Harald Welzer zum Offenen Emma-Brief: „Die Gewaltlogik unterbrechen“
Er halte die Eskalation des Mitteleinsatzes für die Ukraine für problematisch, sagt Harald Welzer. Gewaltprozesse stoppe man so nicht.
taz: Herr Welzer, Sie haben sich mit einem offenen Brief viel Gegenwind eingehandelt. Wie waren die letzten Tage für Sie und Ihre Mitunterzeichner*innen?
Harald Welzer: Wie zu erwarten. Wir haben ja insbesondere in der Medienlandschaft eine relativ homogene Haltung, die konträr zu unserem Brief steht. Insofern hat es mich überhaupt nicht gewundert, dass es Kritik oder Empörung oder was auch immer gibt. Ich habe auch nichts dagegen, einen auf die Mütze zu kriegen. Es geht ja um was.
Warum haben Sie diesen Brief unterschrieben?
Weil ich erstens die Eskalation des Mitteleinsatzes für die Ukraine für problematisch halte. Gewaltprozesse stoppt man nicht, wenn man den Mitteleinsatz steigert. Und weil ich zweitens denke, dass die Vereinheitlichung der Perspektive auf die scheinbare Notwendigkeit, immer mehr und schwerere Waffen zu liefern, die Suche nach anderen Möglichkeiten überdeckt. Man muss in so einer brisanten Situation nach Chancen suchen, die eskalierende Gewaltlogik wenigstens zu unterbrechen.
Offener Brief
In einem offenen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) haben 26 Prominente aus dem Kultur- und Medienbetrieb am vergangenen Freitag vor einer weiteren Eskalation des Ukrainekriegs gewarnt. Zu den Unterzeichner:innen des auf der Website der Zeitschrift Emma veröffentlichten Dokuments gehören neben Sozialpsychologe Harald Welzer Filmemacher Andreas Dresen, die Schriftsteller:innen Martin Walser und Juli Zeh sowie Emma-Herausgeberin Alice Schwarzer. Der offene Brief löste eine scharfe Kontroverse aus. (epd)
Man liefert sich doch dem Kreml aus, wenn man den Wünschen aus dem offenen Brief folgt und sagt: Wir liefern lieber keine Waffen, weil uns Russland sonst mit Atomwaffen angreifen könnte.
Wieso begibt man sich denn dadurch in die Hand des Kremls?
Harald Welzer
Weil man die Definition des für Russland Zumutbaren dem Kreml überlässt. Außerdem hat Diplomatie auch unmittelbar vor dem 24. Februar, unter anderem durch Olaf Scholz, gar nichts genützt.
Das heißt aber nicht, dass man sie für den Rest aller Tage abschaffen könnte. Wir können uns doch Szenarien ausdenken, wie die ganze Geschichte jetzt weitergeht.
Und die wären aus Ihrer Sicht welche?
Ich sehe drei: Nummer eins ist die Lieferung weiterer Waffen, und das würde bei Panzern nicht stehen bleiben. Die Forderung ist logisch beliebig steigerbar. Die Mittel, die Putin einsetzen kann, sind auch beliebig steigerbar. Das erwartbar positivste Szenario ist da noch ein auf Dauer gestellter Zermürbungskrieg. Darauf läuft die gegenwärtige Entwicklung hinaus.
Verstanden.
Die schlechtere Variante wäre eine Entgrenzung dieses Krieges, also das Ausgreifen auf andere Nationen. Dann hat man den dritten Weltkrieg. Das dritte Szenario wäre der Atomkrieg, den wir alle nicht kennen. Wir wissen nur, dass er die Zivilisation, wie wir sie kannten, nicht unbeschädigt lassen würde. Alle drei Szenarien finde ich nicht wünschenswert, und deshalb ist die Suche nach einem vierten Szenario enorm wichtig, um mindestens mal die Logik der Zwangsläufigkeit dieser drei Szenarien zu unterbrechen.
Harald Welzer ist Sozialpsychologe, Sachbuchautor und Herausgeber des Magazins für Zukunft und Politik, taz.FUTURZWEI.
Das vierte Szenario gibt es doch schon: Russland wird militärisch in der Ukraine so sehr geschwächt, dass die Bereitschaft zu einem akzeptablen Kompromiss steigt.
Der Einsatz der Mittel wurde ja schon gesteigert, ohne dass es Putins Verhandlungsbereitschaft erhöht hat. Im Hintergrund haben sich aber unsere nicht formulierten Kriegsziele radikal verändert, während wir auf der Vorderbühne ausschließlich über Waffenlieferungen diskutiert haben. Die Außenministerin hat am Sonntag zu meinem großen Erstaunen gefordert, den ursprünglichen Zustand der Ukraine wiederherzustellen, inklusive Krim und Donbass. Und auf dem taz lab war zu hören, es ginge um den System-Change in Russland. Das finde ich schon spektakulär.
Warum führt Putin, Ihrer Ansicht nach, diesen Krieg gegen die Ukraine?
Aus imperialistischen Interessen.
Wird Putin jetzt nicht gestoppt: würde man dann nicht immer wieder mit diesen imperialistischen Gefahren zu tun haben, angefangen beim Baltikum?
Absolut. Das ist ja gerade mein Problem. Wir haben eine Renaissance des Imperialismus. Aber der russische Akteur ist nicht der einzige Imperialist in der geopolitischen Figuration. Er ist möglicherweise nur der erste, der massiv vorangeht. Und gerade weil wir es mit einer vollkommenen Veränderung und Neuausrichtung der kompletten geopolitischen Figuration zu tun haben, kann man doch nicht so kurzsichtig sein, zu glauben, man müsste jetzt in irgendeiner Weise einen Regime-Change in Russland herstellen. Das ist wirklich der Weltkrieg, wenn man das versucht.
Als Alternative fordern Sie in Ihrem Brief einen Kompromiss, der für beide Seiten akzeptabel ist. Wie soll der aussehen?
Das muss sich in Verhandlungen zeigen. Mein Ziel ist sogar noch defensiver. Mir kommt es darauf an, alle Chancen zu aktivieren, um irgendwie eine Situation der Kommunikationsfähigkeit herzustellen – etwa einen temporären Waffenstillstand, damit Perspektiven auftauchen können, wie man zu einem Kompromiss kommt.
Sie fordern einen Kompromiss, sagen aber nicht, wie er aussehen kann. Machen Sie es sich nicht ein bisschen einfach?
Ich habe doch keine Hybris und bin nicht in der Position, zu sagen, welchen Kompromiss die Ukraine und Russland aushandeln müssen. Das geht überhaupt nicht.
Lassen Sie uns doch mal spekulieren. Luhansk, Donezk und die Krim bleiben russisch? Es gibt eine entmilitarisierte Zone?
Das muss sich nach Maßgabe der Machtverhältnisse dann irgendwie konturieren. Ich werde den Teufel tun und jetzt sagen, was der geeignete Kompromiss wäre, weil mir dann zu Recht alle Ukrainerinnen und Ukrainer aufs Dach steigen würden. Aber wir können uns doch vielleicht auf die Minimalrationalität verständigen, dass die Betrachtung einer zivilen, einer zivilisatorischen Dimension der Konfliktaustragung wieder ins Spiel gehört.
Können Zugeständnisse für die Ukraine bei allem Leid, das sie durch den Krieg erfahren hat überhaupt akzeptabel sein?
Das weiß ich nicht. Aber ich könnte die Gegenfrage stellen: Kann eine weitere Steigerung der Gewalt akzeptabel sein? Es wird zu Recht auf das Entsetzen über die Kriegsverbrechen, die Vergewaltigungen und die extreme Tötungsgewalt hingewiesen. Aber wenn ich einen solchen Krieg auf Dauer stelle, dann stelle ich auch die Kriegsverbrechen und die Vergewaltigungen und das Töten auf Dauer.
Aus ukrainischer Perspektive könnten Ihre Vorschläge einem politischen Kotau gleichkommen.
Wir müssen sehen, dass wir zwei Logiken haben, die nicht in eins gesetzt werden können: Wenn ich angegriffen werde, geht es mir um meine Verteidigung um jeden Preis. Wenn ich nicht Kriegspartei bin, geht es mir um die Verhinderung einer Entgrenzung des Krieges. Versuche ich, in einer übergeordneten Perspektive auf eine Friedensordnung hinzusteuern und die Mechanismen zu ventilieren, wie ich dahin komme? Oder geht es mir darum, wie ich mich gegen einen Angriff wehre? Beides schließt sich nicht unbedingt aus. Es ist aber nicht dasselbe.
Man könnte aber auch sagen: Zu einer Friedensordnung kann man überhaupt erst wieder kommen, wenn die Ukraine in der Lage ist, sich zu verteidigen.
Das kann man auch in Frage stellen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie zu einer zivilisatorischen Lösung kommen, sinkt mit der Eskalation der Gewaltdynamik. Beziehungsweise: Sofern keine Atomwaffen eingesetzt werden, passiert das irgendwann nach fünf oder sechs Jahren, wenn der Zermürbungsprozess des Kriegshandelns so lange geht, bis nichts mehr geht. Alexander Kluge hat in extenso beschrieben, wie so was aussieht.
Der Autor und Filmemacher hat in einem Interview nach der Veröffentlichung des offenen Briefes gesagt, die Ukraine möge bitte kapitulieren. Er habe die Erfahrung in Halberstadt als Kind selbst gemacht. So schlimm sei das nicht.
Ja, das ist doch eine diskutable Position.
Halberstadt hat geschehen müssen, da ging es um den Sieg über Nazideutschland. Jetzt geht es um die Verteidigung gegen das Putin-Regime.
Das Zitat ist, glaube ich, anders zu verstehen. Es ist ein autobiografisch fundiertes Zitat. Da spricht er aus der Perspektive des Kindes, das Opfer des Krieges ist und aus dessen Sicht eine Kapitulation eine durchaus wünschenswerte Haltung ist, weil es dann nämlich überleben kann. Es geht nicht um eine allgemeingültige Theorie über die Beendigung von Kriegen oder darum, dass Kapitulation in jedem Fall vorzuziehen sei.
Aus der Tradition der bundesdeutschen Friedensbewegung wurde im Diskurs mit den Antitotalitären gesagt: Lieber rot als tot. Im Sinne eines Freiheitskampfes ist eine solche These vielleicht nicht mehr tragfähig.
In solchen Fragen taucht genau das Problem konventioneller Auseinandersetzungen auf: Die Zuspitzung der Situation auf etwas Binäres, bei dem es nur eine richtige oder eine falsche Antwort gibt. Binär ist es auch, wenn man verengt davon spricht, die Ukraine zu unterstützen oder nicht zu unterstützen. Ich denke, dass man das eine vielleicht tun kann, ohne der Logik der Gewalteskalation zu folgen, dass man das aber aushandeln und irgendwie schauen muss, wie man da weiterkommt.
Apropos Zwischentöne: Sind Sie eigentlich nur gegen die Lieferung schwerer Waffen aus Deutschland oder gegen die Lieferung jeglicher Waffen und woher auch immer?
Wenn ich ehrlich bin, war ich von vornherein gegen Waffenlieferungen. Jetzt, nach zwei Monaten, ist es notwendig, eine Zäsur zu machen. Es ist ein großer Wert, Ohne unseren offenen Brief wäre das nicht der Fall gewesen. Das ist doch besser, als nicht zu sprechen und der merkwürdig morphischen Koalition aus Anton Hofreiter und Frau Strack-Zimmermann die Ratio zu überlassen.
Wenn die Ukraine von Anfang an keine Waffen aus dem Ausland erhalten hätte, wäre sie schon russisch.
Wie weit wollen wir jetzt zurückgehen? Wir können doch sofort eine Übereinstimmung darüber herstellen, dass die Reaktion auf 2014 vollkommen falsch war. Wir können dann weitergehen und sagen: Die ganze Diskussion vor dem 24. Februar war geprägt von wunschgetriebenen Fehleinschätzungen, auch von Euch. Daraus kann man auch lernen, dass die jeweils aktuelle Einschätzung in einer eskalierenden Situation möglicherweise nicht die ist, auf deren Grundlage man sofort handeln sollte. Mit Brecht: Wer A sagt, muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war.
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