Ampel zieht Wahlrechtsreform durch: Machtpolitische Selbstherrlichkeit
Gegen den Widerstand der demokratischen Opposition haben SPD, Grüne und FDP das Wahlrecht geändert. So schaden sie der Demokratie.
E s klingt wie aus einem Werbekatalog: Einfach, fair, gerecht und nachvollziehbar soll es sein, das neue Wahlrecht. Das behaupten SPD, Grüne und FDP. Es ist jedoch schlicht falsch, um nicht zu sagen: eine Lüge. Was die Ampelkoalition in einem wenig schmeichelhaften Akt machtpolitischer Selbstherrlichkeit an diesem Freitag durch den Bundestag gepeitscht hat, ist weder einfach noch fair. Gerecht und nachvollziehbar ist es ebenso wenig.
Schon die Motivation für die Reform geht an dem eigentlichen Problem vorbei. Denn das Hauptproblem des Bundestags ist nicht seine Größe. Mit 630 Abgeordneten ist er nicht mehr oder weniger arbeitsfähig als mit 736. Die Frage ist vielmehr, wen diese Abgeordneten repräsentieren. Schon dass inzwischen rund ein Viertel der Wahlberechtigten nicht mehr zur Wahl geht, ist höchst bedenklich.
Wenn dann aber auch noch etliche Millionen Stimmen zusätzlich „verloren“ gehen, weil sie sich aufgrund der hohen deutschen Sperrklausel nicht im Parlament widerspiegeln, untergräbt das die Demokratie. Die Ampelparteien hätten sich also besser Gedanken darüber machen sollen, wie die Anzahl der um ihre Relevanz beraubten Stimmen reduziert werden kann.
Mit ihrem jetzt gegen den Widerstand der demokratischen Opposition im Bundestag durchgesetzten Wahlrecht sorgen SPD, Grünen und FDP jedoch für genau das Gegenteil. Durch ihre Entwertung der Erststimme bei Beibehaltung einer bundesweiten Fünfprozenthürde erhöhen sie sogar noch den Anteil der verlorenen Stimmen. Denn es wird künftig ein Zweiklassensystem geben: In einem Teil der Wahlkreise wird es egal sein, ob jemand seine Erststimme in die Urne oder den Mülleimer wirft.
Schon der Ursprungsentwurf hatte den Makel, nicht mehr sicherzustellen, dass ein:e Wahlkreissieger:in auch in den Bundestag einzieht. Mit ihrer erst in dieser Woche eingefügten Streichung der Grundmandatsklausel und der ausschließlichen Koppelung des Wahlkreismandats an das Zweitstimmenergebnis einer Partei hat die Ampelkoalition handstreichartig die Erststimme zusätzlich entwertet.
Bitter für die Kleinen
Nun kann es sogar passieren, dass aus einem ganzen Bundesland kein:e einzige:r Wahlkreisvertreter:in im Bundestag mehr vertreten ist. Mit der jetzt beschlossenen Regelung wäre 2021 nicht nur die Linkspartei aus dem Bundestag geflogen, es säßen zudem auch ihre drei direkt gewählten Abgeordneten nicht mehr im Parlament. Und hätte die CSU nicht 5,2 Prozent, sondern nur 4,9 Prozent an Zweitstimmen erhalten, wären 45 der 46 direkt gewählten bayrischen Abgeordneten ohne Mandat geblieben.
Wer die Linkspartei oder die CSU nicht mag, den hätte das vielleicht gefreut. Aber einer lebendigen Demokratie tut es nicht gut, wenn Millionen von Wähler:innenstimmen unberücksichtigt bleiben. Es würde den Ampelparteien allzu große Naivität unterstellen, nicht davon auszugehen, dass sie die Verschärfung ihrer Wahlrechtsreform mit Blick auf die politische Konkurrenz, konkret die CSU und die Linkspartei, in das Gesetz eingeschleust haben.
Die Behauptung, die Änderungen kurz vor Toresschluss seien eine Konsequenz aus der Sachverständigenanhörung im Innenausschuss, ist jedenfalls abenteuerlich. Denn eine klare Mehrheit der Sachverständigen hat sich gegen die ersatzlose Streichung der Grundmandatsklausel ausgesprochen. Aus gutem Grund gibt es in anderen Ländern, beispielsweise in Griechenland, die Regel, dass eine Wahlrechtsreform erst für die übernächste Wahl gilt.
So müssen sich SPD, Grüne und FDP den Vorwurf gefallen lassen, dass es ihnen nicht nur um die Verkleinerung des Bundestags, sondern auch der Opposition geht. Das ist nicht der behauptete „große Wurf“, sondern ein Verstoß gegen die Spielregeln der Demokratie. Wenn es ihnen nur um eine Reduzierung der Abgeordnetenzahl gegangen wäre, hätten sie auch einen anderen Weg gehen können, der tatsächlich einfach, fair, gerecht und nachvollziehbar gewesen wäre: die Einführung eines reinen Verhältniswahlrechts, verbunden mit der Absenkung der Sperrklausel.
Um regionalen Eigenheiten Rechnung zu tragen, wäre es auch möglich gewesen, die Sperrklausel nicht mehr bundes-, sondern wieder länderweit anzuwenden – so wie bei der ersten Bundestagswahl 1949. Doch zu einer Wahlrechtsreform, die die Demokratie in Deutschland stärkt, waren SPD, Grüne und FDP nicht bereit. Ihr Interesse war leider ein anderes. Jetzt bleibt nur noch, auf die Verfassungsrichter:innen in Karlsruhe zu hoffen.
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