Sinkende Wahlbeteiligung: Warum wir nicht wählen

Die Zahl der Nicht­wäh­le­r:in­nen steigt – vor allem unter Ärmeren. Was sind die Gründe dafür? Sechs Erfahrungen.

Eine Hand wirft einen Umschlag in den SChlitz einer Wahlurne

Das Gefühl, nicht vertreten zu sein, ist unter Nicht­wäh­le­r:in­nen sehr verbreitet Foto: getty

„Wenn mich die Gesellschaft nicht will, dann will ich auch kein Teil von ihr sein“

Jens Kohlen, 55, arbeitet als freier Fotograf in Kassel und bezieht Hartz IV.

Deutschland gehört zu den reichsten Staaten der Welt – aber Wohlstand, Bildung, Gesundheit und Glück sind höchst ungleich verteilt. Wie wird die kommende Bundestagswahl die Weichen stellen für die Verteilungsprobleme? Wen wird es treffen, dass die öffentlichen Kassen nach der Pandemie leergefegt sind? Schaffen wir es, das Klima zu schützen und dabei keine Abstriche bei der sozialen Gerechtigkeit zu machen? Unter dem Motto „Klassenkampf“ widmet sich die taz eine Woche lang Fragen rund um soziale Gerechtigkeit.

Alle Texte hier.

„Mich stört es, dass ich als Nichtwähler sofort in die rechte Ecke gedrängt werde. Ich will keine rechten Parteien stärken. Ich sehe nur zur Zeit einfach nichts im politischen Angebot, was mich überzeugt. Denn wenn du auf Hartz IV bist, dann interessiert sich niemand für dich. Keine Partei bildet das ab, was ich gerade erlebe: keine Arbeit, einen drogenabhängigen Sohn, eine Wohnung, die ich nicht mehr bezahlen kann und Behörden, die dich von Amt zu Amt schicken.

Meine Eltern hatten mehrere Textilgeschäfte, so bin ich schnell in die Modewelt reingerutscht. Ich habe erst eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann im Betrieb der Eltern gemacht. Dann war ich selbstständig, hatte eigene Onlinestores und fing an, als Modefotograf zu arbeiten. Bei mir daheim war Politik immer ein Tabuthema. Ich weiß bis heute nicht, was meine Eltern wählen würden. Bei uns wurde nie über so was gesprochen, Einkommen und Wahlstimme waren wie ein Staatsgeheimnis.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Ich war 25 Jahre lang selbstständig. Dann bin ich insolvent gegangen. Mir ging es zu dieser Zeit nicht gut, deshalb war ich ein Jahr in stationärer psychiatrischer Behandlung. Wenn du von 50.000 Euro im Monat auf 750 Euro runterkommst, ist das eine ziemliche Fallhöhe.

Das Arbeitsamt hat mir einen Job vermittelt, ich habe für 9,50 die Stunde in einem Schuhladen gearbeitet. Das hat mir Spaß gemacht. Dann kam Corona. Mein Arbeitgeber ist erst auf Kurzarbeit gegangen. Dann hat er alle Leute entlassen.

Wenn du 54 bist und davor nur selbstständig warst, kannst du 500 Bewerbungen schreiben, dich will trotzdem keiner. Und dann immer das Hin und Her mit dem Amt. Irgendwann habe ich zugemacht. Ich denke mir: Wenn mich die Gesellschaft nicht mehr haben will, dann will ich auch kein Teil von ihr sein.

Früher fand ich die Linke ganz gut. Aber da hatte die auch noch Gesichter, einen Gysi oder eine Wagenknecht. Da fühlte ich mich verstanden. Aber dann ging innerparteilich so viel kaputt und die neuen Vorsitzenden sagen Sachen, mit denen ich einfach nicht mitgehen kann. Die SPD mit Scholz geht gar nicht, das sind CDU-Plakate in roter Farbe. Und die AfD zeigt nur mit dem Finger auf andere, hat aber null Ideen, wie man was besser machen kann.

Für mich als Künstler fehlt einfach vieles in der Politik. Wir brauchen einen höheren Mindestlohn und ein bedingungsloses Grundeinkommen. Wir sind so ein reiches Land, das kann man über tausend Wege finanzieren.“

„Was ich mit meiner Stimme bewirken könnte, ist mir nicht klar“

Eine Kellnerin, 22, in Franken. Sie möchte anonym bleiben.

„Ich gehe nicht wählen, ich bin auch noch nie wählen gegangen. Der Grund dafür ist langweilig, denn ich interessiere mich einfach nicht dafür.

Ich schaue keine Nachrichten, ich lese keine Zeitung und ich höre kein Radio. Jedes Mal, wenn ich es versuche, wird sowieso nur von Krieg, Mord und Totschlag berichtet. Es ist jeden Tag das Gleiche und es gibt nichts Gutes. Damit möchte ich mich gar nicht auseinandersetzen. Vieles verstehe ich auch nicht. Wenn von linker oder rechter Politik gesprochen wird, weiß ich nicht, was das bedeutet. Was ich mit meiner Stimme bewirken könnte, ist mir nicht klar.

Dass das so ist, liegt auch daran, dass Politik in meinem Umfeld nie ein Thema war. Ich habe die Hauptschule besucht und in all den Jahren wurde kein einziges Mal darüber gesprochen. Weder die Lehrer noch die Schüler haben Politik thematisiert. Später habe ich meinen Realschulabschluss nachgeholt und eine Ausbildung in der Gastronomie gemacht, doch auch dort ist das Thema nie aufgekommen.

Bei meiner Familie ist das anders. Meine Eltern gehen wählen und sie interessieren sich für Politik. Sie versuchen, sich mit Hilfe von Nachrichten im Fernsehen und in der Zeitung auf dem Laufenden zu halten. Sie wollten schon oft mit mir darüber sprechen, wie wichtig es ist, dass ich wählen gehe. Sie reden, doch richtig Einfluss nehmen sie nicht auf mich. Für mich ist das alles eben nicht wichtig, die Einstellung meiner Eltern kann ich nicht nachvollziehen. Das Thema wird schnell fallen gelassen, weil meine Eltern mich nicht zwingen wollen.

Das war auch bei der Schulwahl so. Ich bin nur zur Hauptschule gegangen, weil meine Freundinnen dorthin sind. Mit meinen Noten hätte ich einen höheren Bildungsweg einschlagen können und heute bereue ich, dass ich das nicht getan habe. Manchmal denke ich, es wäre besser gewesen, wenn meine Eltern mehr Einfluss genommen hätten. Vielleicht werde ich so auch eines Tages über das Thema Wahlen denken.

Vor Kurzem habe ich in einem neuen Restaurant angefangen, in dem auch Studierende arbeiten. Im Gegensatz zu uns Festangestellten sprechen sie regelmäßig über Politik, gerade jetzt vor den Wahlen. Nach den vielen Gesprächen habe ich verstanden, dass ich eigentlich ein Privileg habe: Im Gegensatz zu vielen anderen Menschen auf dieser Welt, darf ich wählen gehen. Doch geändert hat das für mich nichts.“

„Egal, wen du wählst, es ändert sich nichts“

Michael, 45, ist momentan arbeitslos und lebt in Berlin. Seinen Nachnamen will er nicht öffentlich machen.

„Fast hätte ich dieses Jahr die AfD gewählt. Das ist die einzige Partei, die auch die Leute mitnimmt, die gegen die Coronamaßnahmen sind. Aber ich habe mir mal die Wahlplakate angeschaut. Solche dummen Sprüche und so ein bescheuertes Programm – so eine Partei kann man doch nicht unterstützen. Da wähle ich lieber gar nicht.

Ich bin in Berlin geboren und aufgewachsen. Nach der Schule habe ich studiert, zuerst Informatik, dann Deutsch und Geschichte. Aber leider habe ich es nicht geschafft, das Studium zu beenden.

Früher habe ich immer gewählt. Zuerst die CDU. Dann irgendwann die SPD, danach die Grünen oder die Linke. Ich habe aber im Laufe meines Lebens gesehen: Egal wen du wählst, es ändert sich nichts. Wenn die Parteien an die Macht kommen, dann machen sie alle dasselbe.

Mit meiner Familie spreche ich nie über Politik, aber mit meinem Freundeskreis dafür sehr viel. Ich bin nicht unpolitisch. Ich schaue mir auch vieles an, viele Quellen. Ich will nicht einseitig denken, ich versuche immer, alle Seiten zu verstehen und unter einen Hut zu bekommen.

Wenn die AfD intelligenter werden würde, dann könnte ich mir vorstellen, irgendwann mal wieder zur Wahl zu gehen. Oder es müsste eine andere Partei geben, die nicht alles von oben diktiert. So wie es jetzt in dieser Pandemie geschehen ist. Ich will direkte Politik für das Volk, für die Menschen.“

„Was die Politik thematisierte, hatte nichts mit mir zu tun. Aber dieses Jahr ist das anders“

Ein 61-Jähriger aus dem Münsterland. Er möchte anonym bleiben.

„Ich arbeite als Nachhilfelehrer für Englisch und Mathematik und beziehe zusätzlich zu meinem Gehalt noch Geld vom Jobcenter. Eigentlich war ich selbstständiger Berater im Bereich Personal und Qualitätsmanagement, doch vor zwei Jahren wurde ich krank. Nach einer depressiven Episode musste ich meinen Beruf aufgeben, meine finanziellen Rücklagen waren aufgebraucht. Durch die neue Situation haben sich meine Interessen gewandelt. Bei der letzten Wahl bin ich bewusst nicht wählen gegangen, weil ich mich nicht vertreten gefühlt habe.

Für mich geht es bei Wahlen um die Programminhalte und die Personen. Natürlich habe ich mir die vor vier Jahren angesehen, ich bin selbst Mitglied der SPD. Normalerweise reicht es mir, wenn ich mit 50 Prozent der Inhalte der Parteiprogramme übereinstimme. Doch da war keine Übereinstimmung. Das, was die Politik thematisierte, hatte nichts mit mir zu tun.

In meiner Selbstständigkeit habe ich es immer als enorm belastend empfunden, mich ständig selbst verkaufen und beweisen zu müssen, insbesondere wenn man in einer schwierigen Lage ist. Auf die für mich zentrale Frage, wie die Situation und die Absicherung von ­Soloselbstständigen verbessert werden kann, habe ich von den Parteien keine Antwort erhalten.

Stattdessen richten sich die Parteien nur an Menschen mit einem geradlinigen Lebensweg. Ich bin in den sechziger Jahren geboren, in meiner Generation gibt es wenige lückenlose ­Biografien. Das wollten wir auch nie, wir wollten lieber Neues wagen. Die Rentenanwartschaften und die finanziellen Absicherungen sind dann leider nicht so, wie man sich das wünscht.

Meine Erfahrung ist: Was die Parteien versprechen, setzen sie sowieso nicht um. Immer habe ich mir vor einer Wahl die Frage gestellt: Geht es mir heute besser als vor vier Jahren? Was haben die Parteien von ihren Wahlversprechen eingelöst? Das war alles Schall und Rauch. Es gab auch noch mehr Gründe, nicht wählen zu gehen. Ich gehöre dem linksliberalen Spektrum an, die Dominanz von Männern in der Politik konnte und kann ich nicht ertragen.

Freunde und Familie sagen oft, sie wählten das geringste Übel. Aber diese Option kam für mich nie infrage. Die Politik sollte sehen, dass ich nicht wählen gehe. Für mich war das eine politische Äußerung, auch wenn Politik so natürlich nicht gestaltet wird.

In diesem Jahr ist es anders, ich gehe wieder wählen. Das Thema der Klimakatastrophe bewegt mich und ich will den Wechsel. Die Grünen bieten mir Alternativen und eine Frau als Kandidatin. Dafür lohnt es sich dann hoffentlich doch wieder, die Stimme abzugeben.“

„Keine Partei hat die Radikalität, die ich mir wünsche“

Eine antifaschistische Aktivistin aus Berlin, 25. Sie will ihren Namen nicht verraten.

„Ich bin grundsätzlich gegen den Kapitalismus. Für mich ist es nicht möglich, innerhalb dieses Systems soziale Gerechtigkeit und Umweltgerechtigkeit zu erreichen. Das sind die Themen, die mich interessieren, die mir wichtig sind. Und die sind innerhalb des Rahmens der Bundestagswahl nicht zu verändern. Deshalb gehe ich nicht zur Wahl. Ich fühle mich von den Parteien, die zur Wahl stehen, nicht vertreten. Es gibt auch keine Partei, bei der ich eine Tendenz sehe, dass sie das in der Radikalität angehen würde, die ich mir wünsche. Ich bin nicht unpolitisch, auf keinen Fall. Aber ich bin eben sehr weit weg von irgendwelcher Parteipolitik.

Was mich dazu bringen könnte, zur Wahl zu gehen? Tatsächlich gar nichts, weil ich die Hoffnung in diese Wahl schon verloren habe. In meiner Realität wird sie nichts ändern und deshalb ist sie mir ein bisschen egal. Ich hab keine Appelle oder Wünsche, weil ich diese Politik einfach generell nicht gut finde.

In meinem Freun­d:in­nen­kreis spreche ich sehr viel über Politik, weil ich fast nur von linksaktivistischen Menschen umgeben bin. Auch mit meiner Mutter spreche ich viel darüber. Wir haben vieles gemein, auch unsere politische Meinung.

Ich glaube, dass Menschen mit weniger Geld in Deutschland vom politischen Diskurs ausgeschlossen sind. Innerhalb des Systems des Kapitalismus, in dem wir leben, haben die Leute mit mehr Geld automatisch mehr Macht. Sie haben mehr zu sagen und können irgendwie alles bestimmen.“

„Am ehesten würde ich die Grünen wählen – aber nur, wenn sie nicht mit der CDU regieren“

Michael, 67, aus Berlin hat als Goldschmied gearbeitet, jetzt ist er in Rente. Seinen Nachnamen behält er lieber für sich.

„Wenn ich wählen würde, dann am ehesten die Grünen. Aber nur, wenn die ausschließen, dass sie mit der CDU regieren. Ansonsten bin ich eigentlich ein SPD-Mensch. Bei mir zu Hause wurde viel über Politik gesprochen. Damals noch über Franz Josef Strauß, das ist ja zum Glück vorbei. Eigentlich finde ich Wahlen wichtig, Demokratie ist die beste Staatsform. Aber dieses Jahr fehlt mir eine Partei, die zu mir passt.

Ich habe eine christliche Einstellung. Aber die CDU wählen? Auf keinen Fall. Ich stimme mit Angela Merkel zum Teil überein. Aber die hört ja auf. Ansonsten ist diese Partei nicht wählbar für mich, weil sie keine christlichen Werte vertritt.

In der Schule hatte ich den sozialwissenschaftlichen Zweig gewählt, weil mich das immer sehr interessiert hat. Danach habe ich an der Akademie der Künste hier in Berlin studiert. Ich habe kein Abitur, aber ich habe die Begabtenprüfung bestanden, deshalb konnte ich dort anfangen. Eigentlich wollte ich immer künstlerisch arbeiten. Aber wie das so ist – irgendwann braucht man Geld. Und dann habe ich das Studium abgebrochen und den Job als Goldschmied angefangen.

Nachdem ich angefangen habe zu arbeiten, war ich politisch nicht mehr so interessiert. Aber ich hatte viele politische Freunde. Ein Freund von mir war sogar Referent bei Willy Brandt. Da habe ich natürlich SPD gewählt. Viele Menschen in meinem Umfeld waren radikal links, ein paar auch mit Nähe zur RAF. Ich habe an diesen Freunden gesehen, dass es nichts bringt, wenn man sich für eine bestimmte Politik einsetzt. So viel Engagement und am Ende verändert sich ja doch nichts.“

Mitarbeit: Alina Leimbach

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