Klimasoziologin zur Letzten Generation: „Für mich sind das Helden“
Die Letzte Generation sorgt mit ihren Aktionen für Kontroversen. Die Wissenschaftlerin Ilona Otto erklärt, wann der soziale Kipppunkt erreicht ist.
taz: Frau Otto, was halten Sie von den Aktivisten der Letzten Generation?
Ilona Otto: Für mich sind das Helden.
Wieso das?
Sie ermutigen viele Menschen. Wenn man sieht, dass Aktivisten ins Gefängnis gehen, denken viele, ich kann auch etwas für das Klima tun.
Würden Sie sich selbst auf die Straße kleben? So wie das in Berlin seit über zwei Wochen mit nur kleinen Pausen passiert?
Noch nicht.
Was hält sie zurück?
Wir sollten alle überlegen, in welchem Bereich wir den größten Einfluss haben können. Meine Mission sind Forschung und Lehre. Und solange die Protestaktionen als Straftat gewertet werden, hätte ich Schwierigkeiten in meiner Arbeit, würde vielleicht meinen Job nicht mehr ausführen können. Das Risiko ist mir zu groß, auch mit Blick auf das Sorgerecht für meine Kinder. Wer weiß, vielleicht werde ich radikaler, wenn sie 18 Jahre alt sind. (lacht)
Der letzte Bericht des Weltklimarats IPCC hat gezeigt, dass das 1,5-Grad-Ziel kaum noch zu halten ist. Kann die Letzte Generation daran noch etwas ändern?
Die Forschung zeigt: Wenn engagierte Minderheiten etwas anstoßen, kann das auch ansteckend sein. In gesellschaftlichen Systemen gibt es deswegen immer Möglichkeiten für Veränderung. Gerade in Krisensituationen haben Menschen schon oft bewiesen, dass sie im letzten Moment noch Lösungen finden können.
Haben wir den Moment noch nicht verpasst?
Natürlich stehen unsere Chancen immer schlechter. Aber wir müssen uns unserer Wirksamkeit bewusst werden. Wir können reflektieren, überlegen und planen. Das kann uns Hoffnung geben, denn wenn etwas wirklich wichtig ist, wäre alles möglich. Wir müssen uns auch fragen, wo wir mit kleinen Interventionen die größten systemischen Effekte erzielen können. Deshalb beschäftige ich mich mit der Idee der sozialen Kipppunkte.
Was soll das sein?
Das Konzept der Kipppunkte kann man sich bei physischen Prozessen leicht vorstellen: Bei einer Tasse zum Beispiel, die ich Richtung Schreibtischrand schiebe, passiert lange gar nichts, aber am Ende reicht ein kleiner Impuls und sie kippt von der Kante. Das ist der Kipppunkt. Bei sozialen Systemen ist das nicht so greifbar.
Woran merkt man, wenn ein sozialer Kipppunkt erreicht ist?
Ein Kipppunkt ist erreicht, wenn die einfachste, günstigste und sozial angesehenste Option eine klimaschonende ist. Es gibt daher verschiedene Indikatoren für soziale Kipppunkte.
Zum Beispiel?
Bei Energiesystemen sind es die Preise der verschiedenen Energiequellen. Sie zeigen meist an, welche Lösung die Mehrheit präferiert. Ein anderes Beispiel wären soziale Normen. Da geht es etwa darum, bestimmte Entscheidungen, die der Gesundheit oder der Umwelt schaden, als unmoralisch zu empfinden. Beim Fliegen ist das bereits der Fall. Einige fahren inzwischen lieber mit der Bahn, weil sie sich schlecht fühlen wegen der Emissionen, die ein Flug verursacht. Die Alternativen sind dabei aber entscheidend. Wir brauchen bezahlbare, schnelle und pünktliche Züge, damit es Menschen einfach haben, umzusteigen. Der Kipppunkt bei der Änderung sozialer Normen ist erreicht, wenn die umweltschonendste Entscheidung von der Mehrheit als moralisch richtig bewertet wird.
Eine Tasse fällt linear, in einer Gesellschaft bewegen sich aber nie alle in eine Richtung. Welche Unterschiede gibt es zwischen physischen und sozialen Kipppunkten?
Da ist die Tasse vielleicht nicht das richtige Beispiel. Es gibt auch bei physikalischen Kipppunkten Prozesse, die nicht linear sind. Der Höhenwind Jetstream wäre eins. Er hat zwar eine grundsätzliche Richtung, aber verläuft nicht linear. Es kommen auch Luftströmungen aus allen Richtungen dazu, das ist unglaublich komplex. Aber natürlich ist das bei Menschen noch schwieriger. Und als Gesellschaft wird es dann erst richtig kompliziert.
Vor drei Jahren sahen Sie bereits das System hin zu mehr Klimaschutz kippen. Wie sehen Sie das heute?
Wegen der Komplexität sozialer Systeme geht es manchmal vorwärts, dann wieder rückwärts. Man kann nie vorhersagen, ob es ganz schlecht wird oder wir kurz vor einer positiven Veränderung stehen. Das war zum Beispiel in der Pandemie so. Sie hat gezeigt, was möglich ist. Das war natürlich ein erzwungener Einschnitt, aber die Emissionen wurden stark gesenkt, ungefähr um sieben Prozent pro Jahr. Das wäre genau die Reduktion, die wir jährlich bräuchten, um Klimaneutralität zu erreichen. Das Problem war nur, dass wir danach wieder zurück zum Business as usual zurückgegangen sind.
Bei einem Beispiel, das Sie in einer Studie von 2020 beschreiben, mussten drei Punkte zusammenkommen, um den Kipppunkt zu erreichen: Martin Luther lieferte neue Ideen, die mithilfe des Buchdrucks vervielfältigt werden konnten und auf eine reformbereite Gesellschaft stießen. Könnte man heute sagen, dass die Letzte Generation der Impulsgeber ist, die Erneuerbaren die technischen Möglichkeiten, wir aber als Gesellschaft noch nicht bereit sind für den Wandel?
Nein, ich glaube, die Mehrheit ist schon bereit. Wir sehen das bei Befragungen, in denen mehr als 90 Prozent sagen, dass sie für Klimaschutz sind. Viele tun auch schon etwas, besonders jüngere Menschen, die viel ändern wollen und bereit sind, etwas zu riskieren. Das Problem ist aber, dass Entscheidungsträger – oft ältere Männer – in sehr privilegierten Positionen sitzen und keine Veränderung wollen. Sie stehen auch unter Druck von Lobbyisten und unter anderen Zwängen, und viele denken immer noch: Ach, wir müssen uns nicht ändern, uns werden schon Technologien retten. Sie blockieren oft Veränderung. Das ist in der Politik und Wirtschaft so, aber auch oft in der Wissenschaft.
Was braucht es neben den Technologien?
Technologien sind da, wir müssen sie nur noch einsetzen. Erneuerbare Energien sind zum Beispiel bereits günstiger als fossile. Für das Heizen bei Neubauten sind Wärmepumpen meistens die erste Wahl. Natürlich sollen sie noch effizienter werden, und es bleiben praktische Probleme wie der Handwerkermangel zu lösen. Doch man kann so viele technische Lösungen entwickeln, wie man will – wenn fossile Energie weiter subventioniert wird, dann wird das nicht reichen. Ohne gesellschaftliche und politische Veränderungen wird es deswegen nicht gehen.
Und wie entsteht dieser Wandel?
In dem Buch „Change. How to make big things happen“, das ich gerade lese, beschreibt der Autor Damon Centola, dass Innovationen häufig nicht von zentralen Akteuren kommen, sondern von Menschen in der Peripherie des Systems. Erst wenn sich außerhalb des Zentrums viele Menschen verändern, ändert sich auch der Kern. Das erklärt er dadurch, dass zum Beispiel Politiker sehr hohen Risiken ausgesetzt sind – wenn sie sich falsch entscheiden, verantworten sie den Schaden. Deswegen müssen Entscheidungsträger erst unter Druck gesetzt werden, damit sie sich für neue Lösungen entscheiden.
Hat denn eine soziale Bewegung schon den entscheidenden Anstoß für das Erreichen eines Kipppunkts gegeben?
Ja, einige. Viele denken zum Beispiel, dass es in Holland schon immer viele Fahrradwege gab. Aber das kam erst durch soziale Bewegungen, die dafür gestritten haben. Es gibt Quellen, die zeigen, dass die Straßen und Autobahnen dort in den 70ern massiv ausgebaut wurden. Aber als es viele verunglückte Kinder im Straßenverkehr gab, haben soziale Bewegungen massive Proteste organisiert und alles blockiert. Dadurch haben sie so großen Druck aufgebaut, dass die Regierung daraufhin die Fahrradwege ausgebaut hat. Und heute ist Holland ein Fahrradland.
In Deutschland hat es die Letzte Generation geschafft, dass sie jetzt von manchen Oberbürgermeistern unterstützt wird. Kann man das als Zeichen nehmen, dass da etwas ins Rollen gerät?
Das war zumindest ein großer Erfolg für die Gruppe. Besonders weil viele wichtige Entscheidungen, zum Beispiel für Infrastrukturprojekte, auf kommunaler Ebene entschieden werden.
Ansonsten war die Gruppe aber bisher relativ erfolglos: Sie konnte noch keine ihrer politischen Forderungen durchsetzen. Es gibt weder Tempolimit noch 9-Euro-Ticket oder einen Gesellschaftsrat. Reicht Aufmerksamkeit alleine?
Die Punkte, die die Gruppe fordert, sind alle wichtig. Aber solange wir uns weiter über das Klima unterhalten, ist das ein Erfolg. Manche finden die Aktionen zu radikal, aber vielleicht waren die Methoden nötig, um überhaupt Aufmerksamkeit zu bekommen. Die Proteste von Fridays for Future waren in ihrer Hochphase 2018 und 2019 sehr erfolgreich, doch durch Pandemie und Ukrainekrieg lag die Priorität der Politik danach woanders. Die Letzte Generation konnte die Aufmerksamkeit trotzdem auf das Klima lenken.
Viele empören sich jedoch über die Protestform und diskutieren nicht über echten Klimaschutz.
Ja, das stimmt. Schuld daran sind manche Experten und die Medien, die zum Teil sehr kritisch über die Gruppe berichten. Viele Leser haben die Berichterstattung nicht hinterfragt und glauben wirklich, dass die Aktivisten „Ökoterroristen“ sind. Aber man müsste viel mehr auf die Ursachen des Protests schauen. Wir müssen uns doch fragen, warum diese Menschen trotz sehr guter Lebensperspektive alles für den Klimaschutz riskieren.
Die 43-Jährige ist Professorin für gesellschaftliche Auswirkungen des Klimawandels am Wegener Center für Klima und Globalen Wandel an der Universität Graz. In einer Studie machte sie 2020 das Konzept der sozialen Kipppunkte bekannt.
Und wieso machen sie das?
Vor ein paar Tagen habe ich mit einem Studenten gesprochen. Er muss wahrscheinlich bald ins Gefängnis, weil er schon so oft protestiert hat, die Geldstrafen will er mit einer Haftstrafe absitzen. Mit Gefängnis in den Akten verbaut er sich vielleicht seine Zukunft. Trotzdem gibt es für ihn gerade nichts Wichtigeres als Klimaschutz. Ich kann das nachvollziehen. Was bringt es zum Beispiel, Kinder zum Klavierunterricht oder zum Sporttraining zu fahren, wenn wir damit ihre Zukunft zerstören?
Können Sie nachvollziehen, dass die Aktionen viele zur Weißglut treiben?
Nicht wirklich, weil in Zukunft die Autobahn auch durch Hochwasser zerstört werden könnte. Mit Aktivisten kann man noch verhandeln, aber mit Extremwetterereignissen nicht. Dann kann man keine Polizei anrufen, die das Hochwasser in einer halben Stunde von der Straße holt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles