Putin wählt sich einen neuen Premier

Russlands neuer Regierungschef Michail Fradkow gilt als Mann des Apparats und nicht als Konkurrent des Präsidenten

MOSKAU taz ■ Kremlchef Wladimir Putin ernannte gestern Russlands Botschafter bei der EU in Brüssel, Michail Fradkow, zum neuen Premierminister. Die Wahl des 53-jährigen Fradkow kam für die russische Öffentlichkeit genauso überraschend wie in der vorigen Woche die Entlassung des langjährigen Kabinettschefs Michail Kasjanow. Beobachter und Analysten in Moskau waren zunächst sprachlos, als die Ernennung des neuen Kabinettschefs Punkt 12 Uhr mittags bekannt gegeben wurde. Keines der Institute, die sich erneut mit Kremlastrologie wie zu Sowjetzeiten befassen, führte den studierten Werkzeugmaschinenbauer auf der Liste der potenziellen Kandidaten. Auch in der engeren Umgebung des Präsidenten, schien es, war niemand von der Entscheidung des Präsidenten vorab informiert worden.

Die Mehrheitsfraktion der kremlnahen Partei „Jedinnaja Rossija“ in der Duma sei mit der Entscheidung einverstanden, sagte Wladimir Putin in einer kurzen Erklärung im Fernsehen. Allerdings war die Partei vorher auch nicht zu Rate gezogen worden. Die Art und Weise, wie die Besetzung des zweithöchsten Postens in der russischen Machtvertikale besetzt wurde, zeigt einmal mehr, dass Putin an seinem absoluten Führungsanspruch keine Zweifel aufkommen lassen möchte. Ein Novum ist auch, dass im Vorfeld nicht einmal gerüchteweise der Name des neuen Premiers gehandelt wurde.

Fradkow kann auf eine lange Karriere im Staatsdienst verweisen. Vor seiner Botschaftertätigkeit im Range eines Ministers leitete er von 2001 bis 2003 den föderalen Dienst der Steuerpolizei, die unter seiner Ägide durch prophylaktische Maßnahmen gegen potenzielle Steuersünder einen zweifelhaften Ruf erwarb. Anwälte, Geschäftsleute und Menschenrechtler warnten damals, derartige Praktiken seien eine Vorstufe des Massenterrors. Darüber hinaus sammelte Fradkow als Minister oder dessen Stellvertreter in den 90er-Jahren einschlägige Erfahrungen im Handelsministerium. Bereits 1981 absolvierte er die Akademie für Außenhandel in Moskau.

Dennoch gilt er als ein Vertreter der Fraktion der Siloviki, der Sicherheitskräfte, in der Entourage des Präsidenten und nicht als ein Parteigänger der wirtschaftsliberalen Kräfte. Überdies war Fradkow von 1973 bis 1975 an der russischen Botschaft in Indien als Wirtschaftsberater tätig. Dies lässt darauf schließen, dass er wie Putin ein Mitarbeiter des sowjetischen Geheimdienstes KGB gewesen ist. Das dürfte bei der Entscheidung Putins keine nebensächliche Rolle gespielt haben. Heißt es doch in Geheimdienstzirkeln: einmal KGB, immer KGB.

Die Rolle des Staates in der Wirtschaft dürfte mit einem erfahrenen Apparatschik wie Fradkow zunehmen, während Markt und Investitionspolitik eher in den Hintergrund geraten. Mit Fradkow hat Putin auch die Gefahr gebannt, dass ihm ein politisch selbstständiger Widersacher als Premier erwächst. Fradkow ist nicht nur mit dem Apparat kompatibel, er wird auch keine Ansprüche auf die Thronfolge stellen, die bislang noch dem Verteidigungsminister und KGB-Mann Sergej Iwanow zugedacht ist.

Wie das Parlament, so ist auch der neue Premier nur ein verlängerter Arm der Präsidialadministration. Ins Bild der üblichen Kaderpolitik des Kreml passen auch zwei kleine Details aus der Biografie des Premiers. 1996 berichtete die Iswestija über die Veruntreuung von 4,9 Milliarden Rubel aus dem Staatshaushalt. Fradkows Name fiel in diesem Zusammenhang, woraufhin das Dienstzimmer des Staatsanwaltes „nach einem Kurzschluss“ in Flammen aufging. Die Ermittlungen wurden – vorübergehend? – eingestellt. Und 1998 hatte Fradkow den Direktionsvorsitz des größten ehemals staatlichen Versichtungsunternehmens Ingostrach inne. Da ließe sich, wenn erforderlich, sicherlich auch noch „Kompromat“ finden. Jenes kompromittierende Material, das in Russland dazu dient, aufmüpfige Geister bei der Stange zu halten.

KLAUS-HELGE DONATH