Philosoph über Arbeitszeitverkürzung: „Viele Berufe werden aussterben“

Michael Cholbi forscht zum Arbeitsdogma – und wie wir es überwinden. Letzteres hält er nicht nur für erstrebenswert, sondern auch für notwendig.

Zeichnung eines Fuchses der an die Trauben will

Das Schöne ist oft unerreichbar – wenn man sich damit zufrieden gibt Illustration: taz

taz: Herr Cholbi, macht Sie Ihre Arbeit glücklich?

Michael Cholbi: Na ja, den perfekten Job gibt es wohl nicht. Aber ich habe schon das Gefühl, dass meine Arbeit mich erfüllt. Als Uni-Professor darf ich über Dinge nachdenken, die ich für wichtig halte, bin recht frei in dem, was ich erforsche, und darf ständig dazulernen.

2018 haben Sie geschrieben, dass Arbeit gar nicht wirklich glücklich machen kann und wir uns unsere Jobs nur schönreden. Machen Sie das jetzt auch?

Das will ich nicht hoffen, könnte aber schon sein. In unserem gesellschaftlichen System wird es mir – wie allen anderen auch – schwergemacht, einfach mit der Arbeit aufzuhören. Insofern könnte es schon sein, dass Arbeit auch für mich eine adaptive Präferenz ist.

Der Philosoph wurde 1972 in den USA geboren. Er ist Professor und Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie an der Universität von Edinburgh, Schottland. Cholbi beschäftigt sich vor allem mit Fragen der theoretischen und praktischen Ethik. In diesem Jahr erscheint das von ihm herausgegebene Buch „Debating a post-work future: perspectives from philosophy and the social sciences“.

Adaptive Präferenzen sind der Kern Ihrer Forschungsarbeit gewesen. Können Sie den Begriff erklären?

Adaptive Präferenzen sind Vorlieben, die man hat, weil man in seiner Autonomie eingeschränkt ist. Zum Beispiel, wenn man keinen Zugang zu Alternativen hat. Der Philosoph Jon Elster hat den Begriff geprägt. Sein prägnantestes Beispiel ist die Fabel des griechischen Dichters Äsop vom Fuchs und den Trauben. In der Geschichte geht es um einen Fuchs, der an einer Weinrebe vorbeigeht und Lust bekommt, die Weintrauben zu essen. Er springt hoch und versucht heranzukommen, aber es will und will ihm nicht gelingen. Schließlich wendet er sich beleidigt ab und sagt: Die Trauben sind mir eh zu sauer. So wie der Fuchs in der Fabel passen auch Menschen manchmal ihre Präferenzen an, je nachdem, wie verfügbar etwas ist. Bestimmte Dinge, die sonst als etwas Positives gesehen werden, sind dann doch nicht mehr so begehrenswert, einfach weil sie nicht erreichbar sind.

Gibt es dafür auch praktische Beispiele?

Ein gern zitiertes Beispiel sind Frauen, die von ihrem Partner geschlagen werden und trotzdem in der Beziehung bleiben möchten. Oft kommen sie zu dem Schluss, dass sie das Leid verdient haben oder dass es ihre Aufgabe ist, das Leid zu ertragen. Die Frauen haben ihre Präferenzen an eine Situation angepasst, aus der sie keinen Ausweg sehen. So ähnlich ist das auch, wenn wir arbeiten. In unserer Gesellschaft gibt es bestimmte soziale Zwänge, die es sehr schwermachen, nicht zu arbeiten. Uns bleibt also keine andere Möglichkeit, als uns mit der Arbeit anzufreunden.

Welche sozialen Zwänge sind das konkret?

In unserer Gesellschaft steht die Arbeit im Mittelpunkt. Ein Menschenleben wird zu großen Teilen danach bewertet, wie engagiert jemand gearbeitet hat und wie hochwertig und bedeutsam seine Arbeit war. Wer nicht arbeitet, wird häufig nicht mehr als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft betrachtet. Ganz abgesehen davon, dass man finanziell stark eingeschränkt ist. Wie wichtig Arbeit in unserer Gesellschaft ist, merke ich als Uni-Professor auch an den jungen Leuten. Oft können die sich gar kein Leben ohne Arbeit vorstellen. Sie können sich keine Gesellschaft vorstellen, in der Arbeit nur einen marginalen Teil des sozialen Lebens darstellt.

Wir leben in einer Zeit des Fachkräftemangels. Ist es nicht eine gute Sache, wenn wir Arbeit als etwas Schönes sehen?

Theoretisch schon. Ich bin nicht grundsätzlich gegen Arbeit. Als Philosoph denke ich aber, dass wir Dinge aus den richtigen Gründen als schön und wertvoll empfinden sollten.

In Ihrem Artikel von 2018 klang es so, als könnten wir schon in wenigen Jahren alle arbeitslos sein. Haben Sie Ihre Meinung geändert?

Ich hatte damals noch andere Erwartungen an die Zukunft. Ich dachte, dieser Prozess, dass Menschen von Robotern und Künstlicher Intelligenz ersetzt werden, würde viel schneller gehen. Wenn dann viele Menschen ihre Arbeit plötzlich verlieren, gleichzeitig aber ihre Identität und ihr Gefühl von sozialer Integrität ganz stark auf der Arbeit fußt, könnte eine solche Entwicklung eine kollektive Sinnkrise auslösen. Mittlerweile habe ich meine Meinung dazu geändert, wie schnell das passiert. Der Wechsel hin zur Automatisierung wird viel langsamer gehen.

Was hat Sie dazu gebracht, Ihre Meinung zu ändern?

Ganz maßgeblich die Pandemie. Gerade Berufe in der Pflege oder Bildung werden in unserer Gesellschaft immer wichtiger und werden sich auch langfristig nicht so schnell durch Künstliche Intelligenz und Automatisierung ersetzen lassen. Hinzu kommt, dass unsere alternde Gesellschaft immer weniger arbeiten kann und gleichzeitig immer pflegebedürftiger wird. Das alles sorgt dafür, dass Menschen im Moment trotz Technologisierung und Automatisierung weiterhin Arbeit finden.

Das heißt, wir müssen unsere Einstellung zur Arbeit gar nicht ändern?

Doch, denn die Automatisierung schreitet weiter voran. Langfristig werden viele Berufe aussterben.

Und das wird uns alle in eine Sinnkrise stürzen?

Das ist zumindest gut möglich. Die Politik ist verpflichtet, an dieser Stelle eine sanfte Landung zu ermöglichen. Wir müssen weg von der arbeitszentrierten Gesellschaft, hin zu einer Gesellschaft, in der andere Dinge im Mittelpunkt stehen.

Was zum Beispiel?

Man muss Menschen ermöglichen, Dinge außerhalb ihrer Arbeit zu finden, für die sie Leidenschaft entwickeln können. Das kann Kunst oder Kultur sein, aber auch soziales oder politisches Engagement. Ich denke, dass insbesondere die Bildung viel bewirken könnte. Schulische Bildung darf sich nicht mehr nur darum drehen, irgendwann einen Job zu finden, sondern muss auch dabei helfen, sich auf andere Weise selbstwirksam zu fühlen, zum Beispiel, indem man ein engagiertes Mitglied der eigenen Community wird. Zufriedenheit auch über andere Wege als den Job zu erlangen, kann man lernen. Die Politik kann das ermöglichen, indem sie den Bür­ge­r:in­nen erstens eine finanzielle Grundsicherung ermöglicht und ihnen zweitens Zeit verschafft, andere Leidenschaften zu finden. Das ist eine Entwicklung, die auch aus der Bevölkerung heraus entstehen kann. Das passiert jetzt bereits.

Wie das?

In der Pandemie haben viele Menschen angefangen zu hinterfragen, wie groß die Rolle sein soll, die Arbeit in ihrem Leben einnehmen darf. Nach der Umstellung auf Homeoffice wehren sich aktuell viele Menschen dagegen, wieder ins Büro zu gehen. In Großbritannien testen viele Unternehmen die 4-Tage-Woche. Immer mehr Menschen fordern bei ihren Ar­beit­ge­be­r:in­nen Rechte ein. Das ist eine Art kultureller Pushback gegen die arbeitszentrierte Gesellschaft.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Und am Ende dieser Entwicklung ist Arbeit für uns alle nur noch Nebensache?

Vielleicht. Das kann ja individuell unterschiedlich sein. Langfristig geht es gar nicht darum, Arbeit abzuschaffen, sondern dafür zu sorgen, dass sie nicht so stark im Lebensmittelpunkt steht. Wir sollten unterschiedliche Beziehungen zur Arbeit ermöglichen, die nebeneinander existieren dürfen. Wer zufrieden ist, indem er oder sie tagtäglich am Strand entlangspaziert und Muscheln sammelt, soll genau die gleiche gesellschaftliche Akzeptanz erfahren wie Work­aholics.

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