Ein Staatserbe für alle wäre die Lösung.
J a, ich habe geerbt. Keine Milliarden oder Millionen, aber ausreichend, um mir eine Wohnung kaufen zu können. Auch mit meinem „kleineren“ Erbe spüre ich im Leben bereits einen großen Unterschied. Ein Erbe gibt finanzielle Sicherheit. Es spannt ein Sicherheitsnetz. Für meine Generation jedoch, die Generation Y, ist es schwierig, abseits eines Erbes Vermögen aufzubauen. Gefangen zwischen steigenden Mieten, befristeten Verträgen und Familiengründungen bleiben die allermeisten jungen Menschen finanziell stecken. Dabei werden die Vermögen bei wenigen immer größer. Nur sind diese meist leistungslos geerbt.
Dieses Missverhältnis nimmt mittlerweile groteske Züge an. In den zurückliegenden zehn Jahren ist die Höhe der durchschnittlichen Erbschaft von 72.000 auf 85.000 Euro gestiegen. Parallel dazu hat sich aber auch die Ungleichheit unter den Erben erhöht. 10 Prozent der Erben erhalten die Hälfte aller Erbschaften und Schenkungen. Die anderen 90 Prozent teilen sich die restliche Hälfte. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) schätzt die Höhe der jährlichen Schenkungen und Erbschaften auf atemberaubende 400 Milliarden Euro.
Diese Zahlen zeigen, dass wir mittlerweile eine gesellschaftliche Schieflage erreicht haben, in der wir in das System Erbschaft eingreifen müssen. Wir haben uns von der sozialen Marktwirtschaft, von der Leistungsgesellschaft und vom Aufstiegsversprechen zugleich verabschiedet. Es gibt keinen Grund, an diesem System noch länger festzuhalten – und es ist unerklärlich, warum wir nicht bereits längst eingegriffen haben. In den derzeitigen Koalitionsverhandlungen spielt das Thema offenbar keine Rolle. Mit dem FDP-Mantra, Steuererhöhungen auszuschließen, ist das Thema anscheinend abgeschlossen.
Dabei ist dieses Mantra eine intellektuelle Weigerung, nachzudenken. Das Erben in seiner jetzigen Form entfernt unsere Gesellschaft immer weiter vom liberalen Grundgedanken. Wir sind auf dem Weg in eine Gesellschaft, in der die Abstammung über die Zukunft entscheidet. Dabei ist Deutschland bereits heute eines der ungleichsten Länder Europas, in keinem anderen Land ist die Vermögensungleichheit so festbetoniert wie bei uns. Das Vererben scheint mit dem in der Verfassung festgeschriebenen Prinzip des Sozialstaats kaum noch vereinbar, vielmehr scheint es die Entwicklung zu einer Feudalgesellschaft zu fördern, die sich an das Gestrige klammert – und trotzdem wird beharrlich daran festgehalten.
ist Publizist, Vorsitzender der SPD Berlin-Mitte und Mitglied im Landesvorstand der Berliner SPD. Zu seinen Schwerpunkten gehört die Digitalpolitik. Er ist Fellow des Netzwerks Zukunftsgerechtigkeit (zukunftsgerechtigkeit.de).
Diese Entwicklung sollte eines der zentralen Themen bei den Koalitionsverhandlungen sein. Beim Thema Erben trifft die soziale auf die liberale Idee: Erben ist ein Prinzip, das dem Grundgedanken der SPD – soziale Gerechtigkeit –, aber auch der FDP – individuelle Leistung soll sich lohnen – widerspricht. Kaum ein anderes Thema eignet sich so gut, um ökonomisch den großen sozialliberalen Wurf zu versuchen. Die FDP müsste sich nur von ihrem hartnäckigen Steuermantra verabschieden.
So könnten die Parteien ein Gesellschaftserbe einführen. Junge Menschen im Alter von 21 Jahren bekommen 20.000 Euro vom Staat vererbt. Dieses Geld dürfen diese für Ausgaben in Ausbildung, Wohneigentum oder die Gründung eines Unternehmens verwenden. Zur Finanzierung der Maßnahme wird die Steuer auf große Erbschaften und Schenkungen erhöht. Mit diesem Schritt würden sich für viele junge Leute neue Chancen eröffnen. Sie erhalten in einer für sie entscheidenden Phase des Lebens finanzielle Möglichkeiten: Sie bekommen die Möglichkeit, Praktika zu absolvieren, eine Ausbildung oder ein Studium zu starten oder das Geld einfach zu investieren. Das Gesellschaftserbe würde das Leben vieler junger Menschen entscheidend verändern.
Eltern entscheiden über die Zukunft
Mein eigenes Beispiel zeigt das: In der Schule war ich ein schwacher Schüler. Mein Interesse an den meisten Schulfächern war nur bedingt ausgeprägt. Ich war zwar physisch anwesend, aber geistig woanders. Dementsprechend fiel auch mein Notendurchschnitt aus. Am Ende haben sich meine Eltern jeden Tag hingesetzt und mit mir gelernt. Ich habe zusätzlich dazu Nachhilfeunterricht erhalten. Das Abitur habe ich mit einer immerhin mittelmäßigen Note geschafft.
Ohne die familiäre Hilfe hätte mein schulischer Weg sicherlich anders ausgesehen. Mir wurden Auslandspraktika ermöglicht und auch mal Phasen, in denen man „nachdenkt“. Diese Möglichkeiten bekommen junge Leute nur mit einem gewissen finanziellen Puffer. Dieser ist oftmals entscheidend für die Zukunft. Das Gesellschaftserbe würde allen diesen Puffer geben. Das Innovative an der Idee ist, dass sie Vertrauen in Menschen hat.
Das DIW kalkuliert, dass ein solcher Schritt die Vermögensungleichheit deutlich stärker abbaut als beispielsweise die viel diskutierte Vermögensteuer. Das Gesellschaftserbe kann die Vermögen der unteren Hälfte der Bevölkerung um 60 bis 90 Prozent steigen lassen. Mit dieser Verschiebung kämen wir der gesellschaftlichen Idee der Eigenverantwortung wieder näher. Wir hätten zudem eine intergenerationelle Verschiebung von Vermögen an eine Generation, die kaum noch Wohlstand aufbauen kann. Für eine höhere Erbschaftsteuer ist zwar die Zustimmung des Bundesrats und damit parteipolitisch unterschiedlich regierter Länder nötig. Es sind hohe Hürden, aber keine unüberwindbaren für die neue Ampelkoalition.
In vielen ökonomischen Fragen liegen die zukünftigen Koalitionäre auseinander – in Fragen der Zukunftsinvestitionen oder der Höhe der Staatsausgaben. Doch das Thema Erben und das Gesellschaftserbe haben das Potenzial, zu einem sozialliberalen Leuchtturmprojekt zu werden. Es wäre die Rückkehr zu einer sozialen Leistungsgesellschaft und zu den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft.
Und es wäre eine Maßnahme, die sehr vielen jungen Menschen eine so wichtige Perspektive geben würde.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Spardiktat des Berliner Senats
Wer hat uns verraten?
Israel und Hisbollah
Waffenruhe tritt in Kraft
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich