10 Jahre „Wir schaffen das“: „Offene Grenzen sind sehr wohl realisierbar“
Die globale Bewegungsfreiheit sei keine Spinnerei, sagt Polit-Ökonom Fabian Georgi. Die Linke sollte an ihr festhalten.
taz: Herr Georgi, praktisch alle reichen Staaten schotten sich zunehmend ab. Sie haben ein Buch über die Utopie der globalen Bewegungsfreiheit geschrieben. Ist die Vorstellung weltweit offener Grenzen nicht naiv?
Fabian Georgi: Wenn ich fordere, dass jeder Mensch seine eigene Raumstation bekommt, dann ist das eine Spinnerei. Das geht mit den Mitteln, die wir aktuell haben, einfach nicht. Aber wenn ich sage: Kein Mensch soll hungern oder die Menschen sollen sich frei bewegen können, dann ist das sehr wohl realisierbar. Außerdem ist die Welt heute wirtschaftlich, ökologisch, sozial, kommunikativ so eng vernetzt, dass wir die menschlichen Freiheiten ebenfalls global denken müssen.
Wie könnte eine Politik aussehen, die auf Ankommen statt Abschotten setzt? Was können wir lernen aus 2015? Und wo sind die Orte, an denen der restriktiven Politik von oben eine solidarische Politik von unten entgegengesetzt wird? Diesen Fragen haben wir über das im Jahr 2025 fünf Sonderausgaben zu Flucht und Migration gewidmet.
Mit der wochentaz vom 20. Dezember findet das Projekt seinen Abschluss. Es ist keine besinnliche Zeitung geworden – aber eine, die sich um ein Thema dreht, das zu Weihnachten einen besonderen Klang bekommt. Wir beschäftigen uns mit der Frage, was „Zuhause“ eigentlich ist, was es braucht, um sich an einem Ort zu Hause zu fühlen – und wie die Hoffnung darauf oft zerstört wird.
Alle Texte aus dieser Sonderausgaben erscheinen nach und nach hier. In dem Online-Schwerpunkt finden Sie auch die Texte aus den vier vorherigen Sonderausgaben.
taz: Wäre es nicht einfacher dafür zu kämpfen, dass es überall einigermaßen lebenswert ist?
Georgi: Bewegungsfreiheit und Bleibefreiheit lassen sich nicht voneinander trennen. Das ist gewissermaßen eine philosophische Frage: Man kann in der Entscheidung zu bleiben nur frei sein, wenn man auch gehen könnte. Und umgekehrt. Außerdem glaube ich auch nicht, dass es wirklich einfacher ist, weltweit alle Fluchtursachen zu beseitigen, anstatt Infrastrukturen für die menschenwürdige Aufnahme von Geflüchteten zu schaffen, also etwa genug Wohnungen und Kita-Plätze.
taz: Wie sollen wir das bezahlen, wenn alle kommen dürfen?
Georgi: Mir geht es gerade darum, dass eine Öffnung von Grenzen unter den gegenwärtigen, neoliberalen und zunehmend autoritären Bedingungen kaum durchsetzbar wäre. Wir brauchen auch eine klimapolitische, soziale und wirtschaftliche Transformation. Dafür müssten ohnehin große Ressourcen mobilisiert werden. Einerseits um die Gesellschaft ökologisch umzubauen, andererseits um soziale Infrastrukturen für alle zu schaffen, egal ob die Menschen schon länger hier leben oder gerade erst ankommen.
Empfohlener externer Inhalt
taz: Was haben Wirtschaft und Klima mit Migration zu tun?
Georgi: Wir befinden uns in einer Situation massiver globaler Ungleichheit, die durch den globalisierten Kapitalismus hervorgebracht wird. In den industrialisierten Ländern bedeutet das Wohlstand und Privilegien für einige. In den Ländern des Südens sind es Unterentwicklung, Armut und Umweltkatastrophen. Diese krisenhafte Ungleichheit wird autoritär gemanagt durch die Grenzregime. Sie ermöglichen die Aufrechterhaltung dieses Zustands. Man kann im Globalen Norden die Gewinne der imperialen Produktionsweise abgreifen und ihre Kosten ignorieren, weil sie auf den Globalen Süden abgewälzt und die Folgen durch das Grenzregime von uns ferngehalten werden.
taz: Sind es nicht vor allem Kriege und politische Verfolgung, derentwegen so viele Menschen fliehen?
Georgi: Gewaltsame Konflikte, Bürgerkriege und zwischenstaatliche Konflikte, vor denen Menschen fliehen, lassen sich ohne ihren politisch-ökonomischen Hintergrund nicht verstehen. Viele Kriege sind durch die Widersprüche der Weltwirtschaft, durch ökonomische Verteilungskämpfe auf regionaler und globaler Ebene bestimmt. Zunehmend wichtig sind auch die Folgen der Klimakrise, die im Kern ebenfalls ökonomische Ursachen hat. Hier geht es etwa um Konflikte um Wasser, Land und andere Ressourcen.
taz: Es gibt ja durchaus Arbeitsmigration aus dem Globalen Süden in die reichen Länder …
Georgi: Die Externalisierung geschieht nicht nur nach außen, sondern auch nach unten. Wer für den Arbeitsmarkt brauchbar ist, darf teils einreisen, landet aber in vielen Fällen weit unten im System. Oft bekommen die Leute nur Arbeitserlaubnisse für bestimmte Jobs, teils haben sie aufgrund von Diskriminierung keine andere Wahl. In Südeuropa sehen wir das in der Landwirtschaft, in Deutschland betrifft es etwa die Fleischindustrie oder die Lieferdienste.
taz: Es werden also einerseits Leute aktiv daran gehindert, aus den armen Ländern in die reichen zu kommen und andererseits eine bestimmte Zahl von ihnen doch hereingelassen, wenn es wirtschaftlichen Interessen dient?
Zehn Jahre Flüchtlingssommer 2015: Die großen Fragen von damals sind die großen Fragen von heute – ganz egal, ob es um Grenzkontrollen, Integration oder die AfD geht. Die taz sucht in einem Sonderprojekt Antworten.
Georgi: Beides ist Teil des globalen kapitalistischen Systems. Nehmen Sie das Lohngefälle zwischen Nord und Süd. Es ermöglicht, dass Konzerne billig im Süden produzieren und teuer im Norden verkaufen können. Ohne Einschränkung der Bewegungsfreiheit derjenigen am unteren Ende ginge das nicht. Ein Flugticket ist schließlich heute sehr billig. Wenn die Löhne in Berlin und Brandenburg so unterschiedlich wären wie zwischen Deutschland und Vietnam, dann würden sich das ohne ein Grenzregime zwischen Berlin und Brandenburg auch nicht ohne Weiteres aufrechterhalten lassen.
taz: Welche Rolle spielen Nationalismus und Rassismus bei der Abschottungspolitik?
Georgi: Die Frage ist: Warum bekommen rassistische und nationalistische Akteure heute so viel Zustimmung? Ich glaube nicht, dass man das verstehen kann, ohne den Kapitalismus und seine Krisen zu berücksichtigen. Wenn Menschen, die hier leben, wirklich soziale Sicherheit empfinden würden, wenn sie nicht berechtigte Angst haben müssten vor steigenden Mieten und Wohnungslosigkeit und Arbeitslosigkeit und Altersarmut und Pflegenotstand – dann wären sie wahrscheinlich eher bereit, Solidarität zu üben mit Menschen, die dazukommen.
taz: Die Überwindung des Kapitalismus wäre dann die Bedingung für ihre Utopie der globalen Bewegungsfreiheit?
Georgi: Ernsthafte Schritte hin zu offeneren Grenzen werden sich nur erreichen lassen, wenn wir die derzeitige Form des Kapitalismus überwinden. So eine sozialökonomische Transformation brauchen wir aber auch noch aus ganz anderen Gründen. Im Kern geht es ja darum, die Erde überhaupt bewohnbar zu halten. Es wird auch nicht gelingen, den Globalen Norden ökologisch und sozial gerecht zu transformieren und gleichzeitig die globale Ungleichheit und das brutale Grenzregime unangetastet zu lassen.
taz: Und wie kommen wir da hin?
Georgi: Ein Anfang wäre es, konkrete Alternativen hier und jetzt aufzubauen, Keimformen in den Nischen der Gesellschaft. Wir brauchen Wohnprojekte, Initiativen für die Vergesellschaftung von Immobilienkonzernen und praktische Solidarität mit den Menschen, die hier gerade ankommen oder noch auf dem Weg sind. Der nächste Schritt wäre es, innerhalb der Institutionen des Staates und des öffentlichen Systems zu wirken. Dabei geht es nicht nur um die direkte Liberalisierung der Migrationsgesetze, etwa in Form eines Asylsystems, das seinen Namen verdient. Die Bedürfnisse von neu Eingereisten sind im Kern die gleichen wie die derjenigen, die schon länger hier sind. Es geht immer um Wohnungen, um Gesundheitsversorgung, um Bildung, öffentlichen Nahverkehr und Sicherheit. Und drittens brauchen wir eine Politik der Brüche, der massiven Mobilisierung, wie etwa während der Black-Lifes-Matter-Proteste oder während eines Generalstreiks.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
taz: Es deutet wenig darauf hin, dass die deutsche Politik bald das Asylrecht liberalisiert – ganz zu schweigen von einem Generalstreik für die Rechte Geflüchteter.
Georgi: Viele progressive Leute fühlen sich gerade ohnmächtig. Die Zeiten sind düster. Aber man darf sich diesem Pessimismus nicht ergeben. Ernst Bloch sprach von einem Optimismus mit Trauerflor. Man ist traurig, ja geschockt über die Welt, die Brutalität und das Leiden. Aber gerade deshalb erhält man sich einen militanten Optimismus. Wir müssen die emanzipatorische Arbeit weiterführen. Irgendwann wird sich auch dadurch der große soziohistorische Kontext wieder verschieben, und es werden sich neue Gelegenheiten bieten.
taz: Klingt nach linker Revolutionsromantik, weniger nach konkreter Politik.
Georgi: Nehmen Sie den Feminismus. Dessen Ziel ist die vollständige Abschaffung von Patriarchat und Sexismus. Aber in der Praxis führen Feminist*innen zunächst eine Vielzahl kleinerer Einzelkämpfe, die sich um ganz konkrete Fragen drehen, etwa der nach gleicher Bezahlung im Job. Die Frage ist: Wie kommen wir Schritt für Schritt voran?
taz: Mal angenommen, wir kommen unerwartet weit: Müssen wir uns die Welt der Bewegungsfreiheit als eine Art globaler EU samt Schengenraum vorstellen?
Georgi: Der Schengenraum zeigt gut, warum es nicht reichen würde, einfach nur die Grenzen zu öffnen, aber andere politische und soziale Systeme unangetastet zu lassen. Nachdem anfänglich soziale Rechte für alle EU-Bürger:innen festgeschrieben waren, wurde das seit den Nullerjahren zurückgedreht. Ohne schnellen Zugang zu Sozialleistungen überall sind arme Menschen aber ausgeschlossen. Es gibt Bewegungsfreiheit, aber sie ist eben für Leute, die Geld haben.
taz: Wie sieht ihre Utopie denn dann aus?
Georgi: Ich kann das nicht in jedem Detail ausmalen, dafür müsste ich die gesamte politische Ökonomie dieser neuen Welt kennen. Zunächst geht es aber ohnehin eher erst mal um eine Welt, in der Grenzen noch existieren, aber für alle prinzipiell offenstehen. Und in der die neu ankommenden Menschen die gleichen Rechte haben wie die, die länger da sind.
Gemeinsam für freie Presse
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Alle Artikel stellen wir frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade in diesen Zeiten müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass kritischer, unabhängiger Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!