Umgang mit Autokrat Putin: Naive Regime-Change-Fans

Auf einen Regimewechsel zu setzen, ist leichtfertig. Nicht mit Putin verhandeln zu wollen, ist verständlich, aber falsch. Eine Antwort auf Claus Leggewie.

Eine Demonstratin mit einem Anti-Putin-Plakat

Viele Menschen wünschen sich Putin hinter Gittern: Demonstrant in Ungarn Foto: ap

Putin hat den Westen belogen und führt einen brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Es gibt Hinweise, dass noch nicht mal der russische Geheimdienst in die Kriegsplanung eingeweiht war. Die politische Elite in der Putin-Diktatur mag genau so großrussisch chauvinistisch verblendet sein wie der Präsident – doch diesen Krieg würde es ohne Putin nicht geben.

Es klingt unterkomplex und nach „Männer machen Geschichte“ – aber es gibt historische Situa­tionen, in denen das Verschwinden einer einzelnen Figur entscheidend sein kann. So hat Jörg Baberowski in „Verbrannte Erde“ anschaulich beschrieben, dass mit Stalins Tod 1953 der barbarische Terror abrupt endete.

Putin gestürzt sehen zu wollen, ist ein verständlicher Wunsch. Es erscheint naheliegend, dass der Westen darauf setzen sollte. Genau das hat US-Präsident Joe Biden kürzlich getan. Doch dies zur politischen Leitlinie zu machen, ist falsch und kurzsichtig. Diese Position ist genauer betrachtet pure Gesinnungsmoral, die sich um die Folgeschäden nicht kümmert und sich bei entscheidenden Fragen einen schlanken Fuß macht.

Wenn der Westen nicht mit Putin (und, wenn wir Claus Leggewie folgen, auch nicht mit einem ihm genehmen Nachfolger) verhandelt – was kommt danach? Was wird aus dem Iran-Abkommen, das Trump gekündigt hatte und bei dem Russland bislang eine konstruktive Rolle spielt? Es ist kaum verantwortliche Politik, aus Abscheu vor Putin eine Nuklearmacht Iran zu riskieren.

Es geht um eine aggressive Atommacht

Auch dass sich der Westen irgendwann vielleicht möglichen Verhandlungen um einen kalten Frieden in der Ukraine verweigert, weil Putin und seine Nachfolger nicht vor Gericht stehen, ist keine brauchbare Strategie. Und es ist keine kluge Politik, wegen des russischen Angriffskrieges für Jahrzehnte Klimaschutzpolitik ohne das größte Land der Erde zu machen.

Aber vielleicht ermutigt das Gerede über Putins Sturz ja die russische Opposition, entschlossen gegen das Regime vorzugehen? Das ist aber vollends naiv. Wann haben Aufrufe, Tyrannen zu stürzen, ausgerechnet von Kriegsgegnern je gefruchtet? Zudem lassen die Fürsprecher des Regime Change nonchalant einen Fakt unter den Tisch fallen, der Beachtung verdient. Es geht nicht um Serbien, sondern um eine aggressive Atommacht.

Das Kokettieren mit Regime Change und Boykottfantasien mag moralisch anständig wirken. Aber der Preis, der für diese Geste zu zahlen wäre, ist hoch – politische Handlungsunfähigkeit oder politisches Desperadotum. Man feiert die eigene Moral, meidet aber, sich Rechenschaft über die Folgen abzulegen. Dies zur Leitlinie zu machen folgt dem Pippi-Langstrumpf-Prinzip: „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt.“

In der Welt, wie sie ist, ist Russland nicht so isoliert, wie es wünschenswert wäre. In der UN-Vollversammlung haben die Regierungen, die die Hälfte der Weltbevölkerung repräsentieren, darunter fünf Atommächte, nicht für die Verurteilung Russland gestimmt. Das ist die neue Weltordnung. Man sollte sie zur Kenntnis nehmen.

Liberaler Imperialismus

Misstrauisch macht auch, dass die Aufrufe, Diktatoren zu beseitigen, lange zur Praxis des „liberalen Imperialismus“ (Carlo Masala) gehörten. In Afghanistan, dem Irak und in Libyen hat die Illusion, man müsse nur Taliban, Saddam und Ghaddafi mit genug Feuerkaft bekämpfen, um Frieden und Demokratie zum Durchbruch zu verhelfen, eine blutige Schneise der Verwüstung hinterlassen.

Die bellizistische Fraktion, zu der Ber­nard-Henri Levy, Daniel Cohn-Bendit, Leggewie und andere zählen, hat sich nie einer selbstkritischen Prüfung unterzogen, wohin ihr moralischer Grund­impuls, einzugreifen, geführt hat. Alle Versuche, Systeme mit Gewalt von außen zu stürzen, sind in den letzten 20 Jahren desaströs gescheitert.

Zur Fähigkeit von Demokratien gehört bekanntlich, schneller als Diktaturen aus Fehlern zu lernen. Der publizistischen Fraktion, die unbedingt Demokratie mit Gewalt exportieren will, scheint genau dies abzugehen. Sie ist unfähig, Fehleinschätzungen zu korrigieren und die Trümmerberge wahrzunehmen, die sich hinter ihr auftürmen.

Schließlich fragt sich auch, wo die Grenze der Moral verläuft. Wäre ein Boykott nicht auch im Fall Xi Jipings geboten, der brutal gegen Minderheiten vorgeht? Was ist mit George W. Bush, der mit Lügen einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg führte, an dessen katastrophalen Folgen die Region 20 Jahre später noch leidet?

Über nukleare Abschreckung neu nachdenken

Kein Missverständnis: Wer die Zahl der Toten des „liberalen Imperialismus“ benutzt, um Putins monströses Verbrechen zu verkleinern, ist moralisch bankrott. Wer versucht, der Nato eine Mitschuld am Überfall auf die Ukraine zu geben und sich an einen starr auf die USA fixierten Anti­imperialismus klammert, verdient intellektuell und moralisch nur Verachtung.

Auch wir, die immer skeptisch auf Militär und humanitäre Interventionen schauten, brauchen seit dem 24. Februar ein selbstkritisches Exerzitium. Wir müssen uns fragen, warum wir so naiv waren, den russischen Imperialismus nicht klarer erkannt zu haben. Wir müssen begreifen, dass die Bedrohung durch den russischen Imperialismus von Dauer sein wird.

Wir müssen über atomare Abschreckung in Europa für den Fall nachdenken, dass jemand wie Trump in den USA wieder an die Macht kommt. Wir müssen den Gedanken fassen können, dass atomarer Schutz und nukleare Teilhabe nötig sind, um, wie es Annalena Baerbock in ihrer Grundsatzrede sagte, danach eine Welt ohne Atomwaffen anzustreben. Aufrüsten, um abzurüsten: In den 1980er Jahren haben wir das für einen dialektischen Trick gehalten, der den Irrsinn der Rüstung vernebeln sollte. Nach Putins indirekter Drohung mit Atomwaffen ist dieser Gedanke das Gebot der Stunde.

Wir müssen vieles denken und befürworten, das uns ungeheuerlich schien. Das Konzept Regime Change gehört nicht dazu.

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(63) arbeitet seit 2001 bei der taz und ist im Parlamentsbüro für die SPD zuständig. Er beschäftigt sich mit Geschichtspolitik, hatte in den 80er Jahren Sympathien für die westdeutsche Friedensbewegung. Die engagiert sich gegen die von Helmut Schmidt und später von Helmut Kohl durchgesetzte Nato-Nachrüstung.

Wir alle wollen angesichts dessen, was mit der Ukraine derzeit geschieht, nicht tatenlos zusehen. Doch wie soll mensch von Deutschland aus helfen? Unsere Ukraine-Soli-Liste bietet Ihnen einige Ansätze fürs eigene Aktivwerden.

▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

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