Berliner Radkuriere protestieren: „Hört auf, Essen zu bestellen!“
Lieferdienste erzielen bei Schnee und Lockdown Rekordumsätze. Deren FahrerInnen beklagen nun „menschenunwürdige Bedingungen“.
Tobias Schülke ist einer von ihnen. „Menschenunwürdig“ seien die derzeitigen Arbeitsbedingungen, sagt er. Die Forderungen der Protestierenden fasst er so zusammen: Lieferdienste wie Wolt und Lieferando müssten eine richtige Winterausrüstung zur Verfügung stellen. Jede FahrerIn müsse selbst entscheiden können, ob er oder sie bei diesen Bedingungen zur Arbeit erscheine. Auch einen Kältebonus müsse es geben. Von der Politik erwartet Schülke, dass „den Lieferdienstfirmen klare Vorschriften gemacht werden, die zum Beispiel die Arbeitszeiten bei diesen Witterungsbedingungen beschränken“.
Manche seiner KollegInnen würden trotz Minusgraden „bis zu zehn Stunden am Tag“ fahren, erzählt Schülke. Viele könnten aus ihren regulären Jobs derzeit keine Einkünfte erzielen. Dazu komme, dass viele FahrerInnen kein Deutsch sprächen. „Da ist die Gefahr groß, nur aus der Angst heraus zu funktionieren.“
Erst kürzlich hatte der Lieferando-Mutterkonzern Just Eat Takeaway verkündet, dass sich der Umsatz im Pandemiejahr 2020 auf rund 2,4 Milliarden Euro belaufe – verglichen mit dem Vorjahr ist das eine Steigerung um mehr als die Hälfte. Nun wollen die FahrerInnen einen Teil vom Kuchen abhaben.
Noch besäße man aber nicht die nötigen Strukturen, um selbst ausreichend Druck zu erzeugen, erzählt Schülke. Sie seien deshalb auf die Öffentlichkeit angewiesen: „Wir wollen, dass die Leute aufhören zu bestellen!“, fordert er. Nur so könne ein Umdenken der Lieferkonzerne erreicht werden.
„Uns geht es darum, ein gesellschaftliches Bewusstsein dafür zu schaffen, dass die Lieferdienste Menschen auf die Straße zwingen“, sagt Schülke. Gleichzeitig werde öffentlich kommuniziert, dass jede FahrerIn freiwillig unterwegs sei. Tatsächlich schreibt Wolt im Blog des Konzerns, niemand müsse sich bei Verspätungen oder dem Fernbleiben von der Arbeit aus Sicherheitsbedenken Gedanken machen.
Schülke hat in der Kommunikation mit Wolt andere Erfahrungen gemacht: „Da heißt es zum Beispiel, wenn Ihr nicht fahren wollt, dann lauft doch stattdessen. Wie kann man jemanden anbieten, für 10 Stunden bei Minusgraden durch den Schnee zu laufen?“, fragt er wütend. Als er Bedenken bekundete, habe er ein blaues Smilyherz aufs Handy und einen aufbauenden Spruch erhalten. Das sei, so Schülke, „absurd“: „Ich bin Arbeitnehmer und damit weisungsgebunden. Da sind die Nettigkeiten doch völlig egal.“
Bisher bestünde aber nur eine Telegram-Gruppe, in der die FahrerInnen zudem anonym blieben. „Man weiß ja nie, ob der Arbeitgeber mithört“, sagt Schülke, der nur mit Klarnamen auftritt, da er sich bereits öffentlich ausgesprochen habe. Er ist dennoch besorgt: „Beim letzten großen Aufstand der FahrerInnen haben ja alle, die namentlich bekannt geworden sind, ihre Arbeit verloren“, sagt er.
Beim Fototermin verstecken sich Fahrradkuriere deshalb hinter Schals und den Pappschildern, um nicht erkannt zu werden. Eine Lieferantin erzählt, dass es den KundInnen völlig egal sei, ob es regnet oder schneit. Hauptsache sie bekämen ihr Essen rechtzeitig. „Das ist euer Job“, sei die Haltung. Auch was Trinkgeld angehe, seien die Leute mehr als knauserig. Einer habe ihr in diesen Kältetagen ganze 28 Cent gegeben.
„Mama, was wollen die?“, fragt ein kleiner Junge seine Mutter, die auf einem Poller auf der Admiralbrücke sitzt und die Kundgebung beobachtet. „Die wollen, dass die Leute selber kochen“, lautet die Antwort.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um Termin für Bundestagswahl
Vor März wird das nichts
Energiepläne der Union
Der die Windräder abbauen will
Bewertung aus dem Bundesinnenministerium
Auch Hamas-Dreiecke nun verboten
SPD nach Ampel-Aus
It’s soziale Sicherheit, stupid
Wirbel um Berichterstattung in Amsterdam
Medien zeigen falsches Hetz-Video
Einigung zwischen Union und SPD
Vorgezogene Neuwahlen am 23. Februar