Wiedergeburt im Geiste des KGB

Das Regime des Wladimir Putin ist nur möglich durch die Passivität der russischen Gesellschaft und die Unterwürfigkeit ihrer politischen Elite

Nun haben uns also Jelzin und seine Umgebung einen Nachfolger aufgedrängt: Wladimir Putin – den Mann mit den eiskalten Augen, wie ihn einst der Menschenrechtler Sergej Kowaljow charakterisierte.

Es scheint, dass der Oberst des KGB/FSB – des Geheimdienstes, der im Verdacht steht, an den Augustanschlägen in Moskau und Wolgodonsk(1) beteiligt gewesen zu sein – dank der Jelzinschen Verfassung fast zum Zaren einer riesigen Atommacht avanciert. Dabei: Er hat keine Erfahrung als Führungsperson im Staatsapparat. Niemand kennt bislang seine politischen und wirtschaftlichen Ansichten. Das Land steckt in einer tiefen Krise. Der Senkrechtstarter Putin kommt aus dem Nichts, dank eines vom „Jelzin-Clan“ entfesselten schändlichen Krieges, mit dem blitzartig die Sympathie eines großen Teils des Volkes erkämpft wurde.

Gibt es dafür eine Bezeichnung? Ein gewöhnlicher Jelzinismus?

Wenn man darüber nachdenkt, was dieser tragischen Situation zugrunde liegt, fällt einem als Symbol der Sturm auf das Denkmal Dscherschinskis(2) vom August 1991 ein. Das Denkmal wurde entfernt, die Geheimdienstzentrale Lubjanka jedoch ließ man stehen. Ungeschoren kamen die Beschäftigten davon, die mit spöttischem Lächeln die Ereignisse von ihren Zimmern aus beobachteten. Alle anderen ehemaligen sozialistischen Staaten machten es umgekehrt: Sie entfernten die Bewohner der Lubjankas. Denn sie alle waren Mitarbeiter von Filialen der verbrecherischen, terroristischen Organisation KGB, die eine ebenso blutige Geschichte hatte wie Hitlers Gestapo. Bis heute dient in anderen einst sozialistischen Staaten die Entlarvung von früheren Verbindungen eines Politikers zu den „Organen“ als Entlassungsgrund. Bei uns jedoch ist die Zugehörigkeit zum KBG eine Empfehlung, hohe Ämter bis hin zur Präsidentschaft zu bekleiden.

Doch das Problem ist nicht nur unsere Nachsicht gegenüber den „Tschekisten“. Das Hauptproblem ist, dass bei uns keine Revolution gegen die Nomenklatura stattgefunden hat.

Die kommunistische Nomenklatura in Sowjetrussland, die alle Zellen der Gesellschaft durchdrang, war extrem hypertroph, unmoralisch und grausam. Gezüchtet unter Stalin, behielt und behält sie immer noch teuflische Züge und reproduziert sich. Jedes Milieu erzeugt eine künstliche und natürliche Auslese von Individuen, die ihren Traditionen und Erfordernissen am besten entspricht. Das, was nicht passt, wird ausgesiebt, hinausgedrängt oder bleibt auf den unteren Stufen der Hierarchie stehen.

Dabei wäre es – nach dem gescheiterten Putsch gegen Gorbatschow vom August 1991, unter den damaligen Bedingungen des politischen Wechsels in allen Zweigen und auf allen Ebenen der Macht – relativ einfach gewesen, sich von der kommunistischen Nomenklatur zu befreien. Jelzin und die hinter ihm stehenden „demokratischen“ Nomenklatura-Kreise, die sich die Gleichgültigkeit und die Gutmütigkeit der russischen Gesellschaft zunutze machten, verhinderten das. In der Folge erdreistete sich Jelzin sogar, sich das als Verdienst anzurechnen: „1991 haben wir eine Hexenjagd und damit eine Revolution verhindert.“ 1992 begann die Nomenklatura(3) dann, ihre für das Land schädliche Reform durchzuführen und sich die Filetstücke der Volkswirtschaft unter den Nagel zu reißen.

Jetzt, aus Furcht vor der im Volk entstandenen Unruhe als Resultat dieser Reform, initiiert die ehemalige kommunistische Nomenklatura (die sich jetzt Elite nennt) als Ablenkungsmanöver eine psychologische und politische Restauration der sowjetischen Weltsicht: so greift eine chauvinistische und antiwestliche Propaganda Platz, die Suche nach Feinden und Verrätern, die Wiederauferstehung des Militarismus und der führenden Rolle der Staatssicherheit. „Ich möchte Sie darüber informieren“, scherzte Putin unlängst bei einer Zeremonie zu Ehren der Lubjanka, „dass eine Gruppe von Mitarbeitern des FSB, die zwecks geheimer Tätigkeit in der Regierung auf Dienstreise geschickt worden war, in der ersten Etappe ihre Aufgaben erfolgeich erledigt hat.“

Jetzt hat wohl die zweite Etappe begonnen – die Dienstreise in den Kreml. Wer ist dieser wichtige Dienstreisende?

Zuallererst ist anzumerken, dass Putin weder die frühere Tätigkeit des KGB tadelt, noch sich seiner Arbeit dort schämt, sondern, im Gegenteil, demonstrativ seine Ehrfurcht ihr gegenüber bekundet. Im Frühjahr 1999 legte Putin aus Anlass von dessen 75. Geburtstag einen Kranz am Grabe Juri Andropows nieder – eines Mannes, der an der blutigen Niederschlagung der ungarischen Revolution von 1956 beteiligt war und die Praxis einführte, Dissidenten in psychiatrische Krankenhäuser zu sperren. Solschenizyn hat diese Krankenhäuser als „Gaskammern der Moderne“ bezeichnet. Und kürzlich wurde im FSB, in Anwesenheit Putins, feierlich das 80-jährige Jubiläum der Staatssicherheitsorgane begangen.(4)

Wladimir Putin als damaliger Chef des FSB und Sekretär des Sicherheitsrates trägt die direkte Verantwortung dafür, dass die Grenzen zu Tschetschenien für Geiselnehmer(5) nicht dicht gemacht wurden. Jeder, und besonders Putin, wusste nur zu gut, wie eine solche Grenze abzusichern ist. Warum das unterblieb, liegt auf der Hand: Im Interesse der Kremlgruppierungen und des Oligarchenkapitals, mit denen Putin sein Schicksal verknüpft hat, lag es, die gespannte Situation in Tschetschenien als Trumpf in der Hinterhand zu behalten.

Verantwortlich ist Putin auch dafür, dass keine Maßnahmen ergriffen wurden, die den Überfall von Truppen der Rebellenführer Bassajew und Chatab auf Dagestan im August 1999 hätten verhindern können. Der FSB musste von der Vorbereitung dieses Überfalls gewusst haben, wenn er ihn nicht selbst provoziert hat. Nicht von ungefähr fiel der Überfall auf Dagestan zusammen mit dem Auftakt zum Präsidentschaftswahlkampf. Zudem hatte der Korrespondent der Wochenzeitung Moskowskije Nowosti, Dmitri Balburow, in der Ausgabe vom 10. bis 16. August geschrieben, dass Tschetscheniens Präsident Aslan Maskhadow Moskau vor den Vorbereitungen eines Überfalls gewarnt hatte.

Ein noch wichtigeres Ereignis, das den neuen Tschetschenienkrieg legitimierte, waren die Anschläge auf Wohnhäuser in Bujnaksk, Moskau und Wolgodonsk. Die Gegner dieses Krieges sagen, dass es bis jetzt keine gewichtigen Beweise für eine „tschetschenische Spur“ bei diesen Anschlägen gibt. Bei alledem vergisst man oder fürchtet sich davor, über „die Spur“ zu sprechen, auf die der versuchte Anschlag auf ein Haus in Rjasan(6) hinweist.

Wir erinnern uns: Die Menschen in Rjasan, in Panik durch die vorhergehenden Anschläge, beobachten verdächtige Personen, die nachts Säcke im Keller des Hauses abladen. Sie benachrichtigen die Miliz, und diese entdeckt im Keller Sprengstoff und einen Zeitzünder. Aufgrund der Bedrohung werden die Hausbewohner evakuiert. Kurz darauf erklärt der neue Direktor des FSB, Patruschew, dass Mitarbeiter seiner Organisation mit dieser Aktion die Wachsamkeit der Bevölkerung und der Organe der Rechtspflege überprüft hätten.

Selbst wenn die Anschläge das Werk tschetschenischer Terroristen gewesen wären und sie die Verantwortung dafür übernommen hätten, hätten diese Anschläge nie als Rechtfertigung dienen dürfen, um einen Krieg gegen das ganze tschetschenische Volk zu führen. Und eben auch – gegen das russische Volk. Angesichts der zerstörten Wirtschaft und des armseligen Budgets führt dieser Krieg unweigerlich zu einem beschleunigten Niedergang Russlands. Außerdem ist es sinnlos, gegen Terrorismus an den Rändern zu kämpfen, wenn man das Übel nicht da anpackt, wo es herkommt, nämlich in Zentral-Russland.

Es geht also darum, nicht nur Putin zu „entlarven“, sondern auch die Passivität der russischen Gesellschaft und ihre Unfähigkeit, das Böse zu erkennen.

Vielfach zitiert wurde Putins Ausspruch „die Banditen noch auf dem Abort kaltmachen“ oder, was den Krieg betrifft „den Nasenrotz nicht lecken“, das heißt eine Sache nicht in die Länge ziehen zu wollen. Kaum jemand wurde auf etwas weit Schlimmeres aufmerksam – Putins Erklärung, dass die Russen „gegenüber den Tschetschenen keine Schuldgefühle haben sollten“. Es findet in etwas mehr als hundert Jahren die vierte Kampagne zu ihrer Vernichtung statt.

Was passiert, wenn ein Volk, das an der Vernichtung eines anderen Volkes beteiligt ist, sich vom Bekenntnis seiner Schuld und Verantwortung befreit?

Die Anhänger Putins schärfen uns ein: „In Tschetschenien vollzieht sich die Wiederauferstehung der russischen Armee, festigt sich der Glaube an die Armee.“ Wie tief muss man sinken, um in der erfolgreichen Auslöschung eines Volkes, das zahlenmäßig der Bevölkerung eines Moskauer Stadtteils entspricht und im Vergleich zur russischen Armee unbewaffnet ist, die Wiedergeburt der Armee zu sehen? Diese Wiederauferstehung ist eine nationale Schande, der sich die Patrioten Russlands schämen sollten.

Putin aber weist die Beschuldigung einer Ausrottung des tschetschenischen Volkes entschieden zurück: „Im Westen spricht man von zahlreichen Opfern unter der Zivilbevölkerung Tschetscheniens; doch wer hat wo die Opfer gesehen?“ Getötete Zivilisten in großer Anzahl haben in Tschetschenien viele Menschen gesehen, jedoch besteht das Unsägliche darin, dass Putin in den rund 200.000 Flüchtlingen offenbar keine Opfer sieht. Man muss schon jede Fähigkeit zum Mitleid verloren haben, um nicht zu verstehen, dass auch Flüchtlinge Opfer sind.

Das Lügengestrüpp, in das Putin und das ganze Land verstrickt sind, verletzt und entmutigt. Da sieht man Putin zusammen mit den Vorsitzenden der Dumafraktionen, wie er sich darüber ausslässt, dass die Präsidentschaftswahlen fair sein und für alle Kandidaten gleiche Bedingungen gelten sollen. Die Fraktionschefs schweigen und stimmen zu, anstatt diese Farce zu boykottieren. Das Ganze hat etwas Kafkaeskes. Zumal die Putin hörigen Staatsmedien gerade erst ihre maßlose Schmutzkampagne der Duma-Wahlen beendet haben. Putin hat dadurch eine gute Vorlage erhalten. Von fairen Wahlen kann keine Rede sein.

Was bedeutet nun Putins Wahl zum Präsidenten? Eindeutig: Mit dem neuen Kremlherren und unter den Bedingungen einer moralischen Unzurechnungsfähigkeit der russischen Gesellschaft und besonders ihrer Eliten, die sich im Speichelleckertum gegenseitig zu überbieten suchen, erwartet das Land vor allem neue schwere Prüfungen und eine wachsende Grausamkeit dessen, was man als Jelzinismus, das heißt einen modernisierten Stalinismus, bezeichnen kann. Die Tschetschenen sind bereits Opfer dieser Grausamkeit geworden, und Putin wird sich „für eine abschließende Lösung der tschetschenischen Frage“ einsetzen oder, wie er es elegant auszudrücken pflegt, für „die Durchführung der Operation bis zu ihrem logischen Ende“.

Ich würde den Menschen, die von der Demokratie enttäuscht sind, nicht raten, darauf zu hoffen, dass der neue Kremlherr mit einer „harten Hand“ im Lande Ordnung schaffen kann. Das wird ihm nicht gelingen. Selbst wenn er über eine solche Hand verfügen würde. Eine Diktatur braucht, um effektiv zu sein, relativ fähige Schichten der politischen Klasse. Bei uns gibt es solche Schichten nicht, die „politische Klasse“ ist durch und durch verfault. Deshalb wird es eine Diktatur wie unter Stalin nicht mehr geben. Doch das Risiko einer „weichen“ Diktatur bleibt.(7) Wenn man beobachtet, wie die politische Elite vor Putin kapituliert und das Volk nur darauf wartet, sich immer wieder betrügen zu lassen, fallen einem die Worte die Worte des russischen Philosophen Nikolai Berdjajew ein: „Im russischen Volk und in der russischen Intelligenz ist der Beginn der Selbstzerstörung verborgen.“

Übersetzung: Barbara Oertel

Anmerkungen

(1) Bei den Anschlägen vom vergangenen August kamen rund 200 Menschen ums Leben. In der Folgezeit dienten diese Ereignisse der Regierung in Moskau immer wieder als Rechtfertigung für den Krieg Russlands gegen Tschetschenien.

(2) Feliks Dscherschinski (1877-1926) gründete den bolschewistischen Geheimdienst Tscheka im Jahre 1917 und leitete deren Mitarbeiter, die so genannten Tschekisten, in den folgenden Jahren.

(3) Die Nomenklatura, die hier gemeint ist, definiert sich nicht mehr, wie noch vor 1991, über die Kommunistische Partei, wenngleich in der Mehrheit personelle Kontinuitäten vorhanden waren. Nur ein Beispiel stellvertretend für viele ist der damalige russische Präsident Boris Jelzin, der mitsamt seiner Familie mittlerweile ein Milliardenvermögen angehäuft haben dürfte. Gleichzeitig ermöglichte die Situation nach dem gescheiterten Putsch von 1991 auch anderen Personen einen Eintritt in die alte, neue Nomenklatura. Zu den Aufsteigern und Profiteuren gehört unter anderen der milliardenschwere Unternehmer und Medienzar Boris Beressowski.

(4) Der Geheimdienst in Russland hat in den Jahrzehnten seines Bestehens mehrmals den Namen gewechselt. Aus der Tscheka wurde im Jahre 1934 der NKWD (Nationales Komitee für innere Angelegenheiten). 1946 mutierte der NKWD zum NKGB (Nationales Komitee für Staatsicherheit), um dann 1954 zum KGB (Komitee für Staatssicherheit) zu werden. Um einen Bruch mit dem alten System zu symbolisieren, verwandelte sich der KGB ab 1991 in den MSB (Ministerium für Staatssicherheit). Seit 1995 trägt die Organisation die Bezeichnung FSB, was so viel wie Föderaler Sicherheitsdienst bedeutet.

(5) Seit dem Ende des ersten Tschetschenienkrieges im Jahre 1996 kam es zu einer wachsenden Kriminalität in der Kaukasusrepublik. Immer wieder erregten Geiselnahmen von Journalisten oder beispielsweise Vertretern internationaler Hilfsorganisationen Aufsehen. Diese wurden, teils von der russischen Regierung, teils (etwa bei Journalisten) von ihrem Arbeitgeber gegen horrende Summen freigekauft. Erst vor wenigen Tagen berichtete der Menschenrechtler Sergej Kowaljow in einem Interview, dass der Milliardär Boris Beressowski allein im vergangenen Jahr im Austausch für die Freilassung von Geiseln umgerechnet zwei Millionen US-Dollar an den tschetschenischen Rebellenführer Schamil Bassajew gezahlt habe. Jedoch nicht aus Nächstenliebe, so Kowaljow, sondern um den Überfall auf Dagestan vorzubereiten. Und dieser wurde zum Auslöser für den Tschetschenienkrieg. So gesehen ist das Engagement Beressowskis auch eine Art – wenn auch auf Umwegen – die Popularität Putins zu fördern.

(6) Der Vorfall von Rjasan ereignete sich ebenfalls im August des vergangenen Jahres.

(7) Dass die politische Klasse „verfault“ ist, meint auch, dass sich deren Exponenten zu ihrem maximalen Nutzen in dem neuen System eingerichtet haben. Daher ist das Schüren der Angst vor einer „roten Gefahr“ in Gestalt der Kommunisten, das bei vielen Wählern, aber auch bei verantwortlichen Politikern im Westen vor den letzten Präsidentschaftswahlen von 1996 noch verfing, weitgehend gegenstandslos geworden. Interessant ist, dass Belozerkovsky an dieser Stelle kein Wort über die Armee verliert. Zwar sind die Truppen in Russland derzeit in einem desolaten Zustand und stellen keinen Machtfaktor dar, wie in anderen Diktaturen. Dennoch macht das Beispiel des Tschetschenienkrieges Putins Bemühen deutlich, sich der Unterstützung der Armee zu versichern. Inwieweit er damit Erfolg hat, bleibt abzuwarten.