Verschärfungen beim Bürgergeld: Faktisch ein Arbeitszwang

Das Bürgergeld kann in besonderen Fällen komplett gestrichen werden. Das ist Wasser auf die Mühlen derer, die nach noch schärferen Sanktionen rufen.

Immer kleiner werdende Einkäufswagen

Ohne die Berücksichtigung ökonomischer Bedingungen läuft der Schutz der Menschenwürde ins Leere Foto: Sascha Steinach/imago

Spätestens seit der Ära von Kanzler Schröder wird über die Form der Existenzsicherung gestritten. Während die Debatte Ende der 90er Jahre von einem harten Populismus gegen ärmere Menschen mit Begriffen wie „Hängematte Sozialstaat“ geprägt war, setzte sich nach der „Agenda 2010“ der rot-grünen Bundesregierung Jahr für Jahr mehr die Erkenntnis durch, dass die sogenannten Hartz-Reformen mehr zu unsozialer Härte und weniger zu einer Reduzierung der Arbeitslosigkeit beigetragen hatten. Die SPD reagierte und änderte wiederum die Hartz-Gesetze in Richtung Bürgergeld.

Umso verwunderlicher ist es, dass der Bundestag im Februar fast nebenher erneut die Möglichkeit einer Sanktionierung des Bürgergelds um 100 Prozent beschlossen hat. Schließlich hatte Rot-Grün die Möglichkeit der Komplett-Sanktionierung mit den Hartz-Gesetzen erst beschlossen, später hatte Rot-Grün-Gelb mit der Einführung des Bürgergelds diese zurückgenommen – um sie nun wieder einzuführen.

Die neue Regelung unterscheidet sich zwar von den Hartz-Gesetzen, da unter anderem die Kosten von Unterkunft und Heizung von der Kürzung ausgenommen sind. Aber sie ermöglicht erneut die vollständige Streichung dessen, was ein Mensch darüber hinaus zum Leben braucht.

Beim Bürgergeld handelt es sich nicht um großzügige Almosen, sondern um einen verfassungsrechtlich verbürgten Rechtsanspruch. Das Bundesverfassungsgericht hat diesen in dem Recht auf Achtung der Menschenwürde (Artikel 1 Grundgesetz) in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot (Artikel 20 Grundgesetz) verortet. Den Schutz der Menschenwürde stellten die Verfassunggebenden als Lehre aus dem Nationalsozialismus an den Anfang des Grundgesetzes.

Zwei Monate ohne Essen?

Jeder Mensch hat das Recht auf Achtung seiner Würde – unabhängig von Leistungen, sozialem Status oder Eigenschaften. Die Menschenwürde kann auch nicht durch „unwürdiges Verhalten“ verloren gehen. Ohne die Berücksichtigung ökonomischer Bedingungen läuft der Schutz der Menschenwürde ins Leere.

Seit vielen Jahren entnimmt das Bundesverfassungsgericht aus dem Zusammenspiel der Menschenwürde und dem Sozialstaatsgebot das Recht auf eine menschenwürdige Existenzsicherung und hat zur Frage der Komplettsanktionierung in einem Urteil von 2019 ausgeführt, dass der vollständige Wegfall des Arbeitslosengelds II nicht mit den verfassungsrechtlichen Maßgaben vereinbar ist. Allerdings hat das Gericht es anders bewertet, wenn die leistungsberechtigte Person es selbst in der Hand hat, durch die Aufnahme einer angebotenen und zumutbaren Arbeit ihre Existenz „tatsächlich und unmittelbar“ selbst zu sichern. Wenn sie diese Arbeit ohne wichtigen Grund verweigert, sei auch der vollständige Leistungsentzug zu rechtfertigen.

Nach einer neuen Regelung im Sozialgesetzbuch – dem Paragrafen 31a Abs. 7 SGB II – soll der Leistungsanspruch entfallen, wenn eine erwerbsfähige Person eine zumutbare Arbeit nicht annimmt und ihr Anspruch auf Bürgergeld innerhalb des letzten Jahres wegen der Nichtannahme einer Arbeit bereits gemindert war.

Nach zwei Monaten soll die Sanktionierung aufgehoben werden. Zumutbar ist eine Arbeit nach drei Monaten Arbeitslosigkeit auch dann, wenn mit ihr ein Umzug innerhalb Deutschlands verbunden ist und kein wichtiger Grund dem Umzug entgegensteht. Auch Pendelzeiten von täglich zweieinhalb Stunden bei einem sechsstündigen Arbeitstag sind „zumutbar“ – bei einer Person, die Kinder zu versorgen hat, ist das völlig utopisch.

Viele Gerichte könnten Sanktionen kassieren

In der Praxis dürfte es so sein, dass nur die wenigsten Jobangebote innerhalb der sanktionierten zwei Monate realistisch sind; folglich dürfte ein Großteil der Sanktionierungen vor Gericht aufgehoben werden. Denn Voraussetzung ist, dass es sich um ein konkretes Arbeitsangebot handelt, das jederzeit wahrgenommen werden kann. Hat eine andere Person den Job schon erhalten, hat die sanktionierte Person nicht mehr die Möglichkeit, ihre Sanktionierung durch Annahme der angebotenen Arbeit zu beenden, weil das Angebot ja nicht mehr besteht.

Das Bürgergeld gewährt das Minimum dessen, was zum (Über-)Leben notwendig ist. Eine hundertprozentige Sanktionierung bedeutet, dass in den zwei Monaten der Sanktionierung sämtliches Geld für Essen, Trinken, Hygiene- und Gesundheitsartikel und Telefon komplett gestrichen wird. Wie ein Mensch, der nicht auf Spenden von Familie oder Freun­d*in­nen zurückgreifen kann, in diesen zwei Monaten seine Grundbedürfnisse befriedigen soll, bleibt offen. Ob der Gesetzgeber davon ausgeht, dass Menschen zwei Monate lang nicht zu essen brauchen, auf der Straße Pas­san­t*in­nen um Geld bitten oder sich verschulden und damit die Gefahr des Verlustes ihres Bankkontos eingehen, ist nicht ersichtlich.

Im Grundgesetz heißt es nicht, dass die Menschenwürde des arbeitswilligen Menschen zu schützen ist. Es heißt, dass die Menschenwürde jedes Menschen zu schützen ist. Das Grundrecht auf die Sicherung einer menschenwürdigen Existenz ernst zu nehmen heißt, auch dem Menschen eine menschenwürdige Existenzsicherung zu gewährleisten, der eine zumutbare Arbeit nicht angenommen hat. Auch diesem sollte ein Recht auf eine menschenwürdige Existenzsicherung zustehen – und zwar ohne einen faktischen Arbeitszwang.

Aus welchem Grund die Ampel ihre eigene Reform nicht zunächst wirken lassen wollte, sondern ein erneuter Versuch der Komplettsanktionierung unternommen werden musste, ist nicht nachvollziehbar und Wasser auf die Mühlen derjenigen, die wie die CDU schon nach noch schärferen Sanktionierungen rufen. Die Entscheidung ist ethisch fragwürdig, politisch populistisch und verfassungsrechtlich problematisch. Sie wird hoffentlich nicht das Ende der Reformen im Existenzsicherungsrecht bedeuten.

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ist Autorin unserer neuen Rubrik „law and order“ und beschäftigt sich auf diesem Platz regel­mäßig mit juristischen und rechts­politischen Debatten. Sie ist promovierte Rechtsanwältin in Berlin und arbeitet derzeit schwerpunktmäßig in der Opferberatung zu sexualisierter Gewalt. Von 2007 bis 2010 war sie Bundesvorsitzende der Jusos.

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