Sie nennen es Notwehr

Schläge, Herumschleifen, Mordfantasien: Ak­ti­vis­t:in­nen erleben bei Straßenblockaden oft Gewaltexzesse. Das sagt nicht nur etwas über die einzelnen Au­to­fah­re­r:in­nen aus, sondern auch über Deutschland und die Klimakrise

Irma Trommer blockiert zusammen mit anderen Ak­ti­vis­t:in­nen eine Straße in Berlin Foto: aal.photo/imago

Aus Berlin Jannik Grimmbacher

Als der Mann mit der Faust ausholt, macht sich Irma Trommer schon auf den Schmerz gefasst. Sie kneift ihre Augen zusammen und wartet auf den Aufprall. Aber dann schlägt die Faust nicht zu. Kurz vor ihrem Gesicht bleibt sie stehen und formt eine Pistole. So bleibt ihr Besitzer dann stehen und posiert für Fotos.

Trommer ist vor knapp eineinhalb Jahren zur Letzten Generation gestoßen. Davor hatte sie sich vereinzelt politisch engagiert. Auf Usedom, wo sie lebte, waren die Angebote aber nicht gerade üppig gesät. Mit einem Umzug nach Berlin änderte sich das schlagartig. Durch Freunde wurde sie auf die Letzte Generation aufmerksam und machte mit – zunächst mit der Kamera als Fotografin, später nahm sie selbst den Sekundenkleber in die Hand und brachte damit Autos zum Stehen.

Mittlerweile ist es für Trommer Teil ihres Aktivismus, dass sie dabei Gewalt erlebt. Menschen schleifen sie über die Straße, zerren an ihrer festgeklebten Hand, schieben sie mit der Motorhaube vor sich her. Wenn die Wand an Autos und Lastwagen vor ihr anfängt zu hupen, fühlt sie sich taub in dem ganzen Lärm.

Natürlich regen sich Au­to­fah­re­r:in­nen auf, wenn sie an der Weiterfahrt gehindert werden. Gerade bei regelmäßigen Staus, wie sie während des groß angekündigten zweiwöchigen „Stadtstillstands“ der Letzten Generation in Berlin vorkamen, ist die Wut auf die Blockierenden groß. Nicht ohne Grund sehen Gerichte in vielen Fällen den Straftatbestand der Nötigung durch die Ak­ti­vis­t:in­nen erfüllt. Dennoch sind die Reaktionen auf die meist schnell beseitigten Blockaden teilweise überraschend heftig: Im Internet posten Leute öffentlich Mordfantasien. Die Provinzband „Die Dorfrocker“ aus dem fränkischen Haßberge hat ein Musikvideo produziert, in dem der Sänger vom Traktor aus Gülle auf einen Ak­ti­vis­ten spritzt. Auf der Berliner Stadtautobahn schliff ein Autofahrer zwei Aktivistinnen an den Haaren über die Fahrbahn. Manche fahren gar mit dem Auto über die festgeklebten Hände oder Füße der Blo­­ckie­re­r:in­nen. Allein in den zwei Wochen „Stadtstillstand“ leitete die Polizei 33 Verfahren gegen Personen ein, die Straftaten gegen Ak­ti­vis­t:in­nen begingen. Die Zahl der eigentlichen Fälle dürfte aber noch deutlich höher liegen. Die Blo­ckie­r:in­nen erstatten nämlich meist keine Anzeige.

Ob den Protestierenden schon immer so viel Gewalt begegnet sei? Nein, sagt Irma Trommer. Sie erinnert sich, wie sie mit anderen der Gruppe im letzten Sommer ein Video angeschaut habe, in dem eine Person von einem Auto durch die Menge geschoben wird. „Dass ein Auto einfach nicht anhält, wenn da ein Menschenleben vor ihm steht, das war irgendwie unvorstellbar“, erzählt sie. „Aber seitdem passiert das ständig.“

Dass die Gewalt gegenüber der Letzten Generation zunimmt, beobachtet auch der Soziologe Simon Teune vom Institut für Protest- und Bewegungsforschung. „Wenn jemand sich darüber aufregt, dass er oder sie wegen einer Blockade nicht rechtzeitig zu einem Termin kommt, dann ist das in diesem Fall kein individuelles Phänomen, sondern das findet in einem Rahmen statt, in dem diese Proteste kollektiv bewertet werden und auch der Umgang damit kollektiv festgelegt wird“, so der Wissenschaftler. Der Diskurs normalisiere Hass und Gewalt. Somit werde eine moralische Grundlage für Übergriffe gegen Ak­ti­vis­t:in­nen geschaffen und Gewalt als Antwort auf politische Konflikte enttabuisiert, folgert Bewegungsforscher Teune. Der Onlinekommentar à la „Fahr einfach drüber!“, die mediale Debatte darüber, ob Gewalt gegenüber Ak­ti­vis­t:in­nen nicht eigentlich Notwehr gegen deren Nötigung sei, und die Beschwörung einer vermeintlichen „Klima-RAF“ – die allgemeine Stimmung beeinflusst, wie sich Menschen verhalten, wenn sie dann tatsächlich mal auf einen Klimakleber treffen.

Wie kommt es, dass sich so viele Menschen von den Aktionen der Letzten Generation angegriffen fühlen? Simon Teune hat eine Antwort: „Es gibt einen grundsätzlichen Konflikt in der Gesellschaft.“ Einerseits wisse man sehr gut Bescheid über die Klimakrise und deren Folgen und auch darüber, wie wir mit unserem Alltag dazu beitragen. Andererseits gehe der nach wie vor so weiter, als wäre nichts gewesen.

Die Letzte Generation macht die Mitschuld jedes Einzelnen an der Klimakrise sichtbar

Mit ihren Blockaden stelle sich die Letzte Generation dieser Gleichgültigkeit entgegen und mache den Konflikt sichtbar. „Die Letzte Generation zeigt, dass es den Leuten wichtiger ist, mit dem Auto pünktlich zur Arbeit zu kommen, als sich damit auseinanderzusetzen, dass die Welt, in der sie arbeiten, bald grundsätzlich anders sein wird“, erklärt Teune.

Auch wenn sich die Letzte Generation stets bemüht zu kommunizieren, dass sie mit ihren Aktionen eigentlich die Bundesregierung adressiert und nicht die einzelnen vom Stau Betroffenen: Der Öffentlichkeit wird so auch die eigene Mitschuld an der Klimakrise vor Augen geführt. Auto fahren, Flugzeug fliegen, Gas verheizen, Mode und Elektronik shoppen – das tun eben fast alle.

Irma Trommer wird weiter Straßen fürs Klima blockieren, sagt sie. Trotz der Gewalt, die sie fast mit Sicherheit wieder erleben wird. Immerhin: Die Wut, die daraus spricht, ist das Ende der Gleichgültigkeit.