Der Westen und Russland: Regime Change – was sonst?
Die einzige Lösung für Frieden ist ein Regime Change in Russland. Dieser muss zugleich den Übergang in eine postfossile Weltwirtschaft einleiten.
U S-Präsident Joe Biden wird gerade für einen Satz mit Kopfschütteln bedacht, der richtiger und wahrer gar nicht sein könnte: Bleibt Wladimir Putin an der Macht, wird die Welt keine Ruhe haben. Putin darf auch sein eigenes Land nicht länger in den Abgrund führen, er kann niemals der Verhandlungsführer über eine „Friedenslösung“ mit und in der Ukraine sein, er gehört vielmehr vor ein Kriegsverbrechertribunal, und die Milliarden, die er mit seinen Spießgesellen zusammengerafft hat, müssen für Reparationszahlungen reserviert sein.
Das sei naiv? Ja sicher, und zwar im Sinne von Immanuel Kants Definition von Naivität als „Ausbruch der der Menschheit ursprünglich natürlichen Aufrichtigkeit wider die zur andern Natur gewordene Verstellungskunst.“ Verstellung war und ist das Kennzeichen aller Verhandlungs- und Kooperationsangebote, die dem Diktator auch nach dem 24. Februar 2022 unterbreitet wurden. Sie entspringen einer sich „realistisch“ nennenden Denkschule der internationalen Politik, die selbst nach Putins Großangriff auf die institutionellen Grundlagen unserer Weltordnung geostrategische „Realitäten“ wie Russlands Großmachtanspruch anzuerkennen bereit ist.
Claus Leggewie ist Ludwig Börne-Professor an der Universität Gießen und befasst sich mit Problemen der Demokratisierung weltweit. 2021 erschien von ihm, zusammen mit Paweł Karolewski: „Die Visegrád-Connection“ (Wagenbach).
Regime Change ist diesem Denken der Gottseibeiuns. Was Biden reklamiert hat, ist übrigens nicht einmal das. Er hat lediglich die Auswechslung der Spitzenposition im Kreml beschworen, also einen Regierungswechsel. Regimewechsel wäre allein die tiefgreifende Demokratisierung der Russischen Föderation, die neben freien und fairen Wahlen die Unabhängigkeit der Justiz und der Medien, der Wissenschaft und Kunst beinhaltete – Elemente, die nach der oberflächlichen Demokratisierung Russlands nach 1991 allesamt wieder unterdrückt worden sind. Eine per Wahlentscheid ermittelte Mehrheit erschien ausreichend, und darauf berufen sich alle anderen Autokraten, die es Putin nachgetan haben, um ihren Demokraturen den Anschein von Legitimität zu geben. „Kompetitiver Autoritarismus“ ist der Fachterminus für diesen Taschenspielertrick lupenreiner Demokraten.
Regimewechsel waren in der Geschichte an der Tagesordnung und sie hatten stets zwei Seiten: den Druck von außen und den Wandel von innen. Ein Regimewechsel, dem wir Heutigen übrigens unsere ganze physische und politische Existenz verdanken, war 1945 Resultat einer kriegerischen Intervention der Antihitlerkoalition, die völlig konträre Weltanschauungen vereinte. Regime endeten auch infolge kontinuierlicher Sanktionen, wie das Apartheid-Regime in Südafrika, welche wiederum die innere Opposition stärkten. Häufig wechselte ein Regime unter dem Druck der Straße, wie zuletzt und allzu rasch konterkariert im „Arabischen Frühling“. Schon der Zusammenbruch der Sowjetunion, der bedeutendste Regimewechsel nach 1945, war Folge eines breiten zivilen Ungehorsams – und zwar in der ČSSR und in Polen. Die folgenden Majdan-Aufstände und bunten Blumen-Revolutionen sind das eigentliche Motiv von Putins vermeintlich irrationalem Handeln. Eher die Ausnahme sind schließlich Regimewechsel durch friedliche Wahlen, deren Ergebnisse von den Herrschenden hingenommen werden – das hofft man jetzt in Ungarn, bald in der Türkei und demnächst in Brasilien zu erleben.
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In der etablierten Diplomatie und Politikwissenschaft sind Regimewechsel verpönt, weil sie eine Einmischung in „innere Angelegenheiten“ eines anderen Staates darstellen und gegen das im Völkerrecht geheiligte Prinzip der nationalen Souveränität verstoßen. Verpönt sind sie auch, weil sie allzu oft ein schieres imperialistisches Machtstreben verbrämten; die vom CIA unterstützten Staatsstreiche in Lateinamerika sind Legion, ebenso die von der Sowjetunion und dem postsowjetischen Russland inszenierten Machtwechsel und der von der VR China erzwungene Regimewechsel in Hongkong. Unter solchen Vorzeichen ist Regimewechsel selbstredend verwerflich, denn es ging – idealtypisch in dem von Moskau veranlassten Februarumsturz 1948 in der Tschechoslowakei und in dem von den USA und Großbritannien 1953 orchestrierten Putsch gegen die progressive Regierung Mohammed Mossadeghs im Iran – allein darum, frei gewählte Regierungen durch Diktatoren wie den Schah und die stalinistische Gottwald-KP in Prag zu ersetzen. Ein Tiefpunkt war der von den USA unterstützte Sturz der frei gewählten Regierung Salvador Allendes in Chile 1973, mit Tausenden von Ermordeten und Zehntausenden von Gefolterten.
Man sieht: Regimewechsel sind ein zweischneidiges Schwert. Die realistische Schule der internationalen Beziehungen führt pragmatische Argumente an, wenn sie Interventionen von außen ablehnt. Das aktuelle Standardbeispiel ist Afghanistan: Selbst wenn man den Sturz der Taliban normativ und moralisch für richtig hielt – er hat eben nachweislich nicht funktioniert. Die Taliban sind erneut an der Macht und können ihr als Gottes Auftrag deklariertes Teufelswerk fortsetzen. Das andere Beispiel eines erfolglosen Regime Change war die (übrigens auch von den größten Falken in den USA nie ganz offen geforderte) Absetzung Saddam Husseins im Irak, die den Mittleren Osten in ein riesiges Chaos stürzte.
Daraus hat der Mainstream der internationalen Beziehungen ein regelrechtes Axiom gemacht, wie zuletzt der Chicagoer Politologe Alexander Downes in seinem Buch „Catastrophic Success. Why Foreign-Imposed Regime Change Goes Wrong“ von2021. Downes hat darin 120 Fälle von außen bewirkter Ablösungen von Regierungschefs zwischen 1816 und 2011 analysiert, doch dieser Statistik fehlt der normative Rahmen, der die Dynamik, Legitimität und Qualität des jeweiligen Regime Change einfängt. Besonders entkernt und objektivistisch sind solche Analysen, wenn der Übergang von Diktatur in Demokratie (und vice versa) neutral als „Transition“ charakterisiert wird.
Denn demnach könnte ausgerechnet ein Paria wie Putin, der sich mit einem Angriffskrieg, mit Kriegsverbrechen und Völkermord in die inneren Angelegenheiten der Ukraine eingemischt hat, weiterhin Autonomie reklamieren, auch wenn er weitere Grenzverletzungen und Okkupationen schon unverhohlen androht. „Realisten“ führen zu seinen Gunsten wieder ein pragmatisches Argument an: Mit wem sonst sollte man einen (faulen) Frieden schließen, wenn nicht mit der bestehenden russischen Regierung? Dass Biden aus seinem Herzen keine Mördergrube machte, wird in der Weltpresse als Provokation eingestuft – als hätte Putin je äußere Anreize für seine Verbrechen benötigt und solche nicht vielmehr erfunden.
Man kennt den Trick: Was er anderen vorwirft, hier also Regimewechsel, hat der Kremlchef selbst höchst aktiv betrieben, indem russische Cyberagenten und Trolle Donald Trump gegen Hillary Clinton aufrüsteten, indem Moskau Rechtsradikale von Marine Le Pen über Alexander Gauland bis Matteo Salvini und Viktor Orbán zur Spaltung der Europäischen Union animierte und Brexiteers wie Nigel Farage zum Erfolg verhalf. Umgekehrt verhinderte Putin überfällige, von Demokratiebewegungen reklamierte Regimewechsel wie in Syrien und Belarus zur Unterstützung von Seinesgleichen.
Zu erwarten, mit dem angeschlagenen Putin (oder einem gleichgesinnten Ersatzmann) einen echten, dauerhaften Frieden aushandeln zu können – das ist im schlechtesten Sinne naiv. Und das gegen Regimewechsel gern angeführt prinzipielle Argument, Demokratieexport verbiete sich per se, weil andere Völker „unsere“ Demokratie überhaupt nicht wollten oder nicht reif dafür wären (oder gar kulturell anders gepolt seien), ist eine Verhöhnung aller, die dort unter Einsatz ihres Lebens für Demokratie, Freiheit und Menschenrechte streiten.
Nur in einem hat der russische Präsident recht: Nicht die Vereinigten Staaten entscheiden über das Regime in der Russischen Föderation, sondern das russische Volk. Bidens Worte richteten sich deshalb in erster Linie an jene Teile der russischen Bevölkerung, die von Putin die Nase voll haben und nicht länger als Geisel für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit herhalten wollen. Diese Adressierung gibt den Modus des unabweislichen Regimewechsels in Moskau vor, nämlich das Zusammenwirken weiter verschärfter Sanktionen mit der Formierung einer inneren Eliten-Opposition und der Politisierung der in Russland seit mehr als einem Jahrzehnt gärenden lokalen Proteste. Sie richteten sich gegen Umweltkatastrophen, Verarmung und Alltagsbeschwerden, hatten aber aufgrund der Unterdrückung der politischen Opposition keine Bündelung und Führung gefunden.
Die wichtigste Aufgabe der Klima- und Friedensdiplomatie besteht nicht in der Anbahnung des Verrats an der Ukraine, sondern in der geduldigen Zerlegung des Blocks, den Russland und China mit dem BRICS-Bündnis im „globalen Süden“ aufgebaut haben. Denn bei dem anderen überfälligen „Regimewechsel“, nämlich der Transformation in eine postfossile Weltwirtschaft, ist auf Regime, die Rohstoffe aus dem Boden holen und die Bodenrenten oligarchisch verteilen, kein Verlass. Im Übergang in eine menschen- und naturfreundliche Welt ist Blockfreiheit keine Option mehr, denn zwischen Rohstoffexport und Autokratie besteht ein enger Zusammenhang. Die Chance, die Putins Aggression zynischerweise auf Kosten des ukrainischen Volkes bietet, besteht darin, mit einem viel weiter reichenden Regimewechsel eine globale Klimapolitik zu ermöglichen, die repressionsfrei nur unter demokratischen Verhältnissen gelingen kann.
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