Sahra Wagenknecht über Russland: „Ich traue Putin nicht“
Sahra Wagenknecht lehnt Waffenlieferungen des Westens an die Ukraine ab und fordert Verhandlungen mit dem russischen Präsidenten.
wochentaz: Frau Wagenknecht, soll der Westen der Ukraine keine Waffen mehr liefern?
Sahra Wagenknecht: Seit zwei Jahren wird uns erzählt, die nächste Waffengattung sei der Gamechanger. In Wahrheit geht nur das Sterben weiter. Die Ukraine steht jetzt massiv unter Druck, weil ihr die einsatzfähigen Soldaten ausgehen. Der Westen sollte Russland anbieten, keine Waffen mehr zu liefern, wenn Russland dafür zu einem Waffenstillstand und Friedensverhandlungen bereit ist. Das setzt allerdings voraus, dass auch die Ukraine dazu bereit wäre.
Jahrgang 1969, sitzt seit 2009 im Bundestag. Vergangenes Jahr trat sie aus der Linkspartei aus und gründete das Bündnis Sahra Wagenknecht.
Wie können Sie ausschließen, dass Putin diese Zeit nicht zur Aufrüstung nutzt, um die Ukraine endgültig zu unterwerfen?
Die Frage ist: Was will Russland? Viel spricht dafür, dass Russland mit diesem Krieg vor allem einen absehbaren Nato-Beitritt der Ukraine, inklusive amerikanischer Militärstützpunkte und Raketenbasen, verhindern wollte. Die Russen wären bei den Verhandlungen in Istanbul im März 2022 dazu bereit gewesen, sich auf die Linien des 24. Februar 2022 zurückzuziehen. Das hat auch der ukrainische Vertreter bestätigt. Das könnte der anzustrebende Kompromiss sein: Neutralität gegen ein Ende dieses Krieges.
In Istanbul gab es kein verbindliches Angebot Russlands.
Am Ende wurden die Verhandlungen leider von der Ukraine abgebrochen …
… wegen des russischen Massakers in Butscha …
… das ist die ukrainische Version. Kriegsverbrechen, wie grauenhaft sie immer sein mögen, sind doch kein Grund, das Bemühen um ein Ende des Krieges aufzugeben. Der Abbruch der Verhandlungen war auf jeden Fall ein Fehler. Die Möglichkeit, sich zu einigen, war damals größer als heute. Ob Russland heute noch bereit wäre, sich auf die Vorkriegslinie zurückzuziehen, ist fraglich. Die Waffenlieferungen des Westens haben nicht zur Lösung des Konflikts beigetragen.
Hätte der Westen keine Waffen geliefert, gäbe es die Ukraine jetzt nicht mehr.
Das ist Ihre These. Im Frühjahr 2022 gab es eine Chance, den Krieg zu beenden, wenn man kompromissbereit gewesen wäre. Die Waffenlieferungen haben erst viel später eingesetzt.
In Ihrem Bild fehlt, dass es einen aggressiven russischen Imperialismus gibt. Warum?
Es ist verbrecherisch, einen Krieg zu beginnen. Ich verurteile das zutiefst. Selbst wenn es russische Sicherheitsinteressen gibt, die der Westen besser beachtet hätte, ist das keine Rechtfertigung. Aber historische Wahrheit ist auch: Die Nato hat sich nach Osten ausgedehnt, nicht Russland gen Westen. Viele westliche Experten – auch der CIA-Direktor William Burns – haben darauf hingewiesen, dass eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine für Russland eine knallrote Linie war. Man hat es darauf ankommen lassen. Putin ist ein autokratischer Machthaber. Ich habe keine Sympathie für ihn. Aber wir müssen versuchen, auch mit solchen Regimen Konflikte friedlich beizulegen. Ganz besonders, wenn es sich um eine Atommacht handelt.
Putin sagt selbst, dass Russlands Interessen nicht in der Ukraine enden. Warum nehmen Sie ihn nicht beim Wort?
Das tue ich. In dem Interview mit Tucker Carlson hat er betont, dass die Ausdehnung der amerikanischen Einflusszone für ihn das zentrale Problem ist. Es gab auch im Westen in den 90er-Jahren Warnungen, dass eine Nato-Osterweiterung die militaristischen, nationalistischen, regressiven Kräfte in Russland stärken wird. Genau das ist passiert. Wir haben die große Chance nach dem Ende des Kalten Krieges nicht genutzt und nicht versucht, mit Russland gemeinsam eine europäische Friedensordnung zu gestalten. Russland hat sich an den Rand gedrängt gefühlt. Jetzt haben wir das Ergebnis.
Putin droht dem Westen offen den Einsatz von Atomwaffen an und lässt politische Gegner ermorden. Warum trauen Sie diesem Mann?
Ich traue ihm nicht. Die USA haben den Taliban auch nicht getraut, und trotzdem am Ende mit ihnen verhandelt. Es geht um Interessen, nicht um Vertrauen. Wer Verhandlungen fordert, wird immer als naiv bezeichnet. Aber jene, die für Waffenlieferungen plädieren, haben keine Antwort darauf, wie der Krieg beendet werden soll. Wir sollten, wie der Papst und viele Länder des globalen Südens fordern, versuchen, beide Seiten an den Verhandlungstisch zu bekommen. Dort muss es Sicherheitsgarantien für die Ukraine geben.
In Osteuropa fürchten viele, dass die Ukraine nur der erste Dominostein war. Woher wissen Sie, dass Russland nicht weitere Länder angreift?
Die russische Armee war nicht in der Lage, Kiew einzunehmen. Dass diese Armee demnächst Polen überfällt und dann in Berlin einmarschiert, halte ich für abwegig.
Sie haben auch den Überfall auf die Ukraine für abwegig gehalten.
Das stimmt nicht. Ich habe damals bei Anne Will gesagt, dass die Russen eine mögliche Nato-Mitgliedschaft im schlimmsten Fall militärisch verhindern werden. Ich habe nur nicht gedacht, dass das direkt bevorsteht.
Über eine Million Menschen sind vor dem Krieg aus der Ukraine nach Deutschland geflohen. Sollen die hier bleiben dürfen?
Solange die Menschen dort in Lebensgefahr sind, ja. Es sind auch 600.000 junge Männer aus der Ukraine in die EU geflohen, damit sie nicht eingezogen werden, rund ein Drittel davon nach Deutschland. Natürlich dürfen wir sie nicht zurückschicken, solange dort der Krieg tobt. Wir würden sie ja möglicherweise in den Tod schicken.
Und wenn der Krieg vorbei ist?
Wenn die Waffen schweigen, sollten die Menschen selbstverständlich zurückgehen. Die Ukraine braucht sie, wenn das Land wieder aufgebaut werden soll.
Wir können sie auch gut gebrauchen. Experten schätzen, dass die deutsche Wirtschaft jährlich bis zu 500.000 Einwanderer braucht. Besonders der Mittelstand leidet unter dem Fachkräftemangel.
Wir müssen erst einmal den jungen Menschen hier eine Chance geben. Noch nie haben so viele die Schule ohne Abschluss verlassen oder keine Ausbildung erhalten. Aber ausgerechnet da wird gekürzt. Wir sollten den Numerus Clausus für das Medizinstudium senken, damit mehr junge Leute Medizin studieren können. Und wir müssen mehr junge Menschen dafür gewinnen, naturwissenschaftlich-technische Studiengänge zu belegen. Auch junge Frauen sind da unterrepräsentiert. Das wäre besser, als die halbe Welt zu uns zu holen.
Das wird wegen der demografischen Entwicklung nicht reichen.
Und deshalb sollen wir ärmeren Ländern ihre Fachkräfte abwerben? Inzwischen haben wir ja viele Ärzte aus Syrien oder aus afrikanischen Ländern. Dass wir als reiches Land unsere Spezialisten von armen Ländern ausbilden lassen und dann noch so tun, als sei das eine humanitäre Geste, wie zynisch ist das denn? Und zum viel beschworenen demografischen Problem: Zurzeit haben wir noch keines. Wir haben in Deutschland aktuell mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigte als je zuvor.
Auch wegen der Zuwanderung.
Ja, vor allem die Arbeitsmigration in der EU zahlt hier ein. Aber immer mehr gehen auch weg. Es gibt im Saarland viele Pflegekräfte, die in Luxemburg arbeiten, weil man da viel besser verdient als in Deutschland. Die Frage ist: Holen wir Pflegekräfte von den Philippinen, um sie hier zu sehr schlechten Löhnen zu beschäftigen? Oder verbessern wir die Bedingungen, damit mehr Leute hierzulande diesen Beruf machen möchten? Letzteres halte ich für besser.
Sie meinen, wir brauchen keine Zuwanderung?
In einer offenen Gesellschaft gibt es immer Zu- und Abwanderung. Es geht um die Größenordnung und die Frage, ob Integration gelingt. Wir haben zurzeit eine Situation der Überforderung. Es fehlen Kitaplätze, es fehlen Lehrer, es fehlen Wohnungen. Solange wir es nicht mal schaffen, für die Menschen, die jetzt da sind, eine ausreichende Infrastruktur zu gewährleisten, kann man nicht ernsthaft sagen, wir nehmen immer noch mehr Menschen auf.
Sie setzen auf Abschottung.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Unser Asylrecht ist dysfunktional. Jeder, der es irgendwie nach Europa schafft, kann faktisch bleiben, egal ob er schutzbedürftig ist oder nicht. Wer sich die Schleuser nicht leisten kann oder zu schwach für die gefährliche Route ist, hat keine Chance auf Schutz. Ich bin für faire Asylverfahren in Drittstaaten oder an den EU-Außengrenzen, und für Kontingentlösungen, mit denen man Menschen direkt aus Flüchtlingslagern aufnimmt. Erst dann gibt es nicht mehr diesen Sog, der das Milliardengeschäft der Schleuser am Laufen hält.
Sie fordern: Geflüchtete, die keinen Schutzstatus haben, sollen auch keine Sozialleistungen erhalten. Sollen die Menschen verhungern?
Wer aus Polen nach Deutschland kommt, hat auch keinen Anspruch auf Bürgergeld. Mit welcher Begründung sollen abgelehnte Asylbewerber Sozialleistungen beziehen?
Die Ampel hat die Asylpolitik verschärft, mehr Abschiebungen angekündigt, Grenzkontrollen und eine Bezahlkarte für Flüchtlinge eingeführt. Reicht Ihnen das nicht?
Man kann nicht 100.000 Leute abschieben, das ist völlig absurd. Deshalb muss man die Anreize reduzieren. Wir können nicht die Armut der Welt durch Migration bekämpfen.
Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer sieht mit Blick auf Russland manches ähnlich wie Sie. Ist in Sachsen eine Koalition mit der CDU möglich?
In der einen Frage stimmen wir überein, in vielen anderen Fragen nicht. Wir wollen möglichst stark in die Landtage im Osten einziehen und werden dann mit vielen Parteien Gespräche führen.
Schließen Sie Koalitionen mit der AfD aus?
Selbstverständlich.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen