Junge Menschen in der Arbeitswelt: Wir sollten noch weniger arbeiten!
Unsere Eltern konnten sich von ihrer Lohnarbeit vielleicht mal ein Reihenhaus kaufen – das ist vorbei. Liebe Ältere, zeigt mal mehr Solidarität.
E s war vielleicht in der 6. Klasse, da schrieb eine meiner Lehrer:innen an die Tafel: „Die Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte. Die jungen Leute stehen nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widersprechen ihren Eltern, schwadronieren in der Gesellschaft, verschlingen bei Tisch die Süßspeisen, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.“ – „Was glaubt ihr, wie alt das Zitat ist?“, fragte die Lehrkraft. Ich erinnere mich daran, wie erstaunt wir waren, dass das Zitat von Sokrates stammt und 2.000 Jahre alt ist. Ich wünschte, ich könnte erzählen, dass wir danach die Beine auf den Tisch gelegt haben. Aber der Unterricht ging ganz normal weiter.
Empfohlener externer Inhalt
Das Zitat von Sokrates geht dieser Tage auch durch die Kommentarspalten der taz, denn vergangene Woche schrieb eine Kollegin an der gleichen Stelle, dass die „Jungen“ nicht mehr arbeiten wollen und meinte damit vor allem Millennials – also Menschen, die um die Jahrtausendwende geboren wurden. Sie wollten Freizeit, Freiheit, Homeoffice und dazu noch flexible Arbeitszeiten.
Das Echo auf den Text war groß – Wut, Verwunderung und Zuspruch, es war alles dabei. Am Mittwoch gab es auf dem Forum Reddit in vier Subreddits Diskussionsposts zum Thema mit mehr als 900 Kommentaren. Ich glaube, dass im Sokrates-Zitat der Kern dessen steckt, woran viele schier verzweifeln: Manchen Boomern fehlt der Perspektivwechsel. Die Lebensrealität aus der Jugend der Älteren ist nicht vergleichbar mit der gegenwärtigen Wirklichkeit. Anders gesagt: Das Arbeitsmodell aus dem 20. Jahrhundert passt nicht zum Leben des 21. Jahrhunderts. Trotzdem läuft es seit Jahrzehnten irgendwie gleich mit der 40-Stunden-Woche, aber auf die komme ich später nochmal zurück.
Unsere Eltern konnten sich von ihrer Lohnarbeit vielleicht mal ein Reihenhaus kaufen. Für mich ist das so schwer vorstellbar, ich hämmere es mehrmals in die Tastatur, weil meine Finger „Wohnung“ statt „Reihenhaus“ tippen. Dabei können sich viele Millennials auch keine Wohnung leisten. Der Begriff Millennial an sich ist übrigens nicht unproblematisch, weil ich da als vergleichsweise privilegierte weiße Journalistin genauso drunter falle wie eine schwarze Person, die im strukturell rassistischen Deutschland ganz anderen Herausforderungen gegenübersteht.
Warum gibt es eigentlich die 40-Stunden-Woche noch?
Laut Statistik verdient dieses Konstrukt „Millennial“ zwar mehr als die Menschen in allen Generationen vor ihm – gestiegene Lebenshaltungskosten und die Inflation sorgen aber dafür, dass Millennials durchschnittlich weniger davon haben. In den USA sind Boomer laut Business Insider zehn Mal so reich wie die Generation Jahrtausendwende.
Viele fragen sich: Warum Überstunden machen für einen Job, der uns nicht mehr geben kann, was unsere Eltern wollten? Zudem wissen wir inzwischen, dass zu viel Lohnarbeit krank macht – laut dem DAK-Gesundheitsreport haben 8,6 Millionen Menschen ein erhöhtes Herzinfarkt-Risiko durch eine psychische Erkrankung oder arbeitsbedingten Stress.
Im Jahr 2021 machten Arbeitnehmer:innen laut einer Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage der Linken etwa 1,3 Milliarden Überstunden. Etwa 700 Millionen davon wurden nicht bezahlt – und Betriebe profitieren davon mit einem zweistelligen Milliardenbetrag. Besonders profitieren sie von Arbeitnehmer:innen, die befristet angestellt sind. Im Homeoffice sammeln die meisten etwa vier Überstunden pro Woche, im Büro „nur“ 2,7. Auch unter den vielen Überstunden leiden Beschäftigte: So schreibt die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin davon, dass „die Variabilität der Arbeitszeit als ungünstig für die Gesundheit von Beschäftigten zu bewerten“ sei. Und: „Die Arbeit findet dann häufig zu ungünstigen Zeiten statt, worunter auch die soziale Strukturierung des Lebens leiden kann.“
Anders gesagt: Der Kinoabend mit Freund:innen wird verschoben, weil etwas auf der Arbeit nicht ohne Überstunden funktioniert. Viele machen das nicht mehr mit, einige Journalist:innen schreiben schon über „quiet quitting“, einen angeblichen Trend, bei dem die Arbeitnehmer:innen nicht mehr machen, als von ihnen verlangt wird. Für mich klingt allein schon die Bezeichnung nach Arbeitgeber:innen-Perspektive. Warum sollte es denn nicht okay sein, wenn man nicht mehr Aufgaben macht, als bezahlt werden?
Ich glaube nicht daran, dass sich unablässig produktiv arbeiten lässt. Das Gehirn braucht Pausen. Und: Arbeit kann Sinn schaffen, für manche Menschen sogar Lebenssinn sein, sie muss es aber nicht. Für viele ist es einfach der Weg, die in den letzten Jahren gestiegenen Lebenskosten zu bezahlen, und dafür macht man nicht alles mit, was Arbeitgeber:innen von einem wollen. Sie arbeiten, um zu leben, nicht umgekehrt.
Zumal Fachkräftemangel herrscht und die Verhandlungsposition junger, einigermaßen okay ausgebildeter Menschen so gut ist wie seit Jahren nicht mehr. Hat uns der Kapitalismus nicht gelehrt, dass das Angebot und Nachfrage den Preis bestimmen? Na also: deal with it!
Eigentlich sollten wir Millennials aus dieser Position der Stärke sogar viel mehr fordern. Warum gibt es eigentlich die 40-Stunden-Woche noch?
Das Arbeitsmodell hat sich in Deutschland jahrzehntelang nicht verändert. In den 1950ern machte der DGB eine Kampagne zur Einführung der Fünftagewoche in Westdeutschland. Der Slogan: „Samstags gehört Vati mir.“ Patriarchaler geht es kaum, entsprechend kam die 40-Stunden-Woche vor allem für Männer. Frauen arbeiteten natürlich weiter länger: Sie kochten, spielten mit den Kindern, saugten, wischten, organisierten die Freizeit. In Ostdeutschland erledigten die Frauen all das nach ihrer Lohnarbeit.
Frauen hielten damals wie heute den Männern den Rücken frei, damit sie sich voll und ganz auf die Lohnarbeit konzentrieren können. Auf dieses Leben haben zum Glück immer weniger Menschen Lust. Die 40-Stunden-Woche muss weg.
Statt zu schimpfen, könnten Ältere sich freuen
Seit Mitte Juni 2022 testen in Großbritannien über 70 Firmen mit rund 3.300 Arbeitnehmer:innen die Vier-Tage-Woche bei vollem Gehalt. Inzwischen gibt es erste Ergebnisse, und die sagen: So zu arbeiten, hat keine negativen Auswirkungen auf die Produktivität, mancherorts ist man sogar noch produktiver.
Doch wer Sorgearbeit leistet, dem kann auch eine Vier-Tage-Woche zu viel sein. Die Soziologin Frigga Haug – kein Millennial, sondern Jahrgang 1937 – ging noch weiter in der „Vier-in-einem-Pespektive“: Bei acht Stunden Schlaf am Tag bleiben 16 wache Stunden, in denen man vier Stunden für Lohnarbeit, vier Stunden für Sorgearbeit, vier Stunden für Müßiggang und Kreativität und vier Stunden für zivilgesellschaftliches und politisches Engagement aufwendet.
Ihre Idee besteht bis heute: Beim vergangenen feministischen Kampftag präsentierte die Vier-Stunden-Liga an der Volksbühne die Vorstellung von vier Stunden Lohnarbeit bei vollem Lohn. Ich war mit einer Freundin dort, die mit den Schultern zuckte, sie wusste schon Bescheid: „Ich war neulich bei einen Vortrag von ihnen“, erzählt sie. Klar! Sie ist gut informiert, setzt sich in ihrer Freizeit in verschiedenen Formen fürs Klima und Geflüchtete ein, rettet Lebensmittel – und hat für all das Zeit, weil sie nicht in Vollzeit arbeitet.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
„Ich habe von den jungen Kollegen gelernt und bin nicht mehr im 40h-Knast. Je älter ich werde, desto wichtiger erscheint mir Zeit, die will ich nicht auf Arbeit verbringen“, schreibt ein:e Reddit-User:in zum Arbeitszeit-Artikel der Kollegin von vergangener Woche.
Genau, das trifft es. Wenn jüngere Leute schon dafür kämpfen, dass die Verhältnisse am Arbeitsplatz besser werden, dann könnte man als ältere Generation doch auch mal dankbar sein oder sich sogar solidarisch zeigen und mitmachen bei der Verschönerung des Lebens. Sokrates ist seit 2000 Jahren tot. Es wird Zeit für was anderes.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
SPD im Vorwahlkampf
Warten auf Herrn Merz