Friedensforscherin über den Ukrainekrieg: „Ziviler Widerstand ist effektiver“
Mit gut organisiertem sozialen Protest könnte die Ukraine Russland stoppen, sagt Konfliktexpertin Dudouet. Deutschland solle solche Methoden fördern.
taz: Frau Dudouet, im Kiewer Vorort Butscha und anderswo haben russische Soldaten Zivilisten massakriert. Sie sagen, ziviler Widerstand ist effektiver als militärischer. Ist das nicht naiv?
Véronique Dudouet: Ich kann gut nachvollziehen, warum das naiv erscheint. Unsere Forschung zeigt aber eindeutig, dass friedlicher Widerstand selbst gegen die skrupellosesten und repressivsten Regime erfolgreich sein kann. Ich würde sogar so weit gehen und sagen, dass eine nachhaltige Lösung von Konflikten niemals militärisch sein kann – darum braucht es zivile Alternativen.
Mit welchen friedlichen Mitteln könnte sich die Ukraine denn Ihrer Meinung nach wehren?
Das können zum Beispiel Massendemonstrationen sein, wie wir sie schon in einigen von den Russen eingenommenen Städten gesehen haben. Dort haben die Menschen gezeigt, dass die Invasoren nicht willkommen sind. Diese Methoden haben wahrscheinlich die Moral der russischen Soldaten gesenkt. Es gab auch einige eher symbolische, aber sehr wirkungsvolle Formen des Widerstands wie das Austauschen von Straßenschildern und die Verwendung von Verkehrsschildern, um die einmarschierende Armee zu beleidigen oder abzulenken. Eine weitere effiziente Taktik war mehrmals, dass ukrainische Zivilisten mit Menschenketten russische Panzer stoppten. Das stärkt auch die Entschlossenheit des ukrainischen Volks. Der Boykott russischer Waren ist ebenfalls ein Beispiel dafür. So wird die Besatzung auch viel teurer.
Es ist schwer vorstellbar, dass das die russische Armee aufhalten würde.
Ich glaube nicht, dass der zivile Widerstand, wie er jetzt organisiert ist, allein den Krieg oder die Besatzung beenden wird, aber er kann das Regime des Besatzers dazu bringen, sich mit ihnen an einen Tisch zu setzen und einen Kompromiss zu finden. Dafür müsste die Regierung leistungsfähige Systeme der friedlichen Verteidigung entwickeln. In den baltischen Staaten etwa gibt es offizielle Doktrinen zur gewaltlosen Verteidigung. Diese Methoden erfordern eine Menge Vorbereitung und Schulung der Bevölkerung, damit sie die Prinzipien versteht, die dahinter stehen: beispielsweise, dass das Töten feindlicher Soldaten den Krieg nicht beendet, sondern ihre Kameraden vom Desertieren abhalten kann.
Die 44-Jährige ist Konfliktforscherin bei der Berliner Berghof Foundation, die sich für Frieden einsetzt. Die Politikwissenschaftlerin hat sich auch als Aktivistin an Anti-Kriegs- und Anti-Gewalt-Kampagnen beteiligt, zum Beispiel in den palästinensischen Gebieten.
Gibt es Belege dafür, dass so ein ziviler Widerstand eine militärische Invasion wirklich aufhalten kann?
Die Friedensforscherinnen Erica Chenoweth und Maria Stephan haben alle gewaltfreien Bewegungen für Demokratie, Selbstbestimmung und gegen Besatzung seit 1900 untersucht. Sie kamen zu dem Schluss, dass die Erfolgschancen bei gewaltfreiem Widerstand 50 Prozent höher waren als bei bewaffnetem. Die Wissenschaftlerinnen erklären das damit, dass gewaltfreie Verteidigung viel mehr Menschen mobilisieren kann und wirkungsvollen Dissens innerhalb der gegnerischen Sicherheitskräfte verursachen kann. In Palästina zum Beispiel hat die erste Intifada in den späten Achtzigerjahren zum Osloer Friedensprozess ab 1993 geführt – aufgrund der gewaltfreien Mittel, die Palästinenser gegen die israelische Besatzung einsetzten.
Manche Nahostexperten sagen, dass eher die zunehmenden Angriffe von Palästinensern in Israel die israelische Regierung zu den Verhandlungen bewegten. Dass viele Palästinenser ihre Stromrechnung nicht bezahlten, habe dazu kaum beigetragen.
Zu Beginn war die Intifada völlig unbewaffnet, mit klaren Anweisungen der politischen Führung, friedlichen Widerstand zu leisten. Die Palästinenser boykottierten zum Beispiel israelische Produkte. Einige weigerten sich, ihre Steuern an die israelischen Behörden zu zahlen. All dies war wichtig, um zu zeigen, dass man nicht mit der herrschenden Macht zusammenarbeitet.
Viele Israelis wurden verletzt, von Israel ernannte Bürgermeister oder Polizisten wurden von anderen Palästinensern ermordet. War die erste Intifada wirklich friedlich?
Es gab einige gewalttätige Proteste wie das Werfen von Steinen durch frustrierte Jugendliche, aber das war nicht Teil einer gezielten Strategie. Bewaffnete Gruppen wie die Hamas wurden während der Intifada gegründet, spielten aber keine große Rolle bei dem Aufstand.
Aber war die Intifada tatsächlich erfolgreich? Der Gazastreifen und das Westjordanland sind bis heute besetzt.
Das stimmt. Aber ohne die Intifada hätte es den Friedensprozess in Oslo und die Einrichtung der Palästinensischen Autonomiebehörde nicht gegeben. Dem palästinensischen Volk ist es durch die Intifada gelungen, von Israel als Verhandlungspartner anerkannt zu werden. So etwas wird auch die Ukraine brauchen.
Als Mitte März drei osteuropäische Regierungschefs mit der Bahn Kiew besuchten, soll die Stadt nicht so intensiv beschossen worden sein.
Das ist ein wirklich gutes Beispiel. In vielen Bürgerkriegen etwa begleiteten internationale Teams gewaltfreie Demonstranten. Das bietet eine gewisse Form des Schutzes, denn niemand würde diese wichtigen internationalen Vertreter töten. Ihre Präsenz könnte auch Zufluchtsorte von Ukrainern schützen.
Wie stehen Sie zu den Waffenlieferungen westlicher Länder an die Ukraine?
Ich bin der Meinung, dass wir die weitere Militarisierung des Konflikts nicht verstärken sollten. Wenn wir Waffen schicken, ist das die Botschaft, die wir aussenden.
Aber was ist die Alternative?
Wir brauchen mehr solche Aktionen wie den Besuch der drei osteuropäischen Regierungschefs in Kiew. Wir könnten Menschen entsenden, die Zeugen der Verbrechen werden können, die von Russland begangen werden. Wir können Finanzmittel, Schulungen und andere Ressourcen bereitstellen, um den Ukrainern zu helfen, ihre Fähigkeiten zu massenhaftem zivilem Ungehorsam und gewaltfreiem Widerstand auszubauen.
Was halten Sie davon, in Reaktion auf den Ukrainekrieg für 100 Milliarden Euro die Bundeswehr aufzurüsten?
Selbst wenn nur 1 Prozent dieser Milliarden für Bemühungen zur Unterstützung des friedlichen Widerstands und diplomatischer Lösungen eingesetzt würde, wäre das effektiver. Ich glaube nicht, dass es klug ist, massiv in militärische Mittel zu investieren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen