Individualverkehr in Deutschland: Autogerecht ist ungerecht
Bei den Deutschen scheint die Liebe zum Automobil in die DNA eingeschrieben. Und die Politik regiert mit Autopilot, anstatt etwas zu ändern.
D as Wort heißt „autogerecht“ – und so, für sich stehend, wäre es nicht verwunderlich, wenn es auf einen paradiesischen Zustand verwiese: auf Gerechtigkeit, die sich von allein einstellt: autogerecht – automatisch gerecht. Als gäbe es einen Algorithmus für Gerechtigkeit. Ein Autokorrekturprogramm für alles, was ungerecht ist.
Nur leider ist die Wirklichkeit anders. Das Wort „autogerecht“ ist verbraucht, besetzt vom Automobil. In den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts galt die Maxime des „autogerechten Umbaus der Stadt“.
Die Stadt sollte gerecht sein fürs Auto. Nicht für den Menschen. Die Straßen mussten breit sein; Bäume, die im Weg stehen, wurden gefällt, störende Flüsse in Tunnel verlegt, Häuser abgerissen. Was im Krieg nicht zerbombt wurde, nun war es dran. Das wirkt wie eine späte Genugtuung für die Kriegsverlierer. Da ist Eroberungswille, und sei es an der Heimatfront. Aus der freien Fahrt für Deutsche, was die Nazis ausgiebig praktizierten, als sie andere Länder überrannten, wurde dank der Siegermächte „freie Fahrt für freie Bürger“. Ein verdummender Slogan, der die tradierte Propaganda nicht mal verschleiert.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Dass die Gesellschaft fürs Auto gerecht ausgerichtet sein soll, gilt bis heute. Wenn die Proteste der Letzten Generation etwas zeigen, dann genau das. Die Autofahrenden, denen der Weg nicht frei gemacht wird, bekommen einen dicken Hals. Bei einem Unfall, der sie zum Warten zwingt, zeigen sie Verständnis. Sie sind froh, dass ein anderer armer Schlucker dran ist, nicht sie. Bei jemandem aber, der ihre Omnipotenz am Steuer ihres erweiterten Selbstobjektes, denn nicht weniger ist die Karosse, infrage stellt und den Verkehr einfach so zum Stoppen bringt, reißt der Geduldsfaden. Der Ruf nach Kriminalisierung, nach harter Bestrafung, nach Gefängnis zeigt es. Klima? Scheißegal. Hauptsache, die Straße ist frei.
Die Idee der Autogerechtigkeit durchzieht die Geschichte der Bundesrepublik. Generationen haben daran ihren Wohlstand geschärft. Sie steckt in unserer DNA. Wie sonst könnten wir zulassen, dass allein die Straßenflächen, würde man sie nebeneinanderlegen, so viel Platz einnehmen wie halb Sachsen oder fast halb Hessen, nämlich 9.297 Quadratkilometer. Das halbe Hessen eine Asphaltwüste. Niedergemachtes Terrain, vom Auto erobert. Was für ein Sieg.
Und das ist ja nicht alles. Das sind nur die Straßen. Kommen die Autos dazu. Fast 50 Millionen Pkws sind derzeit zugelassen. Nur Pkws. Lastwagen, Anhänger, Landmaschinen und was sonst noch mit einer Karosserie umgeben ist, nicht mitgezählt. Auf ungefähr 1,7 Personen, Kinder inklusive, kommt also ein Auto. Wird für jedes, das rumsteht, der Platz zugrunde gelegt, der ihm in einem Parkhaus zusteht, nämlich maximal 5 x 2,5 Meter, und legt man die Parkplätze der 50 Millionen Autos aneinander, ergibt das 625 Quadratkilometer. Das ist zweimal die Fläche von Bremen. Oder zweimal München. Oder die Fläche von München und Bremen zusammen. So viel Platz nur fürs Rumstehen der Blechkisten.
Deutschland ist keine Autonation, sondern eine Nation der Autosklaven. Mit Leichtigkeit zu erobern übrigens, falls wer darin einen Nutzen sehen sollte. Es ist ja alles planiert.
Die Menschen, die Natur, das Klima aber bleiben auf der Strecke. Denn in der Politik wird mit Autopilot regiert. Niemand traut sich wirklich, die Autogerechtigkeit als das zu entlarven, was sie ist und was sie verursacht: reine Ungerechtigkeit. Niemand stoppt sie.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist
Außenministertreffen in Brüssel
„Europa spricht nicht die Sprache der Macht“