Offener Brief gegen Waffenlieferungen: Falscher Fokus
Der offene Brief von Intellektuellen ist ein wichtiger Debattenbeitrag zum Krieg. Bloß: Empathie für die Ukrainer lassen die Unterzeichner vermissen.
G ut zwei Dutzend deutsche Intellektuelle haben einen offenen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz verfasst, in dem sie verlangen, die weitere Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine zu unterlassen. Das ist gut so: Eine Debatte über den Krieg und die deutsche Solidarität mit den Angegriffenen ist dringend notwendig – gerade in Zeiten, in denen Umweltschützer und andere eines Expertenwissens eher unverdächtige Personen zu Spezialisten über die Funktion von Haubitzen mutieren.
Denn dieser Krieg ist nicht nur eine Frage von Waffen. Es geht auch um Haltung. Inhaltlich allerdings mutet dieser Brief seltsam an. Denn von dem Land, das mittels eines Angriffs überfallen wurde, ist da nur am Rande die Rede. Immerhin gesteht man der Ukraine ein Recht auf Selbstverteidigung zu – eigentlich eine Selbstverständlichkeit.
Offenbar soll diese Verteidigung aber nicht unbegrenzt sein, denn, so heißt es, „der berechtigte Widerstand steht irgendwann in einem unerträglichen Missverhältnis [zum] Leid der Zivilbevölkerung“. Wer bitte schön sind wir, die einem überfallenen Staat und seinen Bewohnern Vorschriften machen wollen, wie sie sich zu verteidigen haben?
Und das auch noch „in Anbetracht unserer historischen Verantwortung“, wie es da heißt, die allerdings darin besteht, dass Deutschland den furchtbarsten Krieg der Geschichte vom Zaun gebrochen hat. Sollte die überfallene Seite also im Zweifelsfall lieber kapitulieren, auf jeden Fall aber nicht zu viel siegen? Wären die Angegriffenen im Zweiten Weltkrieg diesem Rat gefolgt, sähe die Welt heute gewiss anders aus. Und die Briefschreiber säßen günstigstenfalls in einem Folterkeller ein.
Dafür ist in dem Schreiben viel vom dritten Weltkrieg die Rede, der, sollten weitere schwere Waffen geliefert werden, wahrscheinlicher würde. Das Risiko einer solchen atomar geführten Auseinandersetzung ist in der Tat nicht von der Hand zu weisen, und es bedarf einer Politik, die dies in Rechnung stellt. Nicht alle Wünsche der Ukraine werden deshalb in Erfüllung gehen können. Allerdings stellt sich die Frage nach dem drohenden Weltkrieg auch für den Fall, dass die russische Seite ihre laufende „Spezialoperation“ gewinnt.
Denn dies könnte die Staatsspitze in ihrem Kurs der Revision von Grenzen und dem Auslöschen von Staaten in Europa noch bestärken – und zu einem zweiten Waffengang reizen. Dieser offene Brief zeugt nicht nur von fehlendem historischen Verständnis, er lässt auch Empathie für die Ukrainer vermissen. Im Mittelpunkt stehen nicht diejenigen, die da mit Bomben und Raketen angegriffen werden, sondern wir Deutsche und unsere Ängste. Das ist erbärmlich.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben
Kritik an Antisemitismus-Resolution
So kann man Antisemitismus nicht bekämpfen
Klimaziele der EU in weiter Ferne
Neue Klimaklage gegen Bundesregierung