Jüdisches Leben in Deutschland: Traumatisches Klima
Der Massenmord an der israelischen Zivilbevölkerung hat enorme psychosoziale Folgen für Shoa-Überlebende. Für sie wird der Schaden irreparabel sein.
Israel hat seit dem Massaker der Hamas-Terroristen am 7. Oktober, dem wohl verheerendsten Tag in der 75-jährigen Geschichte des Landes und dem mörderischsten Tag für Jüdinnen und Juden seit der Shoa, ein psychisches Trauma erlitten. Die Bilder und Zeugnisse über den Mord an israelischen Zivilist:innen sowie die weltweiten antisemitischen Demonstrationen und Angriffe wirken auch außerhalb Israels auf die jüdische Community. Die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) sieht darin eine nie zuvor erlebte Zäsur für das jüdische Leben in Deutschland nach 1945. So haben sich für die ZWST nach dem 7. Oktober zwei Aufgabenbereiche ergeben, sagt Direktor Aron Schuster der taz: Zum einen werde die Zivilbevölkerung in Israel unterstützt. „Zum anderen konzentrieren wir uns darauf, die eigene jüdische Community psychosozial zu unterstützen“, so Schuster.
Wie enorm die psychologische Belastung ausfällt, lässt sich bereits an der erhöhten Nachfrage bei der Beratungsstelle Ofek für Betroffene antisemitischer Gewalt und Diskriminierung erkennen. Seit dem 7. Oktober hat sich der Bedarf laut Leiterin Marina Chernivsky im Vergleich zu den vergangenen Monaten verdreizehnfacht. Um dies aufzufangen, hat Ofek seine Beratungszeiten verlängert, regelmäßige sogenannte Safer Spaces zum Austausch sowie Supervision und Beratung für den Schulkontext eingerichtet. Psychologische Unterstützung wird zudem in Deutsch, Hebräisch, Russisch und Englisch angeboten.
Für die jüdische Community komme der psychologische Druck aus zwei Richtungen, erklärt ZWST-Direktor Schuster: „Jüdinnen und Juden müssen die Situation von Krieg und Terror verarbeiten und gleichzeitig mit einer realen Gefährdung und Bedrohung in Deutschland umgehen.“ Veranstaltungen werden abgesagt, die Synagoge gemieden, jüdische Symbole versteckt. Eltern fürchten, ihre Kinder in die jüdische Schule zu schicken. „Angst haben auch Eltern, deren Kinder nicht-jüdische Schulen besuchen. Hier fürchten sie, dass ihre Kinder unmittelbar mit Antisemitismus konfrontiert werden“, sagt Schuster.
„Jüdisches Leben findet aktuell ausschließlich hinter Polizisten mit Maschinenpistolen, hinter eigenen Sicherheitskräften und zentimeterdickem Panzerglas statt“
Jüdinnen und Juden ziehen sich in eigene Räume zurück, isolieren sich. Schuster skizziert ein düsteres und beunruhigendes Bild für das derzeitige jüdische Leben, wenn er sagt, dass dieses „aktuell ausschließlich hinter Polizisten mit Maschinenpistolen, hinter eigenen Sicherheitskräften und zentimeterdickem Panzerglas“ stattfinde. Das in den letzten Jahren oft zitierte sichtbare, vielfältige jüdische Leben gebe es in dieser Form aktuell nicht mehr.
Nonverbal über Traumata sprechen
Wer verstehen möchte, auf welche Erinnerungen die Bilder des Hamas-Massakers bei Überlebenden und ihren Nachkommen hier in Deutschland prallen, muss Kurt Grünberg fragen. Grünberg ist Psychoanalytiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt. Er forschte zur transgenerationalen Weitergabe extremen Traumas von Überlebenden der Shoa an deren Kinder, die zweite Generation, und entwickelte in diesem Zusammenhang das Konzept des szenischen Erinnerns der Shoa. Demnach lassen sich die Verfolgungserfahrungen der Überlebenden weniger in ihrem Erzählten als im Umgang miteinander, in Beziehungen, in Begegnungen zwischen Menschen erfassen. Die Traumatisierung wird „szenisch“ erinnert und weitergegeben.
Denn anders als viele Jahrzehnte behauptet, schwiegen die Überlebenden der Shoa im Land der Täter nur vermeintlich. „Der Schmerz über den Verlust der eigenen Eltern, der Geschwister oder gar Kinder war so groß, dass Überlebende weder sich noch ihre Kinder damit konfrontieren wollten, sie suchten sie davor zu schützen“, sagt Grünberg der taz. „Eigentlich ‚sprechen‘ Überlebende ständig über ihre erlittene Verfolgung, jedoch nicht vornehmlich im verbalen Sinne, sondern vor allem nonverbal.“
Als eine zentrale psychosoziale Spätfolge der Shoa benennt Grünberg das, was Jean Améry den „Verlust von Weltvertrauen“ nannte, ebenso wie dass der „Mit-Mensch als Gegen-Mensch“ erfahren wurde. Dies erlebe Grünberg nicht nur bei den Überlebenden, sondern auch den nachfolgenden Generationen.
Im Kontext der Hamas-Angriffe werden genau diese Erinnerungen, diese Ängste geweckt. Es „reaktualisiert das Erinnern von Überlebenden der Shoa und ihrer Nachkommen. Ich bin weit davon entfernt, die terroristischen Massaker der Hamas vom 7. Oktober mit der Shoa gleichzusetzen. Doch erlebe ich, dass sich viele bei den Bildern vom 7. Oktober und von dem, was sich danach in der Welt zutrug – die Kälte, der Mangel an Empathie und Solidarität –, an die Verbrechen der Nazis und deren Leugnung erinnert fühlen“, so Grünberg.
Normalisierung und panische Angst
Wenn dieses Erleben in einem gesellschaftlichen Kontext stattfindet, in dem Gewalttaten nach knapp über drei Wochen für die meisten Menschen fast vergessen scheinen, wenn es einfach erscheint, antisemitische Propaganda wie die der Zerstörung eines Krankenhauses in Gaza durch die israelische Armee zu glauben, Jüdinnen und Juden real bedroht werden in ihrem Umfeld, dann führe dies zu einem Gefühl, „sich nicht verlassen zu können, nicht aufgehoben, sondern bedroht zu sein“. Jüdinnen und Juden fühlten sich dann wie „Fremdkörper“ im eigenen Land. Panische Ängste können entstehen. Grünberg spricht in diesem Zusammenhang von einem „traumatischen Klima“, das er höchst bedenklich finde.
Es stellt sich die Frage, wie Jüdinnen und Juden angesichts des abscheulichen Massenmords vom 7. Oktober und der nach Gaza verschleppten Geiseln wieder Hoffnung in der Welt finden können.
Für ZWST-Direktor Schuster ist klar: „Wir müssen uns die Illusion nehmen, dass nach dem Ende dieses Krieges alles wieder so sein wird wie vorher. Die jüdische Community in Deutschland hat realisiert, welches Potenzial besteht, Antisemitismus auf die Straße zu bringen. Diese Erfahrungen und die Traumatisierung dadurch, die bleiben.“ Und Analytiker Grünberg verweist auf die Verantwortung des gesellschaftlichen Umfelds: „Hier ist vor allem die Zivilgesellschaft aufgerufen zu handeln. Warum hängen keine israelischen Flaggen an jeder zweiten Häuserwand?“
Vertrauen wiederherstellen und die Betroffenen psychisch stabilisieren – diese Bemühungen werden aus Sicht der ZWST langfristig bleiben. Ein zum Teil irreparabler Schaden, der bleibt.
Leser*innenkommentare
ke1ner
》Die Traumatisierung wird „szenisch“ erinnert und weitergegeben《, in der Erziehung dann oft als Angst, z.B. als völlig hirnrissig rezipierten Forderungen nach Überanpassung und den ewigen Auseinandersetzungen dazu (da ja auf der emotionalen Ebene wirklich klar ist, dass es um Existenzielles geht)
Noch heute leben direkt Traumatisierte, z.B. meine Mutter. Die ein halbes Jahr jünger ist als Anne Frank heute wäre, weil sie in einem Kloster versteckt überlebt hat.
Mit 93 kann sie inzwischen Nachrichten nicht mehr richtig einordnen, die deshalb zum Horror werden (weshalb ich den Fernseher weggeschafft habe).
Das allerdings schon, als Putin-Hitler Vergleiche Hochkonjunktur hatten: wenn Sie so jemand anfleht, wen zu schicken, der sie in Sicherheit bringt, einschließlich genauer Instruktionen wie 'unbedingt darauf zu achten, was für eigene Interessen derjenige habe, um wirklich zu wissen, wie vertrauenswürdig er sei. Wenn ich schon nicht selbst kommen ... könne', und das, wg. Alzheimer, dreimal in einer Stunde, geraten Sie, sagen wir mal, an eigene psychische Grenzen.
Mir ist klar, dass solche Gleichsetzungen in Kommentaren von eigenen Ängsten entlasten sollen, sie werden so aber in Wirklichkeit multipliziert
Deshalb möchte ich, bei all diesen Katastrophen der Gegenwart, dazu raten, die Rhetorik drastisch herunterzufahren
Z.B. sich so etwas klar zu machen, eine zutreffende Einordnung hier in der taz: "Mit Hitler hat das nichts zu tun" is.gd/J7YrK6
Und aktuell z.B. dringend auf die Zeitzeugin Margot Friedländer (fast 102) zu hören, die auf die Frage
》Der Schriftsteller und jüdische Intellektuelle Maxim Billerschrieb in der ZEIT,das sei ein Pogrom gewesen. Der israelische Ministerpräsident sagt, die Hamas-Terroristen seien die neuen Nazis《 antwortet:
》Wir brauchen andere Begriffe. Es ist nicht dasselbe.《
is.gd/efcQ5c (ZEIT-Interview)
(es lohnt sich, da weiterzulesen, gerade auch in Hinblick auf Traumatisierung und einen guten Umgang damit)
Konfusius
Sehr beeindruckt. ' Warum hängt nicht an jeder zweiten Häuserwand eine israelische Fahne ? '
*Sabine*
Ich schäme mich für mein Land und die Angriffe, die auch hier in Deutschland auf Jüdinnen und Juden erfolgen. Außerdem fühle ich mich so hilflos, weil ich nichts dagegen tun kann. Was mir möglich erschien, spenden, Briefe an die jüdische Gemeinde schreiben, nachts in der Nähe der Synagoge im Auto sitzen, um zu schauen, ob ich ggf. bei einem Angriff helfen kann, habe ich getan. Nun überlege ich noch, ob ich Mitglied in der deutsch-israelischen Gemeinschaft werden kann. Aber das ist nichts, im Angesicht der Verbrechen, die wir Jüdinnen und Juden angetan haben und den Angriffen, denen sie jetzt auch in Deutschland wieder ausgesetzt sind.
Entlastung finde ich nur darin, dass die USA als Schutzmacht hinter Israel stehen und deutsche Politiker vielleicht doch noch Wege finden, die deutschen Antisemiten zur Rechenschaft zu ziehen und die nicht-deutschen Antisemiten des Landes zu verweisen. Ebenso hoffe ich, dass wir, sofern wir Flüchtlinge aus Gaza aufnehmen (müssen?), ganz genau prüfen, dass es keine Hamas-Mitglieder oder Hamas-Befürworter sind. Vielleicht ist es auch eine Möglichkeit, mehr jüdische Flüchtlinge, die beispielsweise wie kürzlich in Russland, verfolgt werden, in Deutschland aufzunehmen. Ich denke, durch eine Vergrößerung der jüdischen Gemeinden in Deutschland und deren stärkere Präsenz, entsteht auch eine gewisse Schutzfunktion. Ganz besonders wir, schulden Israel und den jüdischen Bürgern Schutz.
Davon abgesehen würde ich gerne verstehen, was es an jüdischen Menschen auszusetzen gibt, weshalb sie mit Hass verfolgt werden. Ich habe schon so viel darüber gelesen und möchte es gerne verstehen, aber ich kann Antisemitismus einfach nicht verstehen oder nachvollziehen.
Es bleibt nur Scham, Hilflosigkeit und abgrundtiefe Enttäuschung über meine Mitbürger, diverse NGOs und unsere Regierung/en.
Jim Hawkins
Man kann das gar nicht nachempfinden, man kann nur mitfühlen.
Und genau das fehlt, Mitgefühl, Empathie, Solidarität. Wie sie etwa beim russischen Angriff auf die Ukraine, bei Charlie Hebdo oder bei dem Mord an George Floyd ganz selbstverständlich auf den Straßen, in den sozialen Netzwerken und anhand der überall zu sehenden Nationalfarben sichtbar war.
Wie schrecklich muss das sein, wenn man Freunde, Verwandte, Bekannte bei diesem Massaker verloren hat und einem dann noch diese Eiseskälte des Nichtverhaltens der Mehrheit und der offen gezeigte Antisemitismus der Minderheit entgegenschlägt.