Krieg in der Ukraine: Gegen Soldaten helfen nur Soldaten
Wer Investitionen in Infrastruktur und Soziales gegen notwendige Aufrüstung ausspielt, lebt in der Vergangenheit – und lenkt vom eigenen Versagen ab.

D ie Zivilgesellschaft in Deutschland ist chronisch erfolglos. Autos beherrschen ungebremst den öffentlichen Raum, Kinder und Jugendliche sind eine mit Verachtung für ihre Rechte behandelte Gruppe, das Gesundheitssystem ist ein Klassenregime, das das Elementarste, die Lebenszeit, für die gesetzlich versicherte Hälfte verringert, Abtreibung ist immer noch nicht legalisiert, die Vermögensverteilung ist so, dass man von Verteilung gar nicht sprechen kann, am Anwachsen rechtsextrem-rassistischer Bewegungen und der Etablierung eines illegalen Grenzregimes hat kein noch so kreativer sozialer Widerstand etwas geändert – und wenn mal eine Regierung am Ruder ist, die im mikroskopischen Maßstab linke Inhalte durchzusetzen gewählt worden ist, dann hält sie gegen den Lobbydruck noch nicht mal eine Legislaturperiode durch.
Das alles hat nichts mit dem russischen Überfall auf die Ukraine und der seitdem anstehenden verteidigungspolitischen Umorientierung zu tun. Es sind alte Leiden einer schwachen Bewegung, die sich eben – Beispiel jetzt –, wenn es mit dem Abwenden der Klimakatastrophe unter dem Label „Letzte Generation“ nicht klappt, einfach in „Neue Generation“ umbenennt, als ob das nicht ein schwerwiegendes logisches Problem darstellte.
Insofern gilt unverändert, was Wiglaf Droste vor 30 Jahren in einem Zeit-Interview feststellte: „In Deutschland leben heißt knietief durch Kot waten.“
Dass der Kot durchaus noch höher stehen kann, hat kürzlich der russische Oppositionelle Oleg Orlow in einem Interview mit der linken italienischen Zeitung il manifesto festgehalten.
„Haben Sie den ganzen Nachmittag Zeit?“
Orlow wurde 2024 im Alter von 71 Jahren zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt, von denen er sechs Monate absitzen musste. Auf die Frage des italienischen Kollegen, wie es in Putins Knast war, antwortet er:
„Haben Sie den ganzen Nachmittag Zeit? (lächelt) Verglichen mit den Erfahrungen der politischen Gefangenen in Russland war meine Erfahrung ziemlich leicht. Sie hielten mich in fünf verschiedenen Gefängnissen fest, aber bei mir haben sie nie das angewandt, was wir in Russland ‚Bespredel‘ nennen, das heißt jene kontinuierlichen und systematischen Machtmissbräuche, die Beleidigungen, Demütigungen, bis hin zu Schlägen, Folter und so weiter beinhalten, die das tägliche Brot vieler politischer Gefangener sind. Wie auch immer, es ist sehr hart, es ist kein Ferienhaus (lächelt wieder).“
Hintergrund des Gesprächs mit Orlow ist der Versuch, die Menschenfeindlichkeit des Putin’schen Mafiaregimes einem linken, italienischen Publikum vor Augen zu führen, das in noch höherem Ausmaß als in Deutschland diese Gefahr nicht wahrhaben will beziehungsweise bewusst leugnet und die notwendigen analytischen wie materiellen Anpassungen ablehnt; wobei sich darin wie in der Verächtlichmachung des ukrainischen Freiheitskampfs auch in Italien die Ränder von ganz links bis ganz rechts innig einig sind.
Noch mal: Es sind nicht das 5-Prozent-Ziel und nicht die Hilfe für die gemarterte Ukraine, die Deutschlands Infrastruktur zerbröseln lassen und vielen Menschen ihre Zukunftschancen beschneiden. Wenn man dafür partout die Schuld nicht bei sich selbst suchen möchte, muss man sich schon als erste Adresse an Frau Merkel wenden, denn sie war von November 2005 bis Dezember 2021 Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland.
Deutscher Sozialpazifismus
Ausgerechnet jetzt auf die Idee zu kommen, den Schutz des bisschen rechtsstaatlichen und zivilisatorischen Firnisses, den dieses Land seit der (militärischen – you remember?) Befreiung vom Nationalsozialismus dann doch bewahrt und entwickelt hat, gegen zu reparierende Brücke auszuspielen, kann nur bedeuten, dass man über diese Brücke russische Panzer fahren lassen möchte. Beziehungsweise französische, britische oder griechische oder wer sonst bereit sein wird, den sich ja zuletzt in der Eurokrise wieder einmal auf dem Kontinent höchst beliebt gemacht habenden Deutschen im Ernstfall zu Hilfe zu kommen.
Es ist diese arrogant-koloniale Attitüde, die am deutschen Sozialpazifismus besonders unangenehm ist und die, nicht ganz überraschenderweise, sich in Russland wiederfindet, wo auch ein Herrenvolk gern andere die Drecksarbeit machen lässt.
Orlow sagt auf die Frage, welche Menschen aus Russland eigentlich konkret in der Ukraine kämpfen, töten und sterben, es seien solche aus „den ärmsten Regionen, wo der Krieg unterstützt wird, weil Krieg Geld bedeutet. Man entscheidet sich dafür, seine Kinder und seine Ehemänner an die Front zu schicken und dafür eine Geldsumme zu erhalten, die sie, glauben Sie mir, niemals in ihrem ganzen Leben sehen könnten. Der Krieg ist für einige eine sehr wichtige Einnahmequelle.“
Niemand hat Bock auf welche Form von Wehrdienst auch immer. Alle möchten lieber Geld für schöne Dinge ausgeben, anstatt für Killerdrohnen. Aber gegen Soldaten helfen nun mal nur Soldaten.
Aufgabe fortschrittlicher Kräfte in diesem Land ist es nicht, von vergangenen Versäumnissen und Niederlagen abzulenken, sondern den Prozess kritisch zu begleiten, der die Bundesrepublik als zentrale, solidarische Kraft der gesamteuropäischen Verteidigung etabliert. Denn die größte Schwäche von allem was links ist, ist derzeit: Friedrich Merz schützt die Freiheit von uns allen besser als sie.
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