Isolation in der Coronakrise: Sperrt uns ein!
Belasten die Älteren die jüngere Generation in der Corona-Krise über die Maßen? Einige taz-LeserInnen wollen in die freiwillige Selbstisolation.
Manchmal ist die Entstehungsgeschichte eines Artikels für sein Verständnis unerlässlich. Diese geht so: Vor zwei Wochen schrieb ich einen Kommentar für die taz. Ich regte an, die psychisch wie ökonomisch belastenden Kontaktsperren, Schulschließungen und Arbeitsverbote im Kampf gegen das Coronavirus doch bitte wissenschaftlich begleitend auf ihre erwünschten wie unerwünschten Effekte hin zu erforschen und die Effekte gegeneinander abzuwägen (nebenbei sparte ich nicht an Selbstmitleid mit mir, meinen Kindern, unserem ganzen gedownlockten Leben).
Derweil lieferte sich mein Mann, ein ins Homeoffice verbannter Staatsrechtler, mit seinen Uni-Kumpels auf verfassungsblog.de eine kultivierte Argumenteschlacht zur Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen. Wir diskutierten die Grenzen unserer gesettelten Akademikersolidarität mit Millionen vor allem älteren Menschen, die neuerdings „Risikogruppe“ heißen. Und für die im Fall einer Infektion mit dem Virus die Wahrscheinlichkeit, daran unter fürchterlicher Atemnot zu sterben, viel größer ist als für uns. Wir rechneten mit Schelte.
Und dann kam das.
Samstag, 28. März 2020, 13.55 Uhr, das E-Mail-Postfach meldet einen Eingang: „Sehr geehrte Frau Haarhoff, sehr geehrte Damen und Herren, ich bin 81 Jahre alt, mein Mann 79, wir sind beide völlig klar im Kopf.“ So beginnt die Zuschrift der taz-Leserin Marianne Erlenbruch aus dem Rheinisch-Bergischen Kreis. Nach Lektüre des Kommentars, schreiben die Erlenbruchs, wollen sie gern mitteilen, was ihnen auf der Seele liegt: „Wir sind nicht damit einverstanden, dass eine Masse von […] jungen MitbürgerInnen […]), alleinerziehenden Müttern, Familienmüttern und -vätern, eine Unzahl Erwerbstätiger einseitig dafür zur Verantwortung gezogen werden, dass wir Alten überleben.“
Einseitig dafür zur Verantwortung gezogen werden, dass wir Alten überleben?! Was Marianne Erlenbruch und ihr Mann Günther da per Leserbrief verlangten, war nicht weniger als die Aufhebung des staatlich verordneten Stillstands und das Ende der Rücksichtnahme auf ihre Generation – zu ihrem Schaden. Wie das?
Ich gestehe, dass ich auch die folgenden Sätze ihres Briefs mehrmals las: „Dass Unmengen von Menschen in die Vernichtung ihrer materiellen Existenz getrieben werden durch Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit, Insolvenz etc. Während wir, die Alten von heute, die reichste Rentner- und Pensionärsgeneration sind, die Deutschland je hatte! Die Alten, die luxuriöse Kreuzfahrten machen und in eigenen Immobilien leben. Die über Alterseinkünfte verfügen, die oftmals exorbitant über dem mageren Einkommen alleinerziehender Mütter liegen. Die den Jungen eine klimaverwandelte Erde hinterlassen, auf der diese kaum noch überleben können. Wir schämen uns für unsere reiche Altengeneration, die die Jungen über jedes erträgliche Maß hinaus belastet.“
Die Erlenbruchs, radikale Verfechter einer bizarren Einzelmeinung? Auszuschließen war das nicht. Aber dann meldeten sich weitere Menschen jenseits der 75 – Bekannte, Freunde, Verwandte, alles nicht repräsentativ, schon klar. Und es kam eine zweite E-Mail. „Mein 81-jähriger Vater“, schrieb Thorsten Kingreen, ein Kollege meines Manns, „hat es seinen Enkeln gegenüber gerade am Telefon noch drastischer formuliert: Wie können wir Alten allen Ernstes von euch Jungen Solidarität und Verzicht auf Lebensplanungen einfordern, zu der wir selbst beim Klimaschutz nie bereit waren?“
Ich griff zum Hörer.
„Kingreen!“ Die Stimme hellwach, der Ausdruck präzise, der Ton aufgeräumt. Keine Frage: Auch Christian Kingreen, 81 Jahre alt, niedergelassener Hautarzt mit eigener Klinik in Hagen seit 1970, ist, um es mit den Erlenbruchs zu formulieren, „völlig klar im Kopf“. Bis Mitte März, erzählt der Arzt, habe er noch operiert, aber dann hätten er und die drei anderen Kollegen beschlossen, in den Notbetrieb zu gehen; das Risiko der Praxisschließung war zu hoch. Für Kingreen und seine Frau Hildegund, 79, ein Anlass, auch die eigene Situation grundsätzlich zu reflektieren, ihr bisheriges Leben zu überdenken – und einen weitreichenden Entschluss zu fassen, der mehr sein soll als ein Symbol: „Wir haben uns bis auf Weiteres in freiwillige Quarantäne begeben.“
Christian Kingreen
Als Arzt wusste er: „Es wird die Zahl der schweren Infektionen verringern, wenn die Gruppe der über 75-jährigen zu Hause bleibt, und je mehr Alte dies tun, desto früher können die Jungen wieder raus.“ Als Großvater dachte er: „Ich kann die Solidarität der Jungen nicht verlangen.“ Als Bürger entschied er: „Ich muss jetzt Verantwortung übernehmen, was meiner Generation bislang eher wenig und in der Klimapolitik jedenfalls überhaupt nicht gelungen ist.“
Fahrrad fahren? Spazieren gehen? Selbst im Supermarkt schauen, worauf man Lust hat? Ist alles nicht mehr; der Ausgang der Kingreens endet jetzt an ihrem Grundstückszaun, die Einkäufe erledigen die Kinder und die Enkel, Unterhaltungen sind nun auf Telefonate reduziert. Besonders seiner Frau, sagt Christian Kingreen, falle das Leben in der Selbstisolation schwer, und dabei hätten sie es noch gut mit eigenem Garten und vor allem der Gewissheit, dass sie gerade zwar allein, aber bestimmt nicht einsam sind mit sechs Kindern und elf Enkelkindern, die sich um sie sorgen.
Wie lange hält man das eigene Weggesperrtsein aus? Er wisse es nicht, sagt Kingreen, aber was er wisse, sei, dass es bei seiner Entscheidung auch um Scham gehe, er klingt jetzt nachdenklich: „Scham für eine Not, auch wenn man keine Mitschuld daran trägt.“ Für Corona könne freilich weder er noch irgendwer sich schämen, wohl aber für den Zustand, in dem er und seine Generation den Planeten den Nachfolgenden überließen.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Und deshalb, sagt Christian Kingreen, soll es bei dem selbst gewählten Verzicht allein nicht bleiben. Wenn es nach ihm geht, dann sollen diejenigen Alten, die es sich dank ihres Vermögens leisten können, freiwillig einen finanziellen Beitrag leisten, um die wirtschaftliche Katastrophe abzumildern, unter der insbesondere die Jungen nach der Pandemie leiden werden. „Ich denke an eine Stiftung, ‚Alt für Jung nach Corona‘, oder vielleicht einen Fonds, aus dem dann in Ausbildung, Weiterbildung und Beschäftigung investiert werden könnte.“
Die Erlenbruchs, die Leserbriefschreiber aus dem Rheinisch-Bergischen Kreis, wären sofort dabei. „Wir appellieren an alle Verantwortlichen: Sorgen Sie dafür, dass auch wir Alten einen substanziellen Beitrag leisten, um diese Krise bewältigen zu helfen! Das Mindeste ist, dass WIR ALTEN uns längere Zeit zu Hause isolieren und dass sie die Jungen und sehr Jungen bald wieder hinauslassen und dass all diejenigen RentnerInnen und PensionärInnen, die über üppige Renten, Pensionen und Einnahmen aus Vermögen, Vermietung und Verpachtung verfügen, finanziell herangezogen werden.“ So hatten sie es in ihrer E-Mail geschrieben.
Jetzt, am Telefon, sagt Marianne Erlenbruch, sie fände eine Kürzung auf 60 Prozent fair, nicht pauschal und nicht bei allen Rentnern, aber bei pensionierten Lehrern wie ihrem Mann und ihr allemal. Französisch und Deutsch hat sie unterrichtet, Deutsch und Geschichte er; den Jüngeren Wissen zu vermitteln, aber vor allem mit ihnen zu diskutieren und immer wieder zu hinterfragen, was Gerechtigkeit sei, das haben sie beide geliebt an ihrem Beruf, sagt Marianne Erlenbruch. Drei Kinder haben sie selbst großgezogen, fünf Enkelkindern fühlen sie sich verpflichtet. „Wir dürfen die Jungen nicht ausquetschen“, sagt Marianne Erlenbruch, „wir Alten sind nur noch ein paar Jahre auf der Erde, aber unsere Enkel und Urenkel werden mit der kaputten Wirtschaft leben.“
Jeder Einzelne, sagt Marianne Erlenbruch, trage Verantwortung – für sein Verhalten, aber auch dafür, sich selbst vor Gefahren zu schützen. „Wir Alten können nichts dafür, dass wir gefährdeter sind als andere, aber wir können verzichten.“ Deswegen geht Günther Erlenbruch jetzt beispielsweise nur noch einmal pro Woche einkaufen.
Es sind lange, nachdenklich machende, aber auch sehr fröhliche Gespräche am Telefon mit Christian Kingreen in Hagen und mit Marianne Erlenbruch im Rheinisch-Bergischen Kreis, und kaum hat man aufgelegt, denkt man, dass man noch so gern so viel mehr über sie erfahren würde, über ihre Leben, und vor allem würde man sie gern sehen, sie besuchen fahren, persönlich mit ihnen sprechen. Ach, Corona. Aber ein Foto wenigstens?
E-Mail vom 4. April, 13.49 Uhr. „Liebe Frau Haarhoff, wir haben die Photofrage in unseren Herzen bewegt und eine Nacht darüber geschlafen. Ein aktuelles Photo von uns wollen wir wirklich nicht in einer Zeitung haben, aber ich schicke Ihnen eines unserer Lieblingsphotos von uns beiden, als wir ein junges Liebespaar waren. Es passt doch prima zu unserem Anliegen: ein altes Ehepaar, das auch einmal jung war, setzt sich für die Jungen ein, die nicht über alle Maßen für die Alten in die Pflicht genommen werden sollen.“
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