Urteil im Fall Lina E.: Weit ausgeholt

Selbstjustiz ist nicht zu rechtfertigen. Und doch ist das Strafmaß von fünf Jahren und drei Monaten Gefängnis für die Linksextremistin Lina E. heftig.

Zwei Polizisten und ein Hund vor einem Gerichtsgebäude

Polizisten mit Spürhund vor der Verurteilung von Lina E. vor dem Oberlandesgericht in Dresden Foto: Robert Michael/dpa

Natürlich soll das Urteil auch ein Signal sein. Die Leipziger Autonome Lina E. wird vor dem Oberlandesgericht Dresden zu gut fünf Jahren Haft verurteilt, ihre drei Mitangeklagten bekommen Strafen bis zu gut drei Jahren Haft. Eine kriminelle Vereinigung hätten sie gebildet, mehrere schwere Angriffe auf Rechtsextreme in Leipzig, Wurzen und Eisenach verübt, erklärt das Gericht. Es sind die härtesten Urteile gegen Linksradikale seit Jahren in diesem Land.

Und die Bundesanwaltschaft hatte sogar noch höhere Strafen gefordert. Bundesinnenministerin Nancy Faeser spricht von „Gewaltspirale“ in der Szene, die sich nicht weiterdrehen dürfe. Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang warnt, der Moment rücke näher, „in dem man auch von Linksterrorismus sprechen muss“.

Auch wenn die Bundesanwaltschaft eine noch härtere Strafe für Lina E. gefordert hatte: Der Rechtsstaat holt hier weit aus. Und es ist spürbar, wie sehr sich einige ein Exempel erhofft hatten. Schon 2019 hatte Sachsen eine Soko Linx gebildet, um nach linken Brandanschlägen und Angriffen auf Rechtsextreme endlich Täter zu fassen. Die Verhaftung von Lina E. wurde dann sofort hochgehängt: Die Bundesanwaltschaft übernahm den Fall, ließ E. wie eine Terroristin mit einem Hubschrauber zum Haftrichter fliegen.

Die Anklage erfolgte vor einem Oberlandesgericht, der höchsten Instanz. Zweieinhalb Jahre saß Lina E. bereits in U-Haft – nun sollen weitere folgen. Klar ist: Die Angriffe auf die Rechtsextremen waren massive Gewalt, die zu schweren Verletzungen führte. Gewalt, die natürlich Strafverfolger auf den Plan ruft. Gewalt, die nichts gebracht hat – die meisten angegriffenen Rechtsextremen machten auch nach den Angriffen weiter – und die durchaus auch in der autonomen Szene kritisch diskutiert wird.

Im Zweifel gegen die Angeklagte

Und das Urteil gegen Lina E. ist auch nicht nur ein Exempel: Sie wurde direkt nach einem Angriff in Eisenach festgenommen, selbst die Verteidigung rechnete in diesem Punkt nicht mit Freispruch.

Bei dieser Strafverfolgung aber muss der Rechtsstaat Maß wahren – und hier nährte dieser Prozess Zweifel. Bis zum Schluss konnte kein Opfer oder Zeuge die vermummten Angreifer erkennen, gab es bis auf den Eisenacher Angriff nur mehrdeutige Indizien und viele Fragezeichen.

Die Bundesanwaltschaft aber kannte nur eine Richtung: Wann immer eine Frau am Tatort war, soll es Lina E. gewesen sein. Wann immer ein Indiz vorlag, wurde es gegen die Angeklagten ausgelegt. Selbst ein Alibi eines Angeklagten, das in den Akten der Bundesanwaltschaft schlummerte, behielt die Behörde für sich, versehentlich oder gezielt. Es war jedenfalls die Verteidigung, die es ausbuddeln musste.

So funktioniert Rechtsstaat nicht. Bei allem öffentlichen Druck: Wo Zweifel sind, müssen diese für die Angeklagten sprechen – und nicht umgekehrt. Das Vorgehen der Bundesanwaltschaft unterstreicht aber, wie unbedingt der Wille war, endlich eine spürbare Verurteilung gegen die militante autonome Szene hinzubekommen.

Rechtsextreme Gewalt außen vor

Und es reiht sich ein in eine Strafverfolgungswelle, die auf öffentlichen Druck reagiert und selbst der bürgerlichen Letzten Generation Präventivhaft und den Vorwurf einer kriminellen Vereinigung einbrachte. Ein Vorwurf, der Behörden einen großen Koffer an Ermittlungsmaßnahmen eröffnet. Und der längst zum Alltagsinstrument verkommt, was dringend revidiert gehört.

Was zudem im Prozess gegen Lina E. wenig von Anklage und Gericht thematisiert wurde, war die rechtsextreme Gewalt, die schon viel länger tobt und immer noch die größere Gefahr ist, gerade in Ostdeutschland und speziell in Eisenach. 219 Todesopfer durch rechtsextreme Täter seit dem Wendejahr 1990 zählt die Antonio Amadeu Stiftung. Es gab den Rechtsterror gegen Walter Lübcke, in Halle und Hanau. Es gibt den Hass im Alltag, der Schicksale zerstört und Angst verbreitet.

1.170 rechte Gewaltdelikte zählte das BKA im vergangenen Jahr, ein Anstieg um 12 Prozent. Auf linker Seite waren es 842 Gewalttaten – ein Minus von 30 Prozent. Jede dieser Gewalttaten gehört geahndet. Nur leider blieb zuletzt oft der Eindruck, dass die Justiz auf rechtsextremer Seite keinen derartigen Verfolgungseifer an den Tag legt – sei es in Fretterode, Ballstädt oder Dresden.

Dabei geht es auch anders, wie vor Jahren die Verurteilung gegen die rechtsextreme Gruppe Freital mit Haftstrafen bis zu zehn Jahren zeigte.

Stattdessen nun aber auf brachiale Selbstjustiz zu setzen, kann kein Weg sein. Es wird nur zur Verrohung und Eskalation führen. Wozu sie nicht führen wird: zu gesellschaftlichen Mehrheiten, die es braucht, um Rechtsextremen nachhaltig die Räume zu nehmen.

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Seit 2010 bei der taz, erst im Berlin Ressort, ab 2014 Redakteur für Themen der "Inneren Sicherheit" im taz-Inlandsressort. Von 2022 bis 2024 stellvertretender Ressortleiter Inland. Studium der Publizistik und Soziologie. Mitautor der Bücher "Staatsgewalt" (2023), "Fehlender Mindestabstand" (2021), "Extreme Sicherheit" (2019) und „Bürgerland Brandenburg" (2009).

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