Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung: „Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Die Nato ist Russland um ein Vielfaches überlegen, sagt der Historiker Alexander Lurz. Zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben, hält er für übertrieben.
taz: Herr Lurz, Sie haben das militärische Kräfteverhältnis zwischen der Nato und Russland verglichen und kommen zu dem Schluss, dass die Nato Russland militärisch um ein Vielfaches überlegen ist, was Militärausgaben, die Zahl der Panzer und die Truppenstärke betrifft. Was sagt uns das?
Alexander Lurz: Das zeigt, dass wir in Deutschland eine angstgetriebene und teilweise uninformierte Debatte haben. Russland hat einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine gestartet. Wenn wir sehen, wie Russland diesen Krieg führt, dann macht das natürlich Angst. Der erste Reflex ist, sich stärker zu bewaffnen. Dabei wird jedoch nicht mehr ausreichend auf die Verhältnismäßigkeit geschaut.
taz: Wie meinen Sie das?
Lurz: In der öffentlichen Debatte wird der Eindruck erzeugt, als müsste sich Deutschland alleine gegen Russland verteidigen. Deutschland ist aber Teil der Nato. Es ist nicht notwendig, dass wir alle militärischen Fähigkeiten vorhalten.
(48) ist promovierter Historiker und arbeitet bei Greenpeace als Experte für Abrüstung.
taz: Sie kritisieren, dass Deutschland 2 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgeben will. Warum?
Lurz: Es handelt sich letztlich um eine willkürliche Zahl. Um den Bedarf an Verteidigung zu ermitteln, sollte man doch von der Bedrohungslage und den vorhandenen eigenen Fähigkeiten ausgehen. Es könnte sein, dass einer Bedrohungslage auch mit 1 Prozent zu begegnen wäre. Vielleicht braucht es auch mehr. Die Rechnung sollte sich daraus ergeben, welche Fähigkeiten man braucht. Wir aber machen das Gegenteil: Wir folgen einer politischen Zahl, nicht einer, die vom militärischen Bedarf ausgehend entwickelt worden ist.
taz: Das 2-Prozent-Ziel dient doch der Solidarität innerhalb der Nato: Es soll ihre Mitglieder davon abhalten, es sich als Trittbrettfahrer bequem zu machen. Ist das falsch?
Lurz: Diese Betrachtungsweise unterschätzt die Interessen der verschiedenen Mitgliedsstaaten der Nato. Natürlich bedeutet die Mitgliedschaft Schutz für ein Land. Für die Vereinigten Staaten ist die Nato aber natürlich auch ein Vehikel, mit dem sie ihre politische Dominanz im nordatlantischen Raum ausüben können. So gesehen ist es kein Altruismus der USA, ein starker Nato-Partner zu sein.
taz: Viele fürchten, dass sich das mit Donald Trump im Weißen Haus ändern und er die USA praktisch aus der Nato zurückziehen könnte. Sie nicht?
Lurz: Bei der Angst vor einem Rückzug der USA aus Europa wird gerne übersehen, dass die US-Armee wichtige Stützpunkte in Deutschland unterhält. Diese Basen sind für die US-Armee zentral zur Machtprojektion im Nahen Osten und Afrika. Das bedeutet, ein Rückzug aus Deutschland wäre für die USA mit einer enormen Einschränkung verbunden. Ich halte deshalb solche Vorstellungen eines US-amerikanischen Rückzugs aus Europa für überzogen.
taz: US-Präsident Joe Biden hat jetzt den Einsatz von Raketen und Marschflugkörpern bis zu 300 Kilometer innerhalb russischen Territoriums genehmigt. Sollte Deutschland nachziehen?
Lurz: In Deutschland neigen wir dazu, uns in der Debatte über die Unterstützung der Ukraine fast ausschließlich auf Waffensysteme zu fokussieren. Das ist aber nur ein Teil der Debatte. Der andere Teil wäre jedoch, sich zu überlegen, wie man zu diplomatischen Lösungen kommt. Es wäre gut gewesen, wenn wir in den letzten zweieinhalb Jahren mehr darüber gesprochen hätten – und weniger über einzelne Waffensysteme.
taz: Ist es nicht wichtig, mit welchen Waffen sich die Ukraine gegen Russland verteidigen kann?
Lurz: Schon. Die größere Frage aber ist, ob Europa das Heft des Handelns in die Hand bekommt. Es ist ein Versäumnis, dass die europäischen Staaten es in den letzten zweieinhalb Jahren nicht geschafft haben, mit anderen Ländern wie der Türkei, Indien oder auch China entsprechende Initiativen zu starten. Es geht nicht darum, dass Olaf Scholz nach Moskau fliegt, um einen Frieden zu verhandeln. So einfach ist es nicht. Aber es wäre eine Aufgabe für die europäische Außenpolitik gewesen, gemeinsam mit anderen Staaten zu versuchen, Vermittlungs- und Verhandlungsformate zu entwickeln.
taz: Russland sei durch den Krieg massiv geschwächt, heißt es in Ihrem Bericht. Ihren Analysen zufolge wurden 315.000 russische Soldaten getötet – das wären fast 90 Prozent der Streitkräfte, die ursprünglich an der Invasion beteiligt waren. Gehen Sie davon aus, dass sich der Krieg von selbst erledigt?
Der Vergleich
Laut
ist die Nato gegenüber Russland in fünf militärischen Bereichen deutlich überlegen: Das westliche Bündnis gibt deutlich mehr Geld für Verteidigung aus, verfügt über mehr große Waffensysteme wie Panzer und Flugzeuge, hat eine größere Truppe, wäre schneller einsatzbereit und hat eine stärkere Rüstungsindustrie im Rücken. Nur in einem (wesentlichen) Feld besteht ein Patt zwischen Nato und Russland: Beide Seiten verfügen über jeweils knapp 5.560 Nuklearsprengköpfe, mit denen sie die Welt in Schutt und Asche legen könnten.Die Gemengelage
Die Autoren plädieren dafür, Abrüstungsinitiativen voranzutreiben. Statt weiter aufzurüsten, schreiben sie, sollte die bestehende konventionelle Überlegenheit der Nato zum Anlass genommen werden, Initiativen anzustoßen, die neues Vertrauen schaffen. Und das bei gleichzeitig potenziell möglicher nuklearer Eskalationsbereitschaft auf russischer Seite.
Die Autoren
Hinter der Greenpeace-Studie stehen neben Alexander Lurz auch Friedensforscher Christopher Steinmetz und Herbert Wulf. Wulf hatte das Bonn International Center for Conversion (BICC) geleitet und am Stockholmer Friedensforschungsinstitut Sipri gearbeitet. (taz)
Lurz: Das ist nicht der Schluss daraus. Wir haben einen Vergleich vorgenommen zwischen Russland und der Nato. Dass das russische militärische Potenzial für die Ukraine nicht nur bedrohlich, sondern existenzgefährdend ist, sehen wir jeden Tag. Aber wenn wir in die Ukraine schauen, sehen wir auch, wie begrenzt die militärischen Fähigkeiten Russlands in Relation zur militärischen Stärke der Nato-Staaten sind. Die russischen Truppen kommen gegen einen militärisch eigentlich unterlegenen Gegner nur extrem langsam voran und müssen auch herbe Rückschläge hinnehmen.
taz: In Ihrem Bericht schreiben Sie, der russische Wehretat habe im Jahr 2023 einem realen Gegenwert von fast 290 Milliarden Euro entsprochen. Der deutsche Wehretat soll bis zum Jahr 2028 auf 80 Milliarden Euro pro Jahr steigen. Sie kritisieren das. Warum?
Lurz: Die Bundesrepublik steht nicht alleine da. Die 80 Milliarden kann man nicht den 290 Milliarden Russlands gegenüberstellen. Da muss man die gesamte Nato-Zahl nehmen, und hier sind die Rüstungsausgaben mit 1,2 Billionen US-Dollar um ein Vielfaches höher als die in Russland.
taz: Der Heeresinspekteur Alfons Mais meint, die Bundeswehr sei „kaputtgespart“ worden. Hat er Unrecht?
Lurz: Ich sage auch, dass in manchen Bereichen durchaus etwas fehlt, bei der Munition etwa. Wenn ich mit Leuten aus der Bundeswehr rede, sagen die aber: Wir haben zu viel Geld oder wir haben zu wenig Geld, wie man’s nimmt. Mit dem System, das wir haben, könnte man noch wahnsinnig viel mehr Geld dazugeben, ohne damit automatisch die Kampffähigkeit der Bundeswehr zu steigern.
taz: Das müssen Sie erklären.
Lurz: Nehmen sie den aktuellen Plan, 825 Millionen Euro für neue Ausgehuniformen auszugeben. Das ist viel Geld, und bestimmt sind die Uniformen auch schick, aber kampffähiger wird die Bundeswehr durch diese Investition gewiss nicht. Aber auf das 2-Prozent-Ziel kann man die Ausgaben anrechnen.
Wir haben in einer früheren Studie das Beschaffungswesen der Bundeswehr analysiert. Bis zu einem Drittel der Ausgaben geht wirkungslos verloren. Wir haben festgestellt, dass Politiker im Haushalts- und Verteidigungsausschuss des Bundestages enorme Einflussmöglichkeiten haben auf das, was gekauft wird. Abgeordnete, in deren Wahlkreisen die Rüstungsindustrie stark ist, stehen deshalb vor einem Interessenkonflikt. Weil das Beschaffungswesen so intransparent ist, können Kaufentscheidungen zustande kommen, die nicht dem Interesse der Bundeswehr dienen – und schon gar nicht dem Interesse der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.
taz: Was fordern Sie?
Lurz: Abgeordnete mit starken Rüstungsindustriestandorten in ihren Wahlkreisen dürfen nicht in den beiden Ausschüssen sitzen. Und wir brauchen ein Höchstmaß an Transparenz bei der Beschaffung. Insgesamt gilt aber: Sofern Defizite existieren bei der Ausrüstung und Kampfkraft, sollte die erste Überlegung sein, wie man das vorhandene Geld effizienter ausgibt. Wenn ich die Debatte verfolge, sehe ich im Wesentlichen nur Vorschläge, mehr Geld auszugeben.
taz: Braucht es angesichts der geopolitischen Bedingungen nicht mehr Geld?
Lurz: Heute sehen wir, dass Verteidigungsminister Boris Pistorius Kanada und Norwegen anbietet, gemeinsam in der Arktis zu patrouillieren. Die neuen Seeaufklärer sollen teilweise in Schottland stationiert werden. Wir sehen eine deutsche Fregatte im Roten Meer, und eine andere im Südchinesischen Meer. Wenn ich immer mehr Aufgaben für die Bundeswehr finde, brauche ich immer mehr Material. Und wenn ich das nicht finanzieren kann, sage ich, die Bundeswehr ist unterfinanziert.
taz: Was schlagen Sie vor?
Lurz: Nach den Wahlen sollte die neue Regierung eine Neubewertung der verschiedenen Aufgaben der Bundeswehr vornehmen. Landes- und Bündnisverteidigung, und dies eng verstanden, sollte dabei das Leitbild sein. Dafür stellt man dann das Nötigste bereit. Wir bräuchten dann viel weniger Geld.
taz: Mit dieser Forderung stehen Sie aber relativ alleine da. Frustriert Sie das?
Lurz: Auf dem letzten Parteitag der SPD im vergangenen Dezember gab es einen Antrag gegen das 2-Prozent-Ziel der Nato. Obwohl der Parteivorstand diesen Antrag nicht unterstützt hat und das auch gegen die Linie des Kanzlers war, hätte dieser Antrag beinahe eine Mehrheit unter den Delegierten gefunden. Das zeigt: Die offizielle Linie der SPD ist zwar klar dafür, dass Deutschland das 2-Prozent-Ziel einhält. Aber sehr viele Menschen in der Partei sehen das ganz anders. Es gibt dazu also selbst in der politischen Mitte keinen absoluten Konsens.
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