Debatte über „Winnetou“: Aus der Zeit gefallen

Auch im Streit über „Winnetou“ gilt: Es gibt kein Recht auf rassistischen Schrott. Aber wichtiger als Verbannungen sind Kompetenzen im Umgang damit.

Viele alte Karl-May-Bücher

Karl-May-Bände, klassische Ausgabe Foto: Wolfgang Maria Weber/imago

Nun hat es also auch den alten May erwischt. Nachdem der Ravensburger Verlag vergangene Woche seinen Winnetou-Abklatsch zu einem aktuellen Film zurückzog, brennt das Lagerfeuer der Aufklärung plötzlich lichterloh: Darf man noch Karl-May-Festspiele abhalten? Mays Werke verkaufen? Muss Winnetou ein zweites Mal sterben, diesmal endgültig?

Das weiße rassistische Denken in Deutschland entdeckt plötzlich seine Liebe zum Blutsbruder; die Karl-May-Gesellschaft verfasst eine tausendfach unterzeichnete Petition für einen differenzierten Umgang, der im Wesentlichen „Weiter so“ heißt. Es ist ein Paradebeispiel dafür, wie schlecht Cancel-Debatten oft laufen. In einer Welt, in der ein gehöriger Teil von Kunst Sexismus, Klassismus oder Rassismus enthält: Wie viel ist zu viel? Wie geht man sinnvoll mit rassistischer Kunst um? Es ist überfällig, das klüger zu diskutieren.

Viel zu viel kreist um Canceln oder Nicht-Canceln, also die Konsequenzen, dabei hat sich die Gesellschaft noch gar nicht verständigt, was eigentlich das Problem ist – jenseits von plakativen Vorwürfen wie „kulturelle Aneignung“, die selbst hochproblematisch sind. Mays Werke des 19. Jahrhunderts, die Filme der sechziger Jahre, die vielen Remakes bis hin zur homophoben Satire „Schuh des Manitu“; 150 Jahre Stoff ist nicht ein Werk. Was ist also an den May-Büchern das Problem?

Kurz: Sie sind dermaßen rassistisch, deutschtümelnd und frauenfeindlich, dass man nur hoffen kann, Sigmar Gabriel weiß gar nicht, was drinsteht: Die „naturnah“ dargestellten, geistig meist limitierten „Indianer“; der seiner „Rasse“ überlegene Winnetou, der als „roter Weißer“ die Romantisierung erst möglich macht; der N* namens Bob, der Babysprache spricht, treu den Weißen dient und als Trottel herhalten muss. Ist das zumutbar?

Die deutlich entschärften Filme der sechziger Jahre haben das Kolonialverbrechen dann individualisiert: Gute Weiße und gute weiße Soldaten helfen den „Indianern“ in einer irren rassistischen Verdrehung gegen einzelne, meist Latino-Bösewichte. Die jetzt getilgten Kommerz-Kinderbücher sind vermutlich der harmloseste Winnetou, den es je gab. Winnetous Evolution ist auch ein Abbild der Fortschritte im Antirassismusdiskurs. Und rassistischer Konstanten. Die deutsche Gesellschaft stellt gerade fest, dass sie all das nicht umstandslos in die historische Tonne kloppen kann. Vorher muss sie aufarbeiten.

Karl Mays Winnetou – eine Selbsttherapie für ein Volk von Ras­sis­t:in­nen und Mör­de­r:in­nen

Auch das läuft völlig wirr. Ravensburg entschuldigt sich dafür, dass „wir die Gefühle anderer verletzt haben“. Das ist Teil des großen, oft absichtlichen Missverständnisses um „Cancel Culture“. Kunst verletzt zwangsläufig und zum Glück Gefühle. Das Problem an rassistischen Werken sind nicht Befindlichkeiten, sondern es ist ihr Rassismus. Es wäre allerdings infantil, den größten Teil von 2.000 Jahren Kulturgeschichte zu schreddern (was freilich bisher auch niemand verlangt hat).

Es geht um die Überwindung von Verhältnissen, nicht ums Vernichten ihrer historischen Abbildung. Gleichzeitig ist es ebenso naiv, Kunst für ein totes, unveränderliches Stück Holz zu halten. Charles Dickens schrieb Oliver Twist um, nachdem ein jüdischer Kritiker ihm den Antisemitismus aufzeigte. Disney hat sein ultrarassistisches Musical „Song of the South“ (1946) nach Protesten nie auf US-Video veröffentlicht. Erfolgreiche Cancel Culture schon damals. Es gibt kein Recht auf rassistischen Schrott, nur weil er Kunst heißt. Und natürlich kann man sich bei den originalen May-Werken mit guten Gründen entscheiden, sie nicht mehr kommerziell zu vertreiben.

Zugleich lohnt es, zu erinnern: Weltbilder bilden sich komplex aus, einzelne Filme oder Bücher werden in ihrem Effekt eher überbewertet. Denn die Winnetou-Debatte ist ja auch eine Scheindebatte. Die Öffentlichkeit diskutiert verbissen über Werke, die ohnehin fast keiner mehr kauft, Gegenwartskultur fällt dagegen meist sträflich unter den Tisch. Alles, was die heutigen jungen Erwachsenen und Kinder formt(e) – von rassistischen Disney-Filmen der neunziger Jahre wie „Pocahontas“ und „Aladdin“ über sexistische Welterfolge wie „Die Eiskönigin“ bis hin zur Frage, wer eigentlich weiterhin Geschichten erzählt (wohlhabende US-Bürger:innen) –, wird kaum debattiert.

Keine kritische Analyse in den Schulen

Wir leben in einer unterdrückenden Kultur. Und Kulturschaffende werden nicht zu all ihren Werken die kritische Einführung freundlich mitliefern. Wo sind aber die Dokus, die Menschen zu ihren Hel­d:in­nen kritisch bilden? Wo ist Rassismus-, Sexismus- oder klassenkritische Film- und Buchanalyse in der Schule? Und zwar zu dem, was Kinder wirklich konsumieren, nicht zu den gelben Reclam-Heftchen.

Verbannungen von Werken werden mit guten Gründen die Ausnahme bleiben. Kritische Kompetenzen wären aber auch in der aktuellen „Indianer“-Debatte bitter nötig: Die „Indianer“-Liebe der Deutschen gehört aufgearbeitet und verstanden. Die Kulturwissenschaftlerin Katrin Sieg etwa vertritt die These, dass sich die Nachkriegsdeutschen nicht umsonst in eine Gruppe hineinträumten, die Opfer eines Genozids wurde – um sich nach dem Holocaust von Schuld freizusprechen.

Andere Interpretationen gehen so weit, Winnetou als Jesus-Figur zu lesen: ein edler, zölibatärer, langhaariger Erlöser mit Friedensgruß, der Opfer der Weißen wird und sie zugleich von ihren Sünden freispricht. Eine Selbsttherapie für ein Volk von Ras­sis­t:in­nen und Mörder:innen. Und ein Empathieversuch.

Mutmaßlich ist der Karl-May-Stoff aus der Zeit gefallen. Vielleicht lässt er sich aber auch wieder einmal ganz neu denken. Ein postkolonialer Winnetou, der um seine rassistische Geschichte weiß und sie subversiv unterläuft; nicht als infantile Parodie, sondern als das homoerotische Heimatmärchen, das er vielleicht ist, und bei dem es immer um Deutsche ging und nie um „Indianer“. Diesen Mut zur radikalen Selbstkritik und zur Entwicklung hätte er verdient. Für die Tonne ist Material dann, wenn es sich dieser Entwicklung verweigert.

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Jahrgang 1991, studierte Journalismus und Geschichte in Dortmund, Bochum, Sankt Petersburg. Schreibt für die taz seit 2015 vor allem über politische und gesellschaftliche Sportthemen zum Beispiel im Fußball und übers Reisen. 2018 erschien ihr Buch "Wir sind der Verein" über fangeführte Fußballklubs in Europa. Erzählt von Reisebegegnungen auch auf www.nosunsets.de

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