Friedrich Merz' Queerfeindlichkeit: „Zirkuszelt“-Aussage erntet Kritik
Selbst aus den eigenen Reihen erntet der Kanzler Kritik. Zwei Bundestags-VizepräsidentInnen kündigten an, den Berliner CSD zu eröffnen.

„Wenn die Regenbogenfahne die Fahne auf einem Zirkuszelt ist, was sind dann queere Menschen? Zirkustierchen, die sich zur Erheiterung des Publikums zum Affen machen?“, sagte die Queerbeauftragte der Bundesregierung, Sophie Koch (SPD), der taz. Queere Menschen hätten Würde und stünden wie alle anderen auch unter dem Schutz des Grundgesetzes. „Ein Verständnis dafür wäre für einen Bundeskanzler angemessen“, findet Koch.
Der Lesben- und Schwulenverband (LSVD) sprach von einer „Entgleisung“. „Die Regenbogenfahne ist keine Zirkusplane, sondern ein universelles Symbol für Vielfalt und Menschenrechte“, sagte LSVD-Vorstand Andre Lehmann dem ZDF. „Ich möchte den Bundeskanzler daran erinnern, dass er von einer Verfolgtengruppe des Nationalsozialismus spricht, die auch noch in der Bundesrepublik lange Zeit unterdrückt und kriminalisiert wurde.“
„Von Fettnapf zu Fettnapf“
Die Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann bescheinigte Merz ein „Talent, von Fettnapf zu Fettnapf zu gehen und dabei Menschen vor den Kopf zu stoßen“. Die Regenbogenfahne repräsentiere eine Gruppe, „die vermehrt von Anfeindungen, Gewalt und Hass betroffen ist“, schrieb sie auf der Plattform X. Merz könnte sich „für Vielfalt, Selbstbestimmung und die Wahrung demokratischer Grundrechte einsetzen, statt diese Werte lächerlich zu machen“.
Auch Linken-Fraktionschefin Heidi Reichinnek bezeichnete Merz’ Worte als „völlig unangemessen“. Seit Jahren steige die Gewalt gegen queere Menschen. Die Union „verweigert nun auch noch einen symbolischen Akt und zieht den Kampf um Sichtbarkeit ins Lächerliche“, sagte sie.
Laut Bundeskriminalamt haben sich die Straftaten in den Bereichen sexuelle Orientierung und geschlechtsbezogene Diversität seit 2010 fast verzehnfacht, 2024 wurden fast 3.000 Straftaten erfasst. Die Amadeu-Antonio-Stiftung zählte 2024 in Deutschland noch nie so viele CSD-Veranstaltungen – allerdings auch noch nie so viele rechtsextreme Mobilisierungen dagegen. 55 Fälle hat die Stiftung dokumentiert, in denen rechtsextreme Gruppen gezielt CSD-Demos, Teilnehmende und Infrastruktur gestört, bedroht und angegriffen haben.
Auch der Vorsitzende der Lesben und Schwulen in der Union (LSU), Sönke Siegmann, sagte der taz: „Die Regenbogenflagge zeigt, wofür unser demokratischer Staat steht.“ Sie sei kein beliebiges Banner, sondern ein Zeichen von Menschenwürde, Vielfalt, Gleichberechtigung und gesellschaftlichem Zusammenhalt. Merz’ Wortwahl sei „unglücklich“ gewesen. Darüber werde man mit dem Kanzler persönlich sprechen, es gebe bereits einen Termin.
Durch und durch queerfeindliche Haltung
Merz’ aktuelle Äußerung reiht sich ein in eine lange Reihe problematischer Aussagen des heutigen Kanzlers gegenüber queeren Personen. Im Jahr 2000 stellte sich Merz gegen die Ehe für alle, 2001 kommentierte er das Coming-out des SPD-Politikers Klaus Wowereit mit den Worten: „Solange der Wowereit sich mir nicht nähert, ist mir das egal.“
2020 sagte Merz auf die Frage, ob ein Schwuler Kanzler werden könne: „Die Frage der sexuellen Orientierung geht die Öffentlichkeit nichts an. Solange sich das im Rahmen der Gesetze bewegt und solange es nicht Kinder betrifft – an der Stelle ist für mich allerdings eine absolute Grenze erreicht –, ist das kein Thema für die öffentliche Diskussion.“ Kritisiert wurde dabei, dass Merz Homosexualität in die Nähe von Pädophilie gerückt hatte.
Im jüngsten auf Merz zugeschnittenen Bundestagswahlkampf hatte die Union damit geworben, trans Personen das gerade erst erkämpfte Recht auf Selbstbestimmung wieder zu entziehen, das Selbstbestimmungsgesetz abzuschaffen. Der Lesben- und Schwulenverband LSVD hatte in seinen Wahlprüfsteinen deshalb einige Positionen der Union als „gefährlich“ eingestuft.
Merz zeigte Sympathie für Trumps Transfeindlichkeit
Im Februar dieses Jahres zeigte Merz Sympathien für den transfeindlichen Beschluss von US-Präsident Donald Trump, nur zwei Geschlechter anzuerkennen. Merz sprach von einer „Entscheidung, die ich nachvollziehen kann“. Auch die Reform des Abstammungsrechts, das unter anderem dazu führen sollte, dass Lesben ihre eigenen Kinder nicht mehr adoptieren müssen, war mit der Merz-Union nicht in den Koalitionsvertrag zu bekommen.
Merz’ „Zirkuszelt“-Äußerung vorangegangen waren zwei Entscheidungen von Bundestagspräsidentin Julia Klöckner. Neben dem Verbot der Regenbogenflagge am CSD über dem Bundestag – am 17. Mai, dem sogenannten Idahobit-Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transphobie, darf die Flagge weiter gehisst werden – untersagte sie im Namen der „Neutralität“ kürzlich auch den queeren Mitarbeitenden der Bundestagsverwaltung die Teilnahme als sichtbare Gruppe am Berliner Christopher Street Day. Kritik an dieser Entscheidung war aus allen demokratischen Parteien gekommen, auch der Union selbst.
CSU-Chef Markus Söder, dessen Partei auch immer wieder queerfeindlich Stimmung macht, postete auf Facebook ein Foto der Bayerischen Staatskanzlei, vor der am Münchner CSD Ende Juni Regenbogenflaggen wehten. „Bayern ist weltoffen und tolerant. Bei uns kann jeder leben und lieben, wie er möchte“, schrieb er dazu. Familienministerin Karin Prien (CDU) kündigte unterdessen an, ihr Ministerium werde mit einem eigenen Wagen beim Berliner CSD dabei sein. Dieser sei ein wichtiges Zeichen für den Respekt vor Vielfalt. Mit Sternchen, Doppelpunkt oder Unterstrich zu schreiben untersagte Prien ihrem Ministerium allerdings erst diese Woche, auch Bayern hat das Gendern verboten.
Am Mittwoch stellten sich die BundestagsvizepräsidentInnen Josephine Ortleb (SPD) und Omid Nouripour (Grüne) gegen Klöckners „Neutralitäts“-Gebot: Sie selbst wollen den Berliner CSD Ende Juli eröffnen, sie stünden „an der Seite der queeren Community“, so Ortleb. Nouripour sagte: „CSDs sind gelebte Demokratie. Der Einsatz für Grundrechte ist keine Frage von Neutralität, sondern ein Auftrag für alle Demokratinnen und Demokraten.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Dobrindt will Gespräche mit den Taliban
Abschieben für die AfD
Demo gegen Abschiebehaft in Arnstadt
„Wie sollen Menschen das aushalten?“
Fahrassistenzsysteme
Wo Autofahrer:innen genervt den Aus-Knopf suchen
Ein Jahr Pflicht für Tethered Caps
Befreit die Deckel!
Schwarz-rotes Stromsteuer-Fiasko
Vertrauen im Eiltempo verspielt
Wegen Angriffen in Budapest
Bundesanwaltschaft klagt sechs weitere Antifas an