Erregung über Flug des Grünen-Chefs: Darf Robert Habeck fliegen?
Selbsternannte Anstandspolizisten werfen prominenten Grünen ihre Dienst- und Urlaubsreisen vor. Ein Plädoyer für mehr Gelassenheit.
Es ist noch gar nicht lange her, da warfen Liberalkonservative den Grünen gerne vor, anderen ihre Gesinnung aufdrücken zu wollen. Der harmlose Vorschlag der Ökopartei, einen fleischfreien Tag in Kantinen einzuführen, wurde in der Bundestagswahl 2013 zu einer groß angelegten Verbotsattacke auf fleischliebende Deutsche aufgeblasen.
Die Zeiten ändern sich. Die Grünen – aus Schaden klug geworden – vermeiden heute alles, was nach Veggieday aussehen könnte. Sie betonen, den politischen Rahmen ändern und nicht das Individuum gängeln zu wollen. Grünen-Chef Robert Habeck erzählt bei passender Gelegenheit gerne, auch mal Dosenbier zu trinken, um seine habituelle Aufgeschlossenheit zu demonstrieren. Aber moralische Empörung ist wieder in Mode, und zwar ausgerechnet bei jenen, die angeblich für eine liberale Gesellschaft streiten. Der überbordende Moralismus hat die Seiten gewechselt.
Der rechtskonservative Blogger Don Alphonso wütet auf Twitter gegen prominente Grüne, die es wagen, zu fliegen. Jamila Schäfer, der stellvertretenden Bundesvorsitzenden, wird ihr Skiurlaub in Lillehammer vorgehalten, der bayerischen Fraktionsvorsitzenden Katharina Schulze ein Aufenthalt in Kalifornien, bei dem sie ein Eis isst (mit Plastiklöffel!!1!). Grünen-Chef Robert Habeck wiederum wird von einem übereifrigen Twitterer am Flughafen Hamburg abgelichtet. Erwischt! Die Liste ließe sich problemlos verlängern.
Diese verlogene Bande, so der Subtext, predigt Klimaschutz, bläst aber selbst tonnenweise CO2 in die Luft. Solcher Populismus zielt direkt ins limbische System, ins dumpfe Gefühl. Der Einwand der Grünen-Pressestelle, dass SpitzenpolitikerInnen ihre Wege prioritär mit dem Zug erledigen und dass ihr Terminkalender manchmal den Flug leider nötig macht, entspricht der Realität – entkräftet aber nicht die Wucht der Unterstellung. Ein „Ad hominem“-Argument, also eines, das nicht auf die Sache zielt, sondern auf die Person, triggert billige Reflexe. Ha, haben wir es nicht schon immer gewusst?
Nach oben offene Irrsinnsskala
Dabei ist allen klar, dass eine Flugabstinenz ökologisch orientierter PolitikerInnen Unfug ist. Jedenfalls sofern man nicht im gleichen Atemzug fordert, sie mögen mit dem Tretboot zur nächsten Weltklimakonferenz anreisen. Konsequente Moralapostel werden nie arbeitslos, auf der nach oben offenen Irrsinnsskala sind viele Fragen offen: Dürfen Grüne eigentlich Auto fahren, Schnitzel essen, Bild lesen, die Heizung aufdrehen, die Haare föhnen? Trocknet doch auch so.
Ich meine: Von PolitikerInnen die 100-prozentige Übereinstimmung von persönlichem Lebensstil und Parteiprogramm zu verlangen ist unmenschlich. Winfried Kretschmann argumentiert an dieser Stelle gerne mit Hannah Arendt, die gesagt habe, Argumente ad hominem zerstörten jede politische Debatte. „Die Menschen wollen Heilige, deshalb werden sie enttäuscht“, sagt Kretschmann. Und: In der Demokratie könnten die Gewählten nicht besser sein als die, die sie wählen. Er hat recht.
Winfried Kretschmann
Ich wäre deshalb für mehr Gelassenheit. Entgegnet in der Sache, zielt nicht auf die Person oder das Private. Von mir aus darf Katharina Schulze in Kalifornien Eis essen, Jamila Schäfer in Lillehammer Ski fahren und Habeck nach Hamburg fliegen – solange sie eine Ordnungspolitik vertreten, die Fliegen endlich teurer macht. Das Plädoyer für eine Kerosinbesteuerung wird nicht falscher dadurch, dass es von einer Politikerin vorgetragen wird, die die Westküste mag. Und das, was Greta Thunberg sagt, bleibt bedenkenswert, auch wenn sie Toastbrot aus einer Plastikverpackung isst.
Mehr Gelassenheit, das gilt übrigens für beide Seiten des politischen Spektrums. Ich konnte damals auch die Aufregung über Horst Seehofer und seine Geliebte nicht nachvollziehen. Ein Politiker, der die Ehe hochhält, ist vor der Versuchung einer Affäre nicht gefeit. Freier Sex für alle, auch für diejenigen, die stolz auf das C im Parteinamen sind! Eine Debattenkultur, in wir uns als selbsternannte AnstandspolizistInnen unsere Sünden vorrechen, wäre intellektuell dann doch etwas unterfordernd.
Offenlegung: Der Autor arbeitet bei der taz – und plant in diesem Jahr eine Flugreise nach Frankreich.
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