Neues Buch von Sahra Wagenknecht: „Ich finde Hedonismus sympathisch“
Die Linke-Politikerin Sahra Wagenknecht ist der Ansicht, „Lifestyle-Linke“ bereiten Sozialabbau und Rechtspopulismus den Weg. Ein Interview.
taz am wochenende: Frau Wagenknecht, ich bin neue Mittelschicht, Sozial-Ökologe, Europäer, Möchtegern-Weltbürger. Nach Ihrer Definition ein Lifestyle-Linker. Ein Selbstgerechter, mit dem Sie die Welt weder retten wollen noch können?
Sahra Wagenknecht: Nein, nicht der Lebensstil und auch nicht die persönlichen Werte definieren den Lifestyle-Linken, sondern die Arroganz, die eigene Lebensweise zum Maßstab progressiven Lebens zu verklären und auf Menschen herabzublicken, die anderen Werten folgen und anders leben. Mit dem Begriff attackiere ich eine Überheblichkeit, die in bestimmten Milieus und auch in vielen linken Debatten erkennbar ist.
Ich musste beim Lesen schallend lachen, wenn ich mich schön entlarvt fühlte. Aber die Frage ist, warum Sie so überziehen und sich in dieses zugespitzte Klischeebild des angeblichen Lifestyle-Linken verbissen haben?
Weil ich glaube, dass es leider kein Klischee ist. Wir müssen ernsthaft darüber nachdenken, warum die linken Parteien immer mehr Rückhalt verlieren – das gilt nicht nur für Deutschland, sondern für die meisten europäischen Länder. Klar, die Grünen schwimmen gerade auf einer Welle der Zustimmung. Aber die Grünen vertreten ein gut situiertes akademisches Großstadtmilieu, Menschen, die sich vielleicht als links verstehen, aber denen es im Großen und Ganzen gut geht. Linke Parteien dagegen sollten eigentlich die vertreten, denen Bildungs- und Aufstiegschancen vorenthalten wurden, die Verlierer von Neoliberalismus und Globalisierung, Menschen, die um ihren Wohlstand kämpfen müssen und teilweise gar keinen haben, weil sie für Niedriglöhne arbeiten müssen. Diese Menschen erreichen die linken Parteien immer weniger. Ein beachtlicher Teil der Bevölkerung fühlt sich politisch überhaupt nicht mehr repräsentiert. Und genau deshalb kommen SPD und Linke zusammen kaum noch auf 25 Prozent.
Empfohlener externer Inhalt
taz Talk mit Sahra Wagenknecht
Für Sie sind die Lifestyle-Linken auch Pseudolinksliberale. Dieser Linksliberalismus ist für Sie das größte Übel überhaupt. Warum?
Die Fortschrittserzählung des Linksliberalismus ist ja: Wir leben heute in einer Gesellschaft, die besser, liberaler, bunter geworden ist. Natürlich sind wir in dem Sinne liberaler, dass wir inzwischen die Ehe für alle haben oder auch viel mehr Menschen mit Migrationshintergrund in den Parlamenten. Aber die soziale Homogenisierung von lukrativen Berufen und auch von politischen Institutionen wie eben dem Parlament wird komplett ausgeblendet: dass dort immer weniger Menschen hingelangen, die aus armen Verhältnissen kommen. Die soziale Herkunft bestimmt heute weit mehr darüber, welchen Wohlstand jemand erreicht als die eigene Leistung. In diesem Punkt ist die Gesellschaft nicht liberaler geworden, sondern feudaler.
Warum sind die Lifestyle-Linken nicht links?
Nehmen wir nur die These, dass der Nationalstaat überholt ist. Leider haben wir Sozialstaaten nicht auf globaler Ebene. Wir haben sie nicht auf europäischer Ebene. Der vielgescholtene Nationalstaat ist immer noch die handlungsfähigste Institution, die wir haben, um Märkte zu bändigen und sozialen Ausgleich zu erreichen. Das hat auch damit zu tun, dass das Wir-Gefühl innerhalb der einzelnen Länder stärker ist als auf europäischer Ebene. Eine europäische Transferunion wird jenseits akademischer Kreise überwiegend abgelehnt. Wenn wir die sozialen Regelungen auf die europäische Ebene verlagern, wäre das verbunden mit radikalem Sozialabbau. Das muss man einfach wissen. Das wird dann schön verkleidet als glühendes Europäertum. Die EU ist schon heute ein Motor des Neoliberalismus, ihre Interventionen sind nicht zufällig immer darauf gerichtet, Arbeitnehmerrechte zu beschneiden und Privatisierungen voranzutreiben. Außerdem hat die EU in jeder Krise aufs Neue gezeigt, dass sie nicht handlungsfähig ist.
Die Frau
Sie ist promovierte Volkswirtschaftlerin, Jahrgang 1969. Wagenknecht wuchs in Thüringen und Ostberlin auf. Seit 2014 in zweiter Ehe mit dem früheren SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine verheiratet.
Sie ist die vermutlich populärste linke Politikerin in Deutschland und Mitglied des Bundestages. Von 2015 bis 2019 war sie Fraktionsvorsitzende der Linkspartei. Wagenknecht kandidiert bei der Bundestagswahl im Herbst auf Listenplatz 1 in NRW.
Das Buch
Sahra Wagenknecht: „Die Selbstgerechten“. Campus 2021. 345 Seiten, 24,95 Euro
Eine wiederkehrende Kritik lautet, dass Sie einen Lafontaine’ schen Glauben an den Nationalstaat hätten und Deutschland zurück in die 70er beamen möchten, als die Welt noch in Ordnung war, mit sicheren Grenzen für Arbeitsplätze und Menschen?
Das ist die übliche Diffamierung. Ich will nicht zurück in die 70er, aber ich bin der Überzeugung, dass der Sozialstaat in den 70er Jahren besser war als heute, dass es damals für Kinder ärmerer Familien bessere Bildungs- und Aufstiegschancen gab. Etwa weil damals anteilig zur Wirtschaftsleistung sehr viel mehr Geld ins Bildungssystem gesteckt wurde. Weil kommunaler Wohnungsbau für sozial durchmischte Wohnviertel sorgte. Weil man sogar ohne Studium einen soliden Wohlstand erreichen konnte.
In einem NZZ-Gespräch stimmten Sie der These zu, dass ein Bündnis von Linksliberalen und Neoliberalen zum Aufstieg des Rechtspopulismus geführt hat. Inwiefern?
Dass sich die Menschen von den linken Parteien nicht mehr repräsentiert fühlen, hat auch mit der neoliberalen Politik zu tun. Das Politikpaket aus Links- und Neoliberalismus besteht darin, dass man fleißig Antidiskriminierungs- oder Frauenbeauftragte schafft und gleichzeitig einen riesigen Niedriglohnsektor, in den vor allem Frauen und Migranten abgedrängt werden. Das eine ist fürs gute linke Gewissen und das andere ist die bittere Realität für Millionen Menschen, deren Lebensverhältnisse sich verschlechtern. Die rechten Parteien sind ein Ventil für die dadurch entstehende Wut. Heute wählen viele Geringverdiener gar nicht mehr oder eben rechts. Es sollte eigentlich jeden Linken umtreiben, dass die AfD eine Art neuer Arbeiterpartei ist. Keine Partei wird von so vielen Arbeitern gewählt wie die AfD, obwohl sie gar kein soziales Angebot für die Arbeiterschaft hat.
Wie holt man Leute zurück, die aus Frust zur AfD gegangen sind?
Indem man ihre Interessen vertritt.
Da würde jetzt Ihr Klischee-Lifestyle-Linker sagen: Also Fremdenfeindlichkeit bedienen?
Die AfD-Wählerschaft ist durchaus differenziert. Da gibt es überzeugte Rechte, die sind für uns nicht ansprechbar. Das ist aber nur ein kleiner Teil. Im Westen ist die AfD dort besonders stark, wo früher Hochburgen der SPD waren wie im Ruhrgebiet, und im Osten in früheren Hochburgen der Linken. Diese Wähler kann man zurückgewinnen. Weil sich diese Menschen tatsächlich mehr sozialen Ausgleich, aber auch mehr Respekt für ihre Lebenssituation, für ihre Werte, für ihre Sicht auf die Welt wünschen. Weil sie nicht von oben herab behandelt werden wollen. Es geht auch nicht nur um AfD-Wähler, sondern auch darum, die Vielen zu gewinnen, die nicht mehr wählen. Das ist ein wichtiger Punkt, den ich in vielen Mails und meinen Veranstaltungen immer wieder genannt bekomme: Es fühlen sich viele Menschen von den Linken belehrt und bevormundet. Wer wählt eine Partei, von der er sich verachtet fühlt? Keiner!
Könnte es sein, dass der Rechtspopulismus in Europa nicht wegen Lifestyle-Linken und Genderdiskussionen zunimmt, sondern weil seine Anhänger genau das wollen, was er verspricht: Sicherheit durch Sozialpolitik und Abgrenzung gegen das Fremde?
Soziale Sicherheit ist ein urlinkes Anliegen. Den meisten Menschen geht es nicht um „Abgrenzung gegen das Fremde“. Sie lehnen Zuwanderung ab, wenn sie zulasten ihres ohnehin meist bescheidenen Lebensstandards geht. Natürlich ist eine junge Familie nicht erfreut, wenn sie noch länger auf eine der spärlich gesäten Sozialwohnungen warten muss, weil auch immer mehr Einwanderer auf der Liste stehen. Natürlich ärgert es Beschäftigte, wenn das Lohnniveau sinkt, weil Unternehmen Migranten als Lohndrücker missbrauchen. Die Zustände in der deutschen Fleischindustrie sind nur ein Beispiel von vielen. Und wer möchte seine Kinder in einer Schule wissen, in der die Mehrheit bei der Einschulung kein Deutsch spricht? Wenn gutsituierte Leute, die mit all diesen Problemen nie konfrontiert sind, dann Schlechtergestellte belehren, dass es solche Probleme gar nicht gibt und nur Rassisten sie herbeireden, dann ist das genau die Arroganz, die ich meine.
Machtpolitisch gesehen ist der Lifestyle-Linke doch bestenfalls ein Mitläufer – ohne Power, was Ökonomie und Finanzmarkt angeht?
Stimmt, der Lifestyle-Linke ist nicht unbedingt Teil der wirtschaftlichen Macht. Aber die wirtschaftlich Mächtigen können sich mit dieser Art des Links-Seins wunderbar arrangieren. Die Heuschrecke Blackstone hat kürzlich verkündet, dass in den aufgekauften Unternehmen nur noch jedes dritte Vorstandsmitglied ein weißer Mann sein darf. Was für ein Fortschritt! Dann werfen in Zukunft also Frauen oder Menschen mit Migrationshintergrund die Belegschaften raus, die vorher von weißen Männern rausgeworfen wurden. Das stört die Wirtschaft nicht, das kostet auch nichts. Das ist linke Alibipolitik. Oder man führt Sprachregelungen ein, schafft Lehrstühle für Gendertheorie – und gleichzeitig macht man eine Politik, die die Ungleichheit vergrößert und so nicht zuletzt die soziale Situation von Frauen verschlechtert. Das ist die Heuchelei der sogenannten Kulturlinken.
In Ihrem Buch kommt der mündige, selbstbestimmte und auch hedonistische Mensch gar nicht vor – oder nur als egoistischer Selbstverwirklicher.
Also, ich würde mich selber schon auch als Hedonisten bezeichnen.
Sie lachen?
Ich finde Hedonismus sehr sympathisch. Aber dieses Herangehen setzt natürlich eine gewisse soziale Absicherung voraus. Wer ständig an der Kante des sozialen Absturzes steht, immer schuften muss, um nicht abzustürzen, der kann schwerlich auf Einkommen zugunsten von Freizeit verzichten. Für den ist Hedonismus eine Lebensart, die er sich schlicht nicht leisten kann. Dass man darauf auch noch herabsieht, ist überheblich.
Das ist das, was Sie dem Lifestyle-Linken vorwerfen: als Moral getarnte Verachtung der Armen.
Der persönliche Lebensstil ist eine private Angelegenheit. Aber was mich nervt, ist die Arroganz, mit der ein bestimmtes Milieu den eigenen Lebensstil als besondere Tugend überhöht und auf andere herabsieht, die andere Werte haben, aber die sich den angeblich progressiven Lebensstil auch gar nicht leisten könnten. E-Auto fahren, Bioprodukte kaufen, lässig damit klarkommen, wenn der Spritpreis und die Heizkosten steigen – wer kann das? Oder in der Innenstadt wohnen, wo man mit dem Fahrrad zum Job fahren kann?
Die Grünen sind für Sie die größten Pseudo-Links-Fuzzis – kann man das so sagen?
Würde ich vielleicht etwas anders ausdrücken, aber im Kern: ja. Die Grünen sehen sich selbst nicht mehr als linke Partei. Und sie sind auch keine linke Partei, sondern eine, die sehr erfolgreich das großstädtische, akademische Milieu vertritt. Deren Interessen – das ist keine Ächtung, sondern eine Analyse – unterscheiden sich von denen, die im Niedriglohnsektor arbeiten. Das sind die Servicekräfte, die der gutsituierte Großstadtakademiker braucht: die Haushaltshilfe, der Paketschlepper, die Bedienung im Restaurant. Niemand würde das gern zugeben, aber objektiv ist der Niedriglohnsektor für die neue akademische Mittelschicht kein Nachteil, weil für sie das meiste dadurch billiger wird.
Eine politische Repräsentation des unteren Drittels der Gesellschaft ist dringend nötig. Aber für eine politische Mehrheit muss man in einer pluralistischen Gesellschaft Allianzen der Ungleichen zusammenbringen. Sie watschen alles ab, was Teil einer Allianz sein könnte, während Grünen-Chef Robert Habeck in seinem Buch alles streichelt. Mir scheint seine Strategie erfolgversprechender.
Mir geht es darum, wie linke Parteien sich aufstellen sollten. Dass man am Ende auch mit den Grünen koalieren könnte, wenn das für eine Mehrheit notwendig wäre, ist klar. Aber die Frage ist doch, wer prägte diese Koalition, wer bestimmt die Schwerpunkte. Wenn die Grünen mit 25 Prozent reingehen, die SPD mit mickrigen 15 und wir vielleicht mit 8, dann wird es verdammt schwer, ein Programm durchzusetzen, das mehr sozialen Ausgleich und weniger Ungleichheit erreicht.
Wie hätten Sie es denn gern?
Anders wäre es, wenn eine nach links gewendete SPD wieder eine Politik macht wie einst unter Willy Brandt und dann auch ein entsprechendes Ergebnis erzielt. Und die Linke mindestens zweistellig wird. Dann könnten die Grünen ihre Akzente setzen, aber eine Wiederherstellung des Sozialstaates, Abrüstung und eine friedlichere Außenpolitik wären weit eher möglich. Die zentrale Frage ist also: Wie können die linken Parteien stärker werden? Sicher nicht, wenn sie primär mit den Grünen um deren Wählerklientel konkurrieren.
Pablo Iglesias ist mit Podemos in Spanien gescheitert, im Gegensatz zu Le Pen geht es mit Mélenchon in Frankreich bergab. Die versuchen doch, was Sie fordern. Vielleicht wollen die Leute einfach keine Linken oder Linkspopulisten mehr?
Podemos erreichte zu seinen besten Zeiten in einem Linksbündnis über 20 Prozent, das schlechteste Ergebnis lag bei knapp 13 Prozent, neben einer mit 28 Prozent immer noch relativ starken Sozialdemokratie. Wenn meine Partei im September 13 Prozent erreichte, würden wir feiern. Und Mélenchon hat bei der letzten Präsidentschaftswahl mit fast 20 Prozent die Stichwahl nur knapp verfehlt. Auch dieses Ergebnis muss man erst mal erreichen. Das Problem bei beiden Parteien ist vielleicht, dass sie nur einen einzigen charismatischen Kopf haben und daher verletzlich sind, wenn gezielt Zweifel an dessen Integrität geschürt werden, was in beiden Fällen geschehen ist.
Es klingt, als hätten Sie die Zuspitzungen Ihrer Kritik an der linken Identitätskultur wie „immer beleidigte Mimosen, immer skurrilere Minderheiten“, „Identität in einer Marotte finden“ speziell für den Empörungsmarkt produziert. Aber Sie triggern damit auch jüngere Linksparteimitglieder, für die Sprachpolitik und Antirassismus zur politischen DNA gehört. Was soll das bringen?
Es soll bringen, dass wir aufhören, Symbolpolitik zu machen und uns wieder auf unsere Aufgaben als Linke konzentrieren. Es gab nicht wenige Linken-Mitglieder, die mir gesagt oder geschrieben haben: Das war überfällig, du sprichst mir aus dem Herzen. Diese Reaktionen überwiegen, zumindest bei dem, was bei mir ankommt. Weil sich eben auch viele Sorgen machen angesichts unseres Abstiegs bei Wahlen und Umfragen. Man muss auch beim Antirassismus unterscheiden. Wenn jemand sich mit einem arabischen Namen um eine Wohnung oder einen Job bewirbt – und das gilt gerade bei den nicht akademischen Jobs – dann ist er benachteiligt. Das sind echte Diskriminierungen, gegen die man etwas tun muss. Aber die Menschen, die davon betroffen sind, führen keine Debatten über Sprachregeln oder „weiße Privilegien“.
Sondern?
Solche Debatten führen hauptsächlich Privilegierte, die oft kaum reale Diskriminierungserfahrungen haben. Und die sich dann mit großem Pathos zum Opfer stilisieren. Ich könnte jetzt auch sagen: Ich bin ein Opfer. Ich habe einen iranischen Vater, ich bin als Kind gehänselt worden in dem Dorf, wo ich aufgewachsen bin, weil ich eben dunklere Haare, dunklere Augen hatte.
Tun Sie aber nicht?
Ich bin kein Opfer, ich konnte studieren, es geht mir gut. Ein Opfer ist weit eher der Zusteller, der mir das Paket vor die Tür schleppt. Er hat vielleicht 1.200 Euro netto im Monat, und zwar ganz unabhängig davon, ob er deutsche Eltern hat oder zugewanderte. Pöbeleien gegen Menschen anderer Hautfarbe, tätliche Angriffe, rassistische Morde wie in Hanau – das ist Rassismus. Aber es rassistisch zu nennen, wenn einer die neuesten Sprachregelungen woker Akademiker gar nicht kennt, ist eine Verharmlosung von echtem Rassismus.
In Ihrem Buch kommt nicht vor, dass Sie einen iranischen Vater haben. Erst bei Ihrer Bewerbungsrede um das Bundestagsmandat haben Sie darauf hingewiesen. War das zu dem Zeitpunkt notwendig?
Im Grunde gehört das überhaupt nicht in die Öffentlichkeit. Es ist irrelevant, welche Vorfahren ich habe. Ich habe das in der Bewerbungsrede nur deshalb angeführt, weil ich mich allen Ernstes gegen den absurden Vorwurf wehren musste, ich sei ein Rassist.
Sie nennen in Ihrem Buch die langjährigen Parteivorsitzenden Kipping und Riexinger nicht beim Namen, das wirkt unsouverän.
Ja, warum soll ich sie beim Namen nennen? Es ist kein Buch über die Partei Die Linke und auch keine Auseinandersetzungen mit zwei Leuten, mit denen ich bekanntermaßen Spannungen hatte, die mittlerweile politisch keine Rolle mehr spielen.
Sie verwenden in Ihrem Buch und beim Sprechen immer das generische Maskulinum und sagen: „Ich bin Ökonom“. Meine Tochter würde ausrasten.
Wenn ich irgendwo sage: Ich bin Ökonom, dann belehren mich bevorzugt Männer, dass ich doch bitteschön sagen soll, ich sei Ökonomin. Ich empfinde das als Frechheit. Ökonom beschreibt eine bestimmte Ausbildung, eine Kompetenz. Ich verstehe nicht, wieso das differenziert werden soll nach Frau oder Mann. Es gibt ja auch keinen speziellen Begriff für einen homo- oder heterosexuellen Ökonomen. Oder für einen mit Migrationshintergrund. Diskriminierung ist, wenn Frauen, und das ist in Deutschland die Regel, weniger verdienen als Männer, wenn sie in schlechte Jobs abgedrängt werden. Das wird nicht dadurch besser, dass in den Abendnachrichten jetzt Bürger…innen gesagt wird, damit sich auch wirklich alle wiederfinden.
Ich habe den Eindruck, dass Sie strategisch den gleichen Trick benutzen wie die Wokies. Sie bauschen selbst Dinge auf, die Sie dann vehement kritisieren.
Ich wünschte, ich würde sie aufbauschen. Aber Debatten um solche Fragen haben doch ein immer größeres Gewicht und viele verbinden mit diesen abgehobenen Debatten heute das Label „links“, weil sie vor allem von Meinungsführern aus dem linken Spektrum geführt werden. Natürlich tritt etwa die Linke für sehr viele richtige soziale Forderungen ein, höheren Mindestlohn, bessere Renten. Aber wir tun uns keinen Gefallen, wenn wir uns gleichzeitig an schrägen Debatten beteiligen, die das teilweise überlagern und die Leute verprellen.
Die Annahme der jüngeren, identitätspolitisch geprägten Linken ist, dass Klassenpolitik und Identitätsfrage nicht zu trennen sei. Aber vielleicht ist das in Wahrheit ein linker Widerspruch? Wenn man der EU keine Sozialpolitik zutraut wie Sie, dann ist Identitätspolitik ein Angriff auf den Nationalstaat und damit auf linke Sozialpolitik?
Identitätspolitik ist vor allem ein Angriff auf Solidarität und Wir-Gefühl. Weil sie das Trennende in den Vordergrund stellt, statt das Gemeinsame. Wertgeschätzt wird, was von der Mehrheitsgesellschaft abweicht. Das „Normale“ ist geradezu verdächtig. Und die Abstammung oder die sexuelle Orientierung sollen darüber entscheiden, wer sich wozu überhaupt äußern darf. Das ist eine Diskussion, die am Ende den rechten Identitätspolitikern, die dankbar für diese Vorlagen sind, die Bälle zuspielt.
Im Vorwort schreiben Sie, dass Sie das machen „in dem Wissen, dass ich jetzt ebenfalls gecancelt werden könnte“. Dann kommt aus Dantes „Göttlicher Komödie“ das Zitat „Aber für diejenigen, die sich in Zeiten des Umbruchs heraushalten, sei die unterste Ebene der Hölle reserviert“. Wollen Sie für das Buch jetzt in den Himmel kommen?
Weder in den Himmel noch in die Hölle.
Sie lachen?
Ich bin ja Atheist. Und bisher auch noch nicht gecancelt worden. Aber ich finde schon, dass man Position beziehen sollte, wenn die Linke abschmiert und die politische Rechte tendenziell stärker wird. Ich will nicht, dass sich unsere Gesellschaft in einer Weise verändert, dass wir irgendwann schwer bereuen, nichts dagegen getan zu haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Rekordhoch beim Kirchenasyl – ein FAQ
Der Staat, die Kirchen und das Asyl
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Preise fürs Parken in der Schweiz
Fettes Auto, fette Gebühr