Christian Ströbele ist gestorben: Integer, bis in die Haarspitzen
RAF-Anwalt, Mitgründer der taz und der Grünen, König von Kreuzberg, Vorbild und Gewissen der deutschen Linken – wir trauern um Christian Ströbele.
Wenn wir uns mal wieder furchtbar gestritten hatten, bei der taz, in ihren ersten Jahren Ende der 1970er, in der Wattstraße im Wedding, dann kam er regelmäßig vorbei; morgens mit einer großen Tüte Brötchen oder nachmittags mit einem Blech Kuchen.
Die meisten in der taz waren zu dieser Zeit in der Mitte ihrer Zwanzigerjahre, Christian, wie wir ihn nannten, war rund 15 Jahre älter, eine Vaterfigur, zugleich Primus inter pares. Sein fröhlicher Pragmatismus, seine selbstverständliche Prinzipientreue machten uns Mut. Und Mut brauchten wir bei der Gründung einer Tageszeitung ohne Geld und Erfahrung.
Christian mischte sich redaktionell nicht ein, sondern kümmerte sich um das Geschäftliche und das Juristische. Er sorgte dafür, dass die Zeitung die passende Rechtsform bekam, und wenn unsere presserechtlich Verantwortlichen vor Gericht landeten, was regelmäßig geschah, versuchte er, das Schlimmste zu verhindern.
Bald litt er unter dem strikten Realo-Kurs der Inlandsredaktion der taz bei der Berichterstattung über die Grünen, bei denen er eine wichtige Figur wurde, aber er hielt der taz die Treue. Als die Zeitung 1991 in einer existenziellen Finanzkrise steckte und die Mehrheit der Redaktion sie an einen Medienkonzern verkaufen wollte, warf er seine Autorität für die Gründung einer Genossenschaft in die Waagschale. Zum Glück mit Erfolg.
Christian Ströbele ist tot
Zwei Leben
Christian hatte zwei Leben – die ineinander übergingen. Das erste war das Leben des Rechtsanwalts Ströbele, sein zweites das des Politikers. Das begann so richtig im September 2002, zwei Tage vor der Bundestagswahl.
Christian war grüner Bundestagsabgeordneter und baute morgens am Berliner S-Bahnhof Warschauer Straße einen Wahlkampfstand auf. Vollkommen unerwartet zog ihm ein Neonazi von hinten einen Totschläger über den Kopf. Er schlug hin, aber zwei Tage später war er wieder oben auf: Als erster Grüner wurde er direkt in den Bundestag gewählt, im Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg-Prenzlauer Berg Ost.
Solche dramatischen Episoden sind selten in der Politik in Deutschland, doch Christian Ströbele war auch kein gewöhnlicher Politiker. Unter den immer weniger unterscheidbaren Mitgliedern des Bundestags war er eine singuläre Erscheinung: radikal, beharrlich, unbestechlich, exzentrisch.
Sein stark ausgeprägtes Gefühl für Gerechtigkeit, sein tiefes Bedürfnis nach Gerechtigkeit, sagte er selbst, sei für ihn stets der Motor seines Handelns gewesen. Unrecht könne er ganz schwer ertragen.
Unabhängig und selbstbewusst
Seine Unabhängigkeit und das Selbstbewusstsein, die ihn auszeichneten, rührten nicht zuletzt aus der bürgerlichen Familie, der er entstammte. Er wurde als drittes von vier Kindern in Halle als Sohn eines Chemikers geboren, der Mitglied der NSDAP war.
Stärker als der strenge Vater prägten ihn die anthroposophische Mutter und sein Onkel Herbert Zimmermann, ein Bohemien und Radio-Sportreporter, der das Finale der Fußballweltmeisterschaft im Radio kommentierte, das Deutschland 1954 in Bern gewann: „Aus. Aus. Aus. Deutschland ist Weltmeister!“
Der junge Ströbele war ein schlechter Schüler und Elvis-Presley-Fan; kein an Politik interessierter Linker, sondern Leser von Springers Tageszeitung Die Welt.
Erst bei der Bundeswehr erwachte sein rebellischer Geist, er schrieb zahlreiche Beschwerden für Kameraden und verweigerte seine Beförderung zum Gefreiten. Andererseits gewann er bei einem Schießwettbewerb einen Hubschrauberflug über der Lüneburger Heide.
Sein Jurastudium in Heidelberg und West-Berlin betrieb er nicht übereifrig, schon vor dessen Abschluss heiratete er 1967 die Diplomatentochter, Schauspielerin und Ethnologin Juliana Gregor, mit der er bis zuletzt zusammenlebte.
Der entscheidende Wendepunkt seines Lebens war der 2. Juni 1967 in West-Berlin. Nachdem bei einer Demonstration gegen den Schah von Persien der Student Benno Ohnesorg von dem Kriminalbeamten Karl-Heinz Kurras erschossen worden war, heuerte der Justizreferendar Ströbele bei dem bekannten Anwalt Horst Mahler an, der linke Studenten verteidigte. Zwei Jahre später gründete er mit ihm und Klaus Eschen das erste „Sozialistische Anwaltskollektiv“.
Konzept der „Konfliktverteidigung“
Dessen Anwälte entwickelten mit ihrem Konzept der „Konfliktverteidigung“ die Rechtskultur entscheidend weiter. Sie versuchten nicht, durch freundliches Auftreten ein mildes Urteil zu bekommen, sondern nutzten die gesamte Strafprozessordnung und ließen ihre Mandanten über das Vorgehen der Verteidigung mitbestimmen.
Christian war ein klassischer Achtundsechziger, der noch den Krieg erlebt hatte. Als Anwalt war er in der Außerparlamentarischen Opposition bekannt, aber er zählte nicht zu den Rednern auf den großen Versammlungen, er war kein Kenner des Marxismus und der linken Theorie. Ihn zog das Antiautoritäre der Studenten an, das Rebellische.
Dieter Kunzelmann von der Kommune 1 verteidigte er erfolgreich, weniger erfolgreich seinen vormaligen Kollegen Horst Mahler, nachdem der sich der Roten Armee Fraktion (RAF) angeschlossen hatte. Und schließlich verteidigte er auch die führenden Figuren der RAF: Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof.
Ensslin nannte ihn „Schwein, Intrigant, Bulle“, die Stammheimer Richter aber hielten ihn für einen RAF-Sympathisanten und schlossen ihn von der Verteidigung aus. Er wurde im Juni 1975 wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verhaftet, über drei Wochen in Untersuchungshaft gehalten und später zu zehn Monaten Haft verurteilt.
Ende der 1970er wurde für ihn die Gründung der taz und der Alternativen Liste, wie die West-Berliner Grünen zunächst hießen, wichtiger als sein Anwaltsberuf. Ströbele gehörte von Anfang an zum linken Flügel der Grünen, aber sorgte auch dafür, dass die Alternative Liste 1989 in der Mauerstadt mit der SPD eine Koalition einging.
In seine Zeit als einer der drei Sprecher:innen der Bundespartei fiel die friedliche Revolution. Die Grünen traten mit dem avantgardistischen, antinationalistischen Slogan „Alle reden von Deutschland. Wir reden vom Wetter“ an und scheiterten an der Fünfprozenthürde.
Im Februar 1991 sah sich Ströbele zum Rücktritt als Parteisprecher gezwungen. Er hatte während des zweiten Golfkriegs bei einem Besuch in Israel erklärt, dass die irakischen Raketenangriffe auf Israel „die logische, fast zwingende Konsequenz der israelischen Politik den Palästinensern und den arabischen Staaten gegenüber“ seien. Solche Äußerungen – und dann noch von einem Deutschen – hatten in Israel für Aufruhr gesorgt.
Härte Kämpfe bei den Grünen
Bei den Grünen zählte Ströbele zu den „Fundis“ oder „Fundamentalisten“ und lieferte sich harte Kämpfe mit dem Ober-Realo Joschka Fischer und dessen Anhängern. Die Realos wollten so schnell wie möglich in die Regierung, Ströbele wollte an grünen Prinzipien festhalten.
Ströbele war politiksüchtig, die Politik war sein Leben. Er stand nach Niederlagen wieder auf und machte weiter. Als die Berliner Grünen 2002 nicht ihn, sondern den Ex-DDR-Bürgerrechtler Werner Schulz auf den aussichtsreichen und umkämpften zweiten Berliner Listenplatz für die Bundestagswahl wählten, kandidierte er für das Direktmandat im Wahlkreis Kreuzberg-Friedrichshain-Prenzlauer Berg Ost – das er dann viermal in Folge souverän gewann.
Irgendwann feierte ihn sogar die konservative Boulevardpresse als „König von Kreuzberg“, wenn er mit seinem violetten Fahrrad durch den Kiez radelte oder eine Demo beobachtete.
Es war allerdings keine Anpassung an die Kreuzberger Kultur, dass er mit dem Slogan „Gebt das Hanf frei“ eine Legalisierung von Cannabis forderte. Er selbst hatte nie gekifft, war aber als Strafverteidiger mit zahlreichen grausamen Gewalttaten konfrontiert gewesen, die unter dem Einfluss von Alkohol begangen worden waren. Kiffer hingegen, fand er, lachten zwar manchmal etwas viel, aber seien friedlich.
Ströbele war wohl der Bundestagsabgeordnete, der bislang in den meisten Untersuchungsausschüssen Mitglied war, in fünf. Bei der Zeugenvernehmung kamen ihm seine Erfahrungen als Strafverteidiger entgegen.
Eine Sternstunde war es jedenfalls, als er im Ausschuss zu den Parteispenden des Flick-Konzerns Helmut Kohl zur Weißglut brachte, als er hartnäckig nachfragte, wie das denn so praktisch gelaufen sei, ob die Gelder dem Bundeskanzler in Kuverts überreicht worden seien.
Wenn Ströbele als politischer Dinosaurier beschrieben wurde, war das ganz falsch. Er war für neue Themen und Konflikte immer zu haben. Lange war er der einzige Abgeordnete in der Grünen-Bundestagsfraktion, der Julian Assange und WikiLeaks unterstützte sowie den US-Whistleblower Edward Snowden, den er in Moskau besuchte.
Die Verteidigung und Stärkung von Bürgerrechten wie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, aber vor allem das Festhalten an einer friedlichen Außenpolitik waren die Schwerpunkte seiner Arbeit als Parlamentarier. 2017 musste er sich aus gesundheitlichen Gründen aus dem Bundestag zurückziehen.
Schwere Krankheit
Seine letzten Jahre waren von schweren Krankheiten bestimmt, wobei es ein Wunder war, wie mental munter und gut gelaunt er trotz dieser Leiden blieb. Christian lachte gerne und war mit sich selbst im Reinen. Dafür hatte er wohl Gründe, die in seiner bis zur Sturheit gehenden Beharrlichkeit begründet waren, die ihn gegenüber dem Heer von Opportunisten in der Politik auszeichnete.
Und im Gegensatz zu anderen erfolgreichen Grünen – Winfried Kretschmann, Reinhard Bütikofer, Ralf Fücks und anderen – hat Ströbele nie Mao Tse-tung, Pol Pot oder stalinistischen Kommunisten gehuldigt. Er trat 1969, als Rudi Dutschke den „Langen Marsch durch die Institutionen“ ausgerufen hatte, in die SPD ein. Dort wurde er 1975 ausgeschlossen, weil er seine RAF-Mandantschaft als „Genossen“ angeredet hatte.
Christian hat auch niemals die DDR und den Kommunismus à la Moskau gepriesen. Wenn wir auf den Transitstrecken zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik zu taz-Treffen unterwegs waren, begegnete er den DDR-Grenzern genauso selbstbewusst und frech wie den BRD-Beamten.
Als Anarchist und Antiautoritärer hat Christian keine fundamentalen politischen Irrtümer begangen und zu bereuen. Er hat nie in einer Regierung politische Verantwortung getragen. Auch deshalb konnte er sich in einer Weise treu bleiben, die ihn zu einem Unikat der deutschen Politik machte.
Für viele Grüne und noch mehr seiner Wählerinnen und Wähler war er das Gewissen der Partei. Und nicht nur von ihnen wurde er für seine Unbestechlichkeit geliebt. Unvorstellbar, dass er sich persönlich bereichert oder Steuern hinterzogen hätte. Auch Journalistinnen und Journalisten, die mit ihm befreundet waren, trauten sich nicht, ihn um die Preisgabe vertraulicher Informationen zu bitten. Er war über alle Maßen integer. Und eitel war er auch nicht.
Der Einmarsch der Russen in der Ukraine hat ihn zuletzt schwer erschüttert. Das hatte er Putin nicht zugetraut. Aber er hätte auch seiner eigenen Partei, den Grünen nicht zugetraut, sich an die Spitze derer zu stellen, die mit schweren Waffen die Ukraine verteidigen wollen.
Am Montag ist Christian in seiner Wohnung in Moabit am Ufer der Spree im Alter von 83 Jahren gestorben. Bis zuletzt war er als Mitglied des Kuratoriums der taz Panter Stiftung aktiv und stand uns mit seiner großen politischen Erfahrung zur Seite. Wir können uns glücklich schätzen, den Gründer des „Vereins der alternativen Tageszeitung e.V.“ gekannt und mit ihm erfolgreich zusammengearbeitet zu haben.
Er wird uns fehlen, sehr fehlen. Jeder Mensch ist einzigartig, aber er zählte zu den Wenigen, die nicht wirklich ersetzbar sind. Adieu, Christian, mach’s gut! Wir werden dich als guten Menschen in Erinnerung behalten. In bester Erinnerung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
BSW-Anfrage zu Renten
16 Millionen Arbeitnehmern droht Rente unter 1.200 Euro
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Psychiater über Kinder und Mediennutzung
„Die Dinos bleiben schon lange im Schrank“