Richterin über Triage: „Wir werden als Erste geopfert“
Als Mensch mit Behinderung würde sie im Falle der Triage aussortiert werden, sagt Richterin Nancy Poser. Sie hat Verfassungsbeschwerde eingelegt.
taz: Frau Poser, Sie wollen den Gesetzgeber per Verfassungsbeschwerde zwingen, sich mit der Triage zu beschäftigen. Dafür gibt es doch aber bereits Leitlinien, die mehrere medizinische Fachgesellschaften erarbeitet haben.
Nancy Poser: Als ich diese Leitlinien gesehen habe, war ich schockiert. Da wird zwar gesagt, dass wegen Alter oder Behinderung im Rahmen der Triage nicht diskriminiert werden soll. Aber die Kriterien zur Einschätzung, wer im Zweifel keine intensivmedizinische Behandlung bekommen soll, werden nur von alten und behinderten Menschen erfüllt.
Jahrgang 1979, ist Richterin am Amtsgericht Trier und Gründungsmitglied von Ability Watch e.V. Zusammen mit acht weiteren BeschwerdeführerInnen hat sie im Frühsommer Verfassungsbeschwerde eingelegt, damit der Gesetzgeber die Triage regelt. Ein Eilantrag wurde damals abgelehnt, unter anderem, weil die Infektionszahlen zu der Zeit so gering waren. Angesichts überlasteter Krankenhäuser sei die Frage der Triage nun aber „absolut dringlich“, sagt Poser
Könnten Sie das näher erklären?
Da soll zum Beispiel der allgemeine Gesundheitszustand anhand einer Gebrechlichkeitsskala bewertet werden. Wenn man einen Rollstuhl braucht, Assistenzbedarf hat oder am Rollator geht, wird man im direkten Vergleich zu einer nichtbehinderten Person schlechter eingestuft. Man muss dazu wissen, dass die Triage ja nicht nur zwischen Covid-19-Patienten stattfinden soll, sondern zwischen allen, die intensivmedizinische Behandlung benötigen. Das heißt, wenn ich dort mit meinem Rollstuhl und meiner Muskelerkrankung mit einem Herzinfarkt eingeliefert werde und neben mir liegt ein Raucher mit Covid-19, werde ich anhand dieser Kriterien schlechter bewertet.
Dann bekommen Sie im Zweifel keine intensivmedizinische Behandlung …
… und muss sterben, ganz genau. Ich habe zwei Probleme mit den Triage-Leitlinien: Zum einen halte ich sie nicht unbedingt für tauglich, um die Erfolgsaussichten der Behandlung zu bewerten. Vor allem aber halte ich diesen Weg – survival of the fittest, der Stärkere soll leben – für falsch. Es wird dann gerne das Beispiel von dem 90-jährigen Rentner mit Vorerkrankungen und der 25-jährigen Mutter gebracht. Aber so eindeutig ist das in der Praxis kaum: Da kommen der 30-jährige Turner und die 40-jährige Rollstuhlfahrerin. Und dann habe ich einen Unterschied von vielleicht 60 und 40 Prozent Überlebenswahrscheinlichkeit. Wo fängt das an, wo hört das auf?
Ergibt es denn nicht grundsätzlich Sinn, die zu retten, die wahrscheinlicher überleben?
Natürlich erscheint der utilitaristische Ansatz verlockend. Das ist im Prinzip wie bei diesem theoretischen Fall mit dem Flugzeug: Das fliegt auf ein vollbesetztes Stadion zu und die Frage ist, ob man dieses Flugzeug abschießt, um die Leute im Stadion zu retten. Die Überlebenswahrscheinlichkeit der Menschen im Flugzeug geht ja bei dem Absturz gegen Null, sie sind also quasi eh nicht mehr zu retten. Es gab ein Luftsicherheitsgesetz, das in einem solchen Fall den Abschuss vorsah. Und da hat aber das Bundesverfassungsgericht ganz klar gesagt: Das geht nicht. Ich darf selbst den totgeweihten Leuten im Flugzeug ihre Überlebenswahrscheinlichkeit, so minimal sie auch sein mag, nicht nehmen, um andere zu retten, weil ich sie damit zum Werkzeug degradiere und ihnen so die Menschenwürde nehme. Mit diesem Grundsatz bin ich auch groß geworden, als Mensch und als Juristin. Ich habe seit dem ersten Semester Jura gelernt, dass man Leben nicht gegen Leben abwägen kann, egal welche Chance man diesem Menschenleben beimisst.
Im Fall der Triage ist das Dilemma doch, dass ich entscheiden muss. Ich kann das Flugzeug im übertragenen Sinne nicht einfach weiterfliegen lassen. Wie soll diese Entscheidung gerecht sein?
Meint den Prozess der Sortierung oder Ersteinschätzung, wenn es zu viele Patient:innen und zu wenig Behandlungskapazitäten gibt. Im Frühjahr, nach den Bildern der Corona-Pandemie in Italien wurde auch in Deutschland über die Triage diskutiert. Acht medizinische Fachgesellschaften haben im April aktualisierte Handlungsempfehlungen veröffentlicht, an denen sich Ärzte in Notfallsituationen orientieren sollten, falls in Deutschland Triage-Entscheidungen gefällt werden müssen. Diese Leitlinien geben den Patient:innen den Vorrang, die anhand bestimmter Kriterien die höheren Überlebenswahrscheinlichkeiten haben.
Sie kann nicht gerecht sein. Aber sie kann den Betroffenen mehr Chancengleichheit einräumen. Darum geht es in unserer Verfassungsbeschwerde zunächst aber noch gar nicht. Es gibt in Deutschland einen Wesentlichkeitsgrundsatz, der vorsieht, dass wesentliche Eingriffe in die Grundrechte vom Gesetzgeber legitimiert werden müssen. Wir wollen den Gesetzgeber dazu bringen zu handeln. Solange es nur Leitlinien aus der Ärzteschaft gibt, bin ich denen ausgeliefert. Dagegen kann ich nicht klagen, obwohl ich sie für willkürlich und diskriminierend halte.
Welche anderen Möglichkeiten gäbe es aus Ihrer Sicht, um Triage-Entscheidungen zu fällen?
Für mich kommt da nur das Prioritätsprinzip infrage: Wer zuerst kommt, bekommt den Platz. Oder das Randomisierungsprinzip.
… die Entscheidung nach Zufall, das ist schwer vorstellbar.
Es ist nicht befriedigend, gerade für Ärzte. Aber es geht hier auch nicht nur um sie. Die Situation ist für alle unbefriedigend, die im Zweifel sterben müssen. Wenn ich aussortiert werde, weil kein Gerät mehr da ist, ist das schlimm, keine Frage. Aber wenn das Gerät jemand anderes bekommt, weil der fitter ist und ich behindert bin, nimmt man mir meine Menschenwürde.
Die Diskussion, ob in der Pandemie die Grundrechte verletzt werden, ist gerade sehr aufgeheizt. Menschen gehen zu Zehntausenden auf die Straße, weil sie beispielsweise keine Maske tragen wollen. Die Diskussion über die Kriterien der Triage ist im Vergleich dazu außerhalb von Behindertenselbstorganisationen immer noch sehr verhalten.
Den Leuten ist klar, dass es zuerst die Alten und die Behinderten trifft. Und weil sie nicht betroffen sind, interessieren sie sich nicht dafür.
Nancy Poser und acht weitere Menschen, die sich von den Triage-Leitlinien der Fachgesellschaften diskriminiert fühlen, haben im Frühsommer Verfassungsbeschwerde eingereicht. Ihr Ziel: Der Gesetzgeber soll die Triage regeln. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) lehnen dies bislang ab und verweisen auf die Leitlinien der Mediziner:innen.
Offenbart sich da eine tief verankerte Diskriminierung?
Das ist der Punkt. Stellen wir uns vor, in diesen Leitlinien würde stehen, alle Menschen mit Blutgruppe A bekämen eine niedrigere Punktzahl. Dann würde doch niemand sagen: Ja, das ist doch klar, weil sie auch schlechtere Erfolgsaussichten haben. Denen geben wir das Gerät nicht, sondern wir geben es lieber jemand mit der Blutgruppe 0. Da wäre der Aufstand groß. Aber bei Menschen mit Behinderung und Alten halten wir solche Annahmen für absolut plausibel.
Wir müssen noch über etwas anderes sprechen: Am Freitag hat der Bundesgesundheitsminister die Priorisierungen für die Impfungen vorgestellt.
Da wird es fast zynisch: In den Triage-Leitlinien steht ja überspitzt formuliert, dass wir als Erste geopfert werden, weil wir ohnehin einen schweren Krankheitsverlauf zu erwarten haben. In der Impfverordnung werden nun aber Menschen mit körperlicher Behinderung, die zu Hause von der Familie oder von Assistenzdiensten versorgt werden, nicht einmal erwähnt. Ich gehöre zwar in der Impfverordnung als Richterin zur Gruppe drei, aber nicht als Behinderte.
Haben Sie noch Vertrauen in das Grundgesetz?
Ich habe mich als Juristin und Bürgerin vom Grundgesetz immer sehr geschützt gefühlt. Weil ich den Eindruck hatte, dass wir gerade hier in Deutschland nach unserer Vergangenheit sehr vorsichtig sind, Leben zu bewerten. Jetzt sind wir in einer Krisensituation. Es wird sich zeigen, ob das Grundgesetz immer noch hält.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten