Annalena Baerbock über Außenpolitik: „Schweigen ist keine Diplomatie“
Annalena Baerbock ist bald Deutschlands Außenministerin. Ein Gespräch über grüne Personalquerelen, schwierige Kompromisse – und ihren Blick auf China.
taz: Frau Baerbock, die Ampelkoalition war in den letzten Wochen sehr um Harmonie bemüht. Nun gab es ausgerechnet bei den Grünen parteiinternes Gerangel bei der Vergabe der Ministerposten. Warum war das so schwierig?
Annalena Baerbock: Personalentscheidungen sind immer schwierig, wenn man viele kluge Köpfe hat, aber nur eine begrenzte Anzahl von Ressorts. Das sind mit die schwersten Momente in einer Partei. Wir haben ein starkes, kompetentes Team für die Regierung aufgestellt, das viel mitbringt: verschiedene Generationen, Ost und West, Männer und Frauen und Menschen mit Migrationsbiografie.
Im Endeffekt bekommt Cem Özdemir, der außenpolitisch versiert ist, das Landwirtschaftsministerium. Und Anton Hofreiter, der dafür besser qualifiziert gewesen wäre, geht leer aus. Heißt das: Quote schlägt Kompetenz?
Ganz und gar nicht. Wir setzen auf alle klugen Köpfe. Dazu wird auch Toni Hofreiter gehören. Damit diese Koalition gut funktioniert, braucht es auch starke Leute im Parlament. Gemeinsam entfalten wir am meisten Stärke. Was die Landwirtschaftspolitik betrifft: Cem Özdemir hat sich immer die Versöhnung von Ökologie und Ökonomie auf die Fahnen geschrieben, dafür ist Landwirtschaft ein Schlüsselressort.
Die Fundis fühlen sich jetzt übergangen – droht die Rückkehr des Flügelstreits?
Nein. Es hat geruckelt, solche Momente gibt es immer wieder im Leben – auch im Parteileben. Aus den vergangenen Jahren wissen wir zugleich, wie stark wir sind, wenn wir geschlossen als Partei agieren. Das werden wir jetzt in die Regierung tragen. Und allein schon angesichts der Pandemie ist wichtig, dass diese jetzt sehr zügig gebildet wird und ihre Arbeit aufnimmt.
Gibt es schon eine Idee, welchen Posten Anton Hofreiter übernehmen kann?
Er wird im Bundestag eine starke Rolle spielen.
Am 6. Dezember endet die Urabstimmung über den Koalitionsvertrag. Wie zuversichtlich sind Sie?
Voll und ganz. In zentralen Bereichen wie Klimaschutz, Familien- und Gesellschaftspolitik, europäische Außenpolitik oder Digitalisierung steckt ein wirklicher Paradigmenwechsel. Auf den 177 Seiten gibt es auch viele Punkte, die auf den ersten Blick klein erscheinen, die für manche aber das Leben verändern.
ist 41 Jahre alt und Außenministerin der Bundesrepublik Deutschland. Von 2018 bis 2022 war sie Vorsitzende von Bündnis90/Die Grünen.
Zum Beispiel wenn ein Kind in eine Familie mit zwei Müttern hineingeboren wird: Zukünftig werden beide Mütter endlich auch automatisch als Mütter anerkannt. Familien, die hier seit Jahren leben, bislang aber nur geduldet sind, bekommen endlich die Sicherheit, dass ihre Kinder, die hier geboren sind und zur Schule gehen, auch in Zukunft bleiben können. Oder die Abschaffung des Paragrafen 219 a – wie viele Jahre haben wir Frauen dafür gekämpft. Damit kommt das Land auf die Höhe der gesellschaftlichen Wirklichkeit.
Es bleiben dennoch strittige Punkte. Hartz IV heißt bald Bürgergeld – aber zur Höhe der Regelsätze steht nichts im Koalitionsvertrag.
Stimmt, aber auch bei der sozialen Grundsicherung ändert sich einiges. Wir stellen die Würde der Menschen in den Mittelpunkt und stärken die individuelle Unterstützung. Statt vor allem zu sanktionieren, wird aktiviert. Menschen, die eine Weiterbildung machen oder an anderen Fördermaßnahmen teilnehmen, bekommen zusätzlich einen Bonus in Höhe von bis zu 150 Euro im Monat.
An Sanktionen hält die Ampel trotzdem fest. Gab es da große Auseinandersetzungen in den Koalitionsverhandlungen?
Bei der Frage, wie wir das Hartz-IV-System weiterentwickeln, gab es natürlich unterschiedliche Auffassungen. Das hat man ja bereits in den Wahlprogrammen gesehen. Und bei drei Parteien am Tisch konnte sich niemand bei allem zu hundert Prozent durchsetzen. Wir wollten trotzdem nicht nur kleinste gemeinsame Kompromisse machen, sondern einen neuen Weg wagen.
Das tun wir jetzt mit dem Bürgergeld und den Weiterbildungsmöglichkeiten. Und zugleich gibt es ein Sanktionsmoratorium: Bis zu ihrer gesetzlichen Neuregelung setzen wir die Sanktionen unter das Existenzminimum aus. Das heißt, wir werden Sanktionen einschränken und so den Kulturwandel in den Jobcentern verstärken. Man hat ja schon in der Coronapandemie gesehen, dass es sinnvoll ist, Sanktionen zurückzunehmen. Wichtig ist mir auch, dass in Zukunft die Kosten der Unterkunft von Sanktionen ausgenommen werden und wir die verschärften Sanktionen für junge Menschen unter 25 Jahre abschaffen.
Mit der Kindergrundsicherung sollen bisherige Leistungen gebündelt werden. Wie hoch wird sie ausfallen und bis wann kommt sie?
Die Kindergrundsicherung ist für mich eines der zentralen Projekte der nächsten Regierung. Kinder werden nicht mehr wie kleine Erwachsene behandelt und Familien und Kinder nicht mehr wie Bittsteller an den Staat. Stattdessen hat der Staat nun die Verantwortung, alles dafür zu tun, die Jüngsten aus der Armut herauszuholen. Zugleich unterstützen wir durch die Bündelung und automatische Auszahlung bisheriger Familienleistungen.
Gerade Alleinerziehende, die arbeiten und trotzdem mit ihren Kindern in Armut leben, auch weil sie oft gar keine Zeit und Kraft haben, ständig zig Anträge auszufüllen. Die automatische Auszahlung ist eine kleine Kulturrevolution, die wir da im Sozialversicherungssystem angehen. Sie wird daher sicher ein bisschen brauchen. Für den Übergang werden wir einen Sofortzuschlag für Kinder in Armut auszahlen.
Und die Höhe der Kindergrundsicherung?
Es wird für jedes Kind einen Garantiebetrag geben, der über dem derzeitigen Kindergeld liegen wird. Für die, die mehr Unterstützung brauchen, weil das Einkommen der Eltern nicht reicht, werden wir das Existenzminimum neu berechnen, damit Kinder und Jugendliche entsprechend ihrem Alter am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Auf der Grundlage dieser Neuberechnung wird dann auch die Höhe der Kindergrundsicherung stehen. Außerdem können Jugendliche, deren Eltern im Harz-IV-Bezug sind, künftig endlich ihr im Ferienjob verdientes Geld komplett behalten.
Kommen wir zur Außenpolitik. Im Koalitionsvertrag kündigen Sie eine „Klima-Außenpolitik“ an. Was genau verstehen Sie darunter?
Ich verstehe Außenpolitik als Weltinnenpolitik: Krisen wirken über Grenzen hinweg. Sie können nur global und kooperativ bewältigt werden. Und die größte globale Krise ist die Klimakrise. Um als Weltgemeinschaft überhaupt noch auf den 1,5-Grad-Pfad kommen zu können, brauchen wir nicht nur massive Technologiesprünge, sondern auch einen Technologietransfer.
Es reicht also nicht mehr, darauf zu schauen, dass jedes Land seine eigenen Klimaziele angeht, sondern wir müssen endlich unsere Kräfte bündeln. Ja, wir brauchen die großen Klimakonferenzen als Rahmen, aber genauso brauchen wir mehr Länder, die zeigen, dass eine klimaneutrale Wirtschaft Wohlstand sichert und die anderen Ländern die Hand reichen. Dafür sehe ich die Industriestaaten in der Pflicht. Schließlich haben wir in den letzten 100 Jahren der Welt diese Klimakrise eingebrockt.
Was konkret wird Ihre Rolle als Außenministerin dabei sein?
Im nächsten Jahr übernimmt Deutschland die G7-Präsidentschaft. Ich möchte, dass sie zur Startrampe für Klimapartnerschaften und einen für alle Staaten offenen Klimaclub wird. So wie wir vor 20 Jahren mit dem EEG die Energiewende in die Welt exportiert haben, können wir jetzt wieder voranschreiten und zum Vorreiter und vor allem Partner für klimaneutrales Wirtschaften werden.
Bei den Klimapartnerschaften dürfte es auch um die Finanzierung gehen. Das Entwicklungs- und das Finanzministerium haben die Grünen aber nicht bekommen. Haben Sie denn FDP und SPD bei diesem Vorhaben mit an Bord?
Ja. Die Pariser Klimaziele sind die Grundlage unseres gemeinsamen Koalitionsvertrages und damit auch für alle Ressorts. Um sie zu erreichen, brauchen wir massive Investitionen in Klimainfrastruktur. National wie international. Klimainvestitionen sind zugleich die Chance zur Stärkung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit.
Wie werden Sie denn als Außenministerin mit Ländern umgehen, die bei den Klimaverhandlungen eher blockieren?
Die Idee des Klimaclubs und auch der Klimapartnerschaften ist ja gerade, sich weniger mit den Blockierern zu beschäftigen, sondern sich stattdessen mit den Vorreitern zusammenzutun. Ein globaler CO2-Preis zum Beispiel ist eine schöne Idee, aber eben auch eine gute Ausrede. Denn bis alle 190 Staaten dazu bereit sind, ist es wohl zu spät. Statt abzuwarten, möchte ich daher dafür werben, dass sich die Länder zusammentun, die ihre Industrie klimaneutral umbauen. Gemeinsame Standards und Leitplanken verhindern zugleich mögliche Wettbewerbsnachteile für Industriestandorte.
Unsere über 220 deutschen Auslandsvertretungen können dafür wichtige Klimabotschaften sein und auch zur Intensivierung des Technologietransfers beitragen. Klimapolitik ist dabei nicht nur moderne Wirtschafts-, sondern auch Sicherheitspolitik. In den vergangenen Jahren haben wir erlebt, wie die Folgen des Klimawandels Konflikte um Ressourcen wie Land oder Wasser verschärft haben. Wir erleben auch, dass fossile Energieabhängigkeit und Energieimporte als außenpolitisches Druckmittel und damit auch zur Destabilisierung eingesetzt werden können. Das dürfen wir nicht vergessen. Nicht ohne Grund gibt es diesen massiven Streit um die Gaspipeline Nord Stream 2.
Nord Stream 2 taucht im Koalitionsvertrag gar nicht auf.
Wir haben im Koalitionsvertrag deutlich gemacht, dass auch für diese Pipeline das europäische Energierecht gelten muss. Die Bundesnetzagentur hat ja parallel zu unseren Verhandlungen den Zertifizierungsprozess erst mal ausgesetzt, weil europäisches Energierecht nicht eingehalten wurde. Die sicherheitspolitischen Fragen, derentwegen unsere Partner in Mittel- und Osteuropa so massiv gegen diese Pipeline sind, müssen wir in den nächsten Monaten gemeinsam europäisch diskutieren.
China ist der größte Umweltsünder. Nur wenn Peking mitspielt, lässt sich der Klimawandel aufhalten. Beim Klimaschutz versuchen die USA unter Joe Biden, mit China auf Kooperation zu setzen. Bei den meisten anderen Themen setzt Washington auf Konfrontation. Werden auch Sie so mit China umgehen?
Um globale Probleme zu lösen, müssen wir miteinander kooperieren. Bei der Bekämpfung der Klimakrise etwa oder bei der Bekämpfung der Coronapandemie ist man nur zusammen erfolgreich. Dort sind wir Partner. In anderen Bereichen sind wir Wettbewerber, gerade wenn es um die Frage von zukünftigen Technologieführerschaften geht.
Als europäische Demokratien und Teil eines transatlantischen demokratischen Bündnisses stehen wir aber auch in einem Systemwettbewerb mit einem autoritär geführten Regime wie China. Diesbezüglich gilt es die strategische Solidarität mit demokratischen Partnern zu suchen, gemeinsam unsere Werte und Interessen zu verteidigen und in unserer Außenpolitik mit langem Atem für diese Werte zu werben.
Im Koalitionsvertrag ist eine Passage zu China zu finden. Darin werden mehrere Themen, die aus Pekinger Sicht sensibel sind, erstmals aufgeführt: Taiwan, Xinjiang und Hongkong. Wird Deutschland unter einer grünen Außenministerin stärker auf Konfrontation gehen?
Dialog ist der zentrale Baustein internationaler Politik. Aber das heißt nicht, dass man Dinge schönreden oder totschweigen muss. Eine die Differenzen in den Vordergrund stellende Außenpolitik führt genauso in eine Sackgasse wie eine, die auf dem Ausblenden von Konflikten basiert. Deswegen ist für mich eine wertegeleitete Außenpolitik immer ein Zusammenspiel von Dialog und Härte. Beredtes Schweigen ist auf Dauer keine Form von Diplomatie, auch wenn das in den letzten Jahren von manchen so gesehen wurde.
Das birgt besonders für Deutschland auch Risiken. China ist schließlich Deutschlands wichtigster Handelspartner.
Wir sollten uns als Europäer nicht kleiner machen, als wir sind. Wir sind einer der größten Binnenmärkte der Welt. Und gerade auch China hat massive Interessen am europäischen Markt. Wenn es keinen Zugang mehr gibt für Produkte, die aus Regionen wie Xinjiang stammen, wo Zwangsarbeit gängige Praxis ist, ist das für ein Exportland wie China ein großes Problem. Diesen Hebel des gemeinsamen Binnenmarkts sollten wir Europäer viel stärker nutzen. Der wirkt aber nur, wenn alle 27 Mitgliedstaaten an einem Strang ziehen und nicht wie in der Vergangenheit Deutschland als größter Mitgliedstaat eine eigene Chinapolitik formuliert. Wir brauchen eine gemeinsame europäische Chinapolitik.
Was halten Sie von einem Boykott der anstehenden Olympischen Winterspiele in Peking?
Wenn ich sehe, wie Chinas Führung mit der Tennisspielerin Peng Shuai umgeht oder mit der verhafteten Bürgerjournalistin Zhang Zhan, sollten wir natürlich auch die Olympischen Spiele genauer in den Blick nehmen. Da gibt es für Regierungen unterschiedliche Formen des Umgangs, die in den kommenden Wochen sicherlich diskutiert werden.
Dazu gab es am Montag eine Twitter-Aktion von Journalisten und Verbänden, die Sie explizit auffordern, sich für die Freiheit von Zhang Zhan einzusetzen.
Journalistische Berichterstattung ist kein Verbrechen. Zhang Zhan gehört daher freigelassen.
Es gibt wenige Punkte im Koalitionsvertrag, bei denen die Nato- und EU-Partner unruhig werden. Einen aber doch: Die Bundesrepublik wird 2022 als Beobachterin an der Konferenz zum UN-Atomwaffenverbotsvertrag teilnehmen. Dutzende Staaten haben in diesem Vertrag vereinbart, Atomwaffen zu ächten. Werden Sie als Außenministerin persönlich anreisen?
Wie auch bei den Fragen zuvor gilt: Erst mal muss ich im Amt vereidigt sein. Aber genau diese Frage der Atomwaffen macht deutlich, dass wir in Zukunft wieder eine aktive deutsche Außenpolitik betreiben werden, die sich den Dilemmata der globalen Politik stellt. Wir stehen zu unserer Verantwortung im Rahmen von Nato und EU und auch zur nuklearen Teilhabe. Perspektivisch machen wir die Welt aber nur sicherer, wenn wir zu einer Reduzierung von Atomwaffen kommen. Deswegen wollen wir als zukünftige Regierung die Abrüstungsverhandlungen zwischen den USA und Russland unterstützen und die Inhalte des Atomwaffenverbotsvertrags als Beobachter konstruktiv begleiten.
Früher wurde in Koalitionsverträgen aber auch schon mal angekündigt, dass man sich für den Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland einsetze. Diesmal nicht. Warum nicht?
International sind für die nächsten Jahre endlich wieder Abrüstungsgespräche angekündigt und diese Gelegenheit wollen wir nutzen – nicht nur passiv, sondern mit einem deutschen Beitrag, wie gerade beschrieben. Dieser muss aber immer in Abstimmung mit unseren Bündnispartnern, insbesondere unseren Partnern in Mittel- und Osteuropa, erfolgen.
Weil Russland bedrohlicher geworden ist, drängen die Grünen jetzt also nicht mehr auf das Ende der nuklearen Teilhabe.
Es gilt die berechtigten Sicherheitsinteressen vor allem der Staaten in Mittel- und Osteuropa ernst zu nehmen. Mit unilateralen Schritten tragen wir nicht zu deren Sicherheit bei. Deswegen werden wir uns in enger Abstimmung mit unseren Partnern an den internationalen abrüstungspolitischen Debatten beteiligen.
Wird die Ampel als Nachfolger für die Tornadojets der Bundeswehr erneut Flugzeuge anschaffen, die Atomwaffen abwerfen können? Im Koalitionsvertrag ist das nicht klar formuliert.
Wir müssen das Nachfolgesystem für den Tornado beschaffen, weil die konventionellen Fähigkeiten ersetzt werden müssen. Es handelt sich also nicht allein um sogenannte Atombomber. Über die Frage der nuklearen Zertifizierung werden wir dann weiter sprechen müssen.
Sie werden erste deutsche Außenministerin. Macht es einen Unterschied, dass sie eine Frau sind, oder nicht?
Nicht für mich.
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