Boris Palmer über Corona-Quarantäne: „Ein neuer Generationenvertrag“
Der Grüne Boris Palmer fordert Corona-Quarantänen nur für Risikogruppen und kritisiert moralische Positionen, wenn sie den Blick auf Fakten verstellen.
taz: Herr Palmer, Sie haben den Shutdown ja schon früh skeptisch betrachtet. Setzen Sie jetzt als Oberbürgermeister von Tübingen Kontaktverbote durch, hinter denen sie gar nicht stehen?
Boris Palmer: Mir hat die Risikoabwägung gefehlt. Das war einige Zeit ein Überbietungswettbewerb mit immer strengeren Maßnahmen, um auf der scheinbar sicheren Seite zu sein. Die gibt es aber nicht. Auch eine Überreaktion ist gefährlich. Vor zwei Monaten habe ich einen Shutdown für falsch gehalten. Heute ist er richtig, weil die Welle der Infektionen zu schnell angestiegen ist und wir sie nicht mehr im Griff hatten.
Boris Palmer, 47, ist seit 2007 Oberbürgermeister von Tübingen. Sein neuestes Buch passt zur Krise und heißt „Erst die Fakten, dann die Moral“.
Wäre das zu vermeiden gewesen?
Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass auch der Shutdown Menschenleben kosten wird und wir ihn deshalb so kurz wie möglich halten müssen.
Was meinen Sie damit?
Bei uns in Europa sind diese Effekte sicher indirekter. In früheren Wirtschaftskrisen ist die Selbstmordrate deutlich angestiegen. Aber in armen Ländern schlägt das unmittelbar durch. Wenn in Südafrika fünf Wochen lang alles mit der Armee dichtgemacht wird, dann ist das ein unvorstellbarer Armutsschock für die Bevölkerung. Mehr Armut bedeutet in Afrika steigende Kindersterblichkeit. Das kostet direkt Menschenleben.
Wie kommen wir da wieder raus?
Wir bekommen ja immer mehr Daten. Wir wissen zum Beispiel durch das Ifo-Institut, dass uns drei Monate Shutdown 700 Milliarden vom Bruttoinlandsprodukt kosten könnten. Wir wissen, dass das Durchschnittsalter der Menschen, die in Europa mit Corona sterben, etwa bei 80 Jahren liegt, also nur wenig niedriger als das normale Sterbealter. Wir wissen auch, dass sich das Virus bei Menschen unter 50 und ohne Vorerkrankungen eher wie eine schwere Grippe verhält, viele haben gar keine Symptome. Wenn wir all das berücksichtigen, müssen wir abwägen: Welche Maßnahme hat die höheren Kosten? Das meine ich nicht monetär, sondern gemessen an menschlichem Leid und Leben.
Sie wollen die Kontaktverbote beenden?
Nein, es ist jetzt nicht die Zeit, die Maßnahmen infrage zu stellen, oder sie aufzuheben. Aber jetzt können wir schon einmal Wege finden, um möglichst bald wieder rauszukommen.
Ihr politischer Weggefährte Winfried Kretschmann sieht das anders. Er sagt, es verbietet sich, jetzt schon über den Exit zu diskutieren.
Meinungsverschiedenheiten sind sogar zwischen Winfried Kretschmann und mir möglich. Ich bin da eher bei Armin Laschet. Kretschmanns Sorge ist ja, dass die Akzeptanz der Maßnahmen durch die Debatte untergraben werden könnte. Das sehe ich aber umgekehrt. Ich glaube, dass die Menschen Perspektiven und Hoffnungen brauchen, um schwere Zeiten durchzustehen.
Für Sie führt der Weg aus dem Shutdown über die Isolierung von Risikogruppen wie Alten oder Menschen mit Vorerkrankungen. Wie soll das praktisch funktionieren?
Ich muss ja jetzt schon als Chef der kommunalen Polizeibehörde eine hohe dreistellige Zahl an Quarantäne-Anordnungen durchsetzen. Ich halte es für vertretbar, bei Menschen im Alter ab 65 und aufgrund von Vorerkrankungen solche Quarantäne-Anordnungen auszusprechen. In vielen Fällen ist das einfach umsetzbar. Ein Ehepaar mit 80, rüstig und gesund, darf zu zweit im Wald spazieren gehen. Aber sie bekommen alles, was sie brauchen, nach Hause geliefert, gehen nicht mehr in die Stadt und treffen keine Freunde und Verwandten. Das ist für einige Zeit zumutbar, wenn man weiß, dass für dieses Ehepaar auf der anderen Seite ein Todesrisiko von 15 Prozent bei Infektion mit Corona steht.
Es gibt Leute, die sagen, das widerspräche dem Gleichheitsgrundsatz in der Verfassung.
Wenn man Quarantäneanordnungen nach klaren Risikokriterien ausspricht, ist das rechtlich machbar, weil man nur Gleiches gleich behandeln muss.
Es spaltet die Gesellschaft, wenn Junge weiterleben wie bisher und wir Alte und Kranke wegsperren.
Nein, ich finde, das wäre ein neuer Generationenvertrag, bei dem die Jüngeren arbeiten gehen und das Infektionsrisiko auf sich nehmen, während die Älteren und Kranken auf soziale Kontakte verzichten.
Die Jungen würden zur Normalität zurückkehren?
Für alle, die nicht zur Risikogruppe gehören, könnte man dann schrittweise lockern. Natürlich nicht zurück zur völligen Normalität mit Bundesligaspielen und verschwitzten Disco-Partys. Das Ziel wäre, das Wirtschaftsleben halbwegs zu normalisieren, sodass die Leute wieder arbeiten gehen können, aber keinen ungeschützten Kontakt mehr mit der Risikogruppe haben.
Experten nennen das Cocooning, der Epidemiologe Alexander Kekulè spricht davon, die Risikogruppen müssten in eine Art „Fort Knox“. Zeigen die hohen Infektionszahlen in Altersheimen nicht, dass es einfach nicht gelingt, diese Menschen wirksam zu isolieren?
Es gibt ja nicht mal Masken für die Pflegenden! Diese Fälle zeigen einfach nur, dass wir unsere Alten und Kranken im Moment nicht genug schützen. Das sieht man auch daran, dass ich immer noch 90-Jährige beim Einkauf auf dem Wochenmarkt treffe. Die müssten die Hilfe annehmen und sich die Sachen bringen lassen.
Aus der Bundespolitik ist zu hören, eine Isolation von mindestens 16 Millionen Seniorinnen und Senioren sei nicht zu leisten.
Ich wüsste nicht, warum das schwieriger sein soll als drei Monate Shutdown für alle. Wenn die Regierung es für denkbar hält, 700 Milliarden Euro zu verbrennen, weil die Wirtschaft ruht, ist es dann nicht vorstellbar, für vielleicht 10 Prozent der Kosten eine optimale Versorgung der Alten und Kranken auf die Beine zu stellen? Es gibt ja genügend Leute, die einsetzbar wären.
Mit der Versorgung allein ist es ja nicht getan.
Das Cocooning wäre natürlich nur möglich in Kombination mit einer hoch effektiven Nachverfolgung der Infektionsketten. Wir müssen schneller sein als das Virus. Im Moment brauchen wir mit den Quarantäneanordnungen teilweise 10 Tage. Das müsste innerhalb eines Tages gehen. Dafür bräuchten wir die Handydaten.
Was ist dann der Grund für die Ablehnung Ihres Vorschlags?
Ich glaube, das hat moralische Gründe. Wir wollen nicht diese unterschiedliche Behandlung der Generationen akzeptieren. Aber das tut ja das Virus, wir reagieren nur darauf.
Braucht es nicht gerade in der Krise einen moralischen Kompass?
Mich stört es, wenn moralisiert wird, ohne zu analysieren. In den Medien und der Debatte dominieren die gefühlsstarken Einzelfälle. Mich hat die Geschichte des 14-jährigen Mädchens, das in Paris an Corona gestorben ist, auch mitgenommen. Aber bei den Menschen bleibt dann nur hängen, es können auch Teenager an Corona sterben. Ja, wenn wir es zulassen, dass sich Junge infizieren, dann bleibt ein kleines Restrisiko, aber das ist nicht größer als das im Straßenverkehr. In Wahrheit sind wir doch in einem Dilemma. Egal was wir tun, es werden Menschen sterben. Auch wenn wir nichts tun, entscheiden wir aktiv mit, wer das sein wird. Sich streng an Daten und Fakten zu halten, rettet da mehr Leben, als wenn man die eigene Moralität hochhält.
Gibt es für Sie international ein Vorbild für diesen Weg?
Nein, kein Land, in dem sich das Virus schon so weit verbreitet hat wie bei uns, hat den Exit auf diese Weise geschafft. Was die Schweden in dieser Phase machen, nämlich ohne Shutdown das Leben weiterlaufen zu lassen und für Alte und Kranke Empfehlungen auszusprechen, halte ich für zu riskant. Aber wenn wir in Deutschland jetzt im Shutdown allein auf den Impfstoff warten, dauert das einfach zu lange.
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