Debatte über Klimaaktivismus: Wie man zu protestieren hat

Wir sind ein zivilisiertes Land, drum wird zivilisiert demonstriert! Bitte dankbar bleiben, gemäßigt – und niemanden während der Arbeitszeit stören!

Eine frau und ein Mann haben ein Plakat der Letzten Generation vor einem Madonnengemälde entrollt und halten sich am Rahmen fest

Aktivisten der „Letzten Generation“ vor Madonna von Raffael in der Gemäldegalerie Dresden Foto: Sebastian Kahnert/dpa

Es gibt Regeln, und das geht jetzt wirklich zu weit. Protestieren, okay, Kritik äußern, ja, aber bitte höflich und respektvoll. Nicht zu laut werden hier, und was soll denn das mit dem Sekundenkleber? Und die Tomatensuppe! Der Kartoffelbrei! Die Erbsen! Das ist Lebensmittelverschwendung. Das ist Terror. Das trifft die Falschen. Das gehört sich einfach nicht. Und vor allem, und das ist das Allerschlimmste: Überzeugen wirst du damit niemanden.

Selbst Schuld also. Wenn die Polkappen schmelzen und der Meeresspiegel steigt, Städte überflutet werden und Wälder abbrennen, Bienen sterben und Vögel tot vom heißen Himmel fallen, Menschen verhungern und das Trinkwasser versiegt, wenn Politiker und Journalisten dich für den Tod einer Radfahrerin verantwortlich machen, noch bevor der Fall untersucht wurde, und wenn du sicherheitshalber als verdächtige Chaosaggroaktivistin 30 Tage ohne Prozess im Gefängnis landen kannst – selbst schuld, dass da niemand was tun will!

Der Ton macht nämlich die Musik. Lächel doch mal, zeig ein Mindestmaß an Respekt. Gegenüber dem Staat und seinen Regeln, auch wenn der Staat nicht immer respektvoll ist und die Regeln nicht immer sinnvoll. Gegenüber dem toten Maler, dessen Werk ich ehrlich gesagt kaum kenne, aber der zweifellos etwas geschaffen hat, das ich stärker beschützen will als unseren Lebensraum.

Gegenüber den einfachen Leuten, die zur Arbeit müssen oder in den Flieger. Und vor allem gegenüber der Art und Weise, wie wir die Dinge eben zu tun pflegen in diesem zivilisierten Land. Wir sind schließlich keine Tiere. Meistens. Wären wir Tiere, dann fräßen wir uns gegenseitig auf. Dann spürten wir das Ende längst kommen. Aber wir spüren zum Glück nichts mehr. Das macht uns menschlich.

Wir bleiben unantastbar

Wir können doch über alles reden. Du sollst dich doch engagieren für diese Gesellschaft, wir müssen ja der Spaltung entgegenwirken, einander die Hände reichen, damit eine die andere waschen kann. Du kannst etwas beitragen, aber lass die alten Meister da raus. Bitte, bitte nicht berühren. Weder van Gogh noch mich. Mein Leben und ich, wir bleiben unantastbar. Du sollst nicht an dieser Welt rütteln oder dich an ihr festkleben, stör mich nicht, jedenfalls nicht während meiner Arbeits- oder Freizeit oder zu anderen ungünstigen Momenten.

Ich habe wirklich hart für das alles gearbeitet. Für uns. Für den Komfort, das Unschöne ausblenden zu können. Du könntest auch mal was leisten, aber immer bist du nur dagegen. Ich war früher auch so, aber dann habe ich verstanden: Das Leben ist ein Kompromiss. Man muss demokratisch verhandeln. Wenn die einen den Planeten vor der völligen Zerstörung bewahren und die anderen sich nicht einschränken wollen, dann trifft man sich eben in der Mitte. Wo da die Mitte ist, fragst du? Bei einem guten Stück Schwarzwälder Kirschtorte, wo jede große Veränderung begonnen hat.

Das verstehst du doch. Oder?

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Lin Hierse ist Redakteurin der wochentaz und Schriftstellerin. Ihr erster Roman 'Wovon wir träumen' erschien 2022 bei Piper. Zuletzt wurden ihre Kurzgeschichten in Das Wetter Buch für Text und Musik und Delfi Zeitschrift für Neue Literatur veröffentlicht.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.