Relativierung von Antisemitismus: Ein Abgrund hat sich aufgetan
Seit dem Pogrom der Hamas vom 7. Oktober ist die Verunsicherung unter Jüdinnen*Juden noch gewachsen. Morde gelten als Widerstand, antisemitische Gewalt ist alltäglich.
A ls vergangenen Sonntag am Brandenburger Tor in Berlin Tausende an einer Kundgebung in Solidarität mit Israel teilnehmen, sitze ich allein auf einer Bank zwischen Kleingärten und bekomme eine Quitte geschenkt. Die Frau, die sie mir in die Hand drückt, spricht kaum Deutsch, ihr fragendes „Hm?“, gepaart mit einem unschuldigen Lächeln berührt mich so sehr, dass mir die Tränen in die Augen schießen, ich zurücklächle und mich schüchtern bedanke.
Seit dem 7. Oktober ist dies die erste Begegnung, die ich mit jemand Fremden habe. Ich gehe nur noch selten raus, bin mit meinem Schreibtisch verwachsen. Manchmal vergehen zwei Tage, ohne dass ich es merke. Alltägliche Dinge wie einkaufen gehen habe ich seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr getan. Es ist ein Leben im Ausnahmezustand zwischen Telefonaten mit Angehörigen, die verzweifelt nach Möglichkeiten suchen, weiterhin Aufmerksamkeit für ihre Mütter, Väter, Kinder oder Großeltern zu schaffen, die von Terroristen der Hamas nach Gaza verschleppt wurden – und der Auseinandersetzung mit der antisemitischen Gewalt hier vor meiner Haustür in Berlin und auf der ganzen Welt.
Es fällt mir schwer, gegen das Gefühl absoluter Verunsicherung anzukämpfen. Wie auch? Linke agieren im Schulterschluss mit Islamisten. Im Kunst- und Kulturbereich werden die Morde und Vergewaltigungen, die enthaupteten Babys relativiert und teilweise als legitimer Widerstand gefeiert. Vereinzelt finden sich Solidarisierungen mit Israel und den Ermordeten, die jedoch sogleich von den selbsternannten Widerstandsanhängern attackiert werden.
Ein offener Brief folgt dem nächsten, in denen der 7. Oktober nur noch eine Randnotiz ist und Berlin-Neukölln zum besetzten Open-Air-Gefängnis wird, wie für die Unterzeichner ja auch Gaza. Wäre all das nicht genug auszuhalten, feiern am Alexanderplatz in Berlin Islamistenbrüder (-schwestern sieht man da kaum) Forderungen nach einem Kalifat und der islamischen Herrschaft, unter der Israel vernichtet werden muss.
Der 7. Oktober ist eine Zäsur
Antisemiten sind schamlos, angstfrei. Sie greifen Synagogen an und Juden in ihrem Zuhause. Sie schauen sich auf ihren Handys in der U-Bahn Propagandavideos der Hamas oder Salafisteninfluencer an. Juden hingegen isolieren sich. Vor jüdischen Gemeinden oder Synagogen sollen sie nicht lange stehen bleiben. Ich bin in der Bahn nach einem Termin in der Gemeinde nervös, weil ich Sorge habe, jemand könnte sich provoziert fühlen von dem Gespräch, das ich mit meiner Begleitung führe. Das ist das Perfide an Terror. Er wirkt nicht nur unmittelbar dort, wo er begangen wurde; er trägt sich weiter und greift damit das Vertrauen in eine sichere Welt an.
Dass der 7. Oktober eine Zäsur ist, zeigt sich nicht allein an der Zahl getöteter Juden. Wenn Journalisten um Worte ringen, wenn mit Sprache kaum vermittelbar ist, welcher Horror sich in den Kibbuzim ereignet hat, dann hat sich ein Abgrund aufgetan, den ich nicht mehr für möglich gehalten habe. Ich habe nicht für möglich gehalten, dass Juden einmal mehr vor den Augen ihrer Kinder abgeschlachtet, in ihren Häusern verbrannt, in die Luft gesprengt werden könnten. Ich dachte, das Wort Pogrom im selben Atemzug wie Juden zu nennen, werde sich immer auf Vergangenes beziehen.
Ich habe mit mehr Empathie, mit einem längeren Entsetzen angesichts des Massakers gerechnet. Der Terror ist schließlich nicht vorbei: Israel wird immerfort mit Raketen aus Gaza angegriffen, über 200 Geiseln befinden sich noch immer in der Gewalt von Hamas-Terroristen.
Die vergangenen drei Wochen waren wie ein Sprint. Und ich weiß, dass uns noch ein Marathon bevorsteht. In manchen Momenten bin ich zuversichtlich und weiß dann doch wieder nicht, wie der Vertrauensverlust je zu bewältigen sein wird.
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