Linker Kritiker über Wagenknecht: „Rassismus beginnt beim Selektieren“
Der Philosoph Thomas Seibert hat den offenen Brief gegen Sahra Wagenknecht unterzeichnet. Er begründet, warum er sie für rassistisch hält.
taz: Herr Seibert, halten Sie Sahra Wagenknecht für rassistisch?
Thomas Seibert: Wagenknecht stärkt rassistische Positionen in der Wählerschaft der politischen Linken und damit den diffusen Rassismus in rund einem Viertel unserer Gesellschaft. Streng verstanden ist das selbst Rassismus.
Ist das nicht maßlos übertrieben?
Sie ist keine bekennende Rassistin. Auch viele der AfD-Wählerinnen sind das nicht. Doch beginnt Rassismus nicht erst mit dem ausdrücklichen Bekenntnis zur Überlegenheit der weißen Rasse und der deutschen Blutsgemeinschaft. Rassismus liegt dort vor, wo Menschen nach entsprechenden Merkmalen selektiert werden: in solche, die hierhergehören, und solche, die hier nur geduldet sind und bald wieder wegsollen. Das denkt sie wirklich.
Wollen Sie ernsthaft alle, die skeptisch gegenüber offenen Grenzen sind, unter Rassismusverdacht stellen?
Bleiben wir zunächst beim Selektieren. Wenn Reisende an deutschen Flughäfen schon vor dem Betreten deutschen Hoheitsgebiets in eine Vorkontrolle geraten, in denen alle Weißen durchgewunken und alle offenkundig Nichtweißen gestoppt und nach ihrem Pass gefragt werden, dann ist das institutionalisierter Rassismus: racial profiling. Die Zollbeamten nehmen daran teil, auch wenn sie selbst fern jedes rassistischen Bekenntnisses sind. Wenn eine politische Ordnung konstitutiv dasselbe tut, ist sie eine rassistische Ordnung. Wer sich aktiv an der Reproduktion dieser Ordnung beteiligt, nimmt daran teil. Wer diese Ordnung nicht nur reproduzieren, sondern in ihrem exkludierenden Charakter noch verschärfen will, steckt da noch tiefer drin als der Zöllner, dem sein Handeln vielleicht sogar leidtut.
Der Philosoph und Autor (geboren 1957) ist Sprecher des Instituts Solidarische Moderne, eines rot-rot-grünen Thinktanks. Er ist Mitunterzeichner des offenen Briefes an die Linkspartei-Abgeordneten.
Wagenknecht hat im Bundestag, wie die Linksfraktion, gegen alle Asylverschärfungen gestimmt. Wie passt das zu dem Rassismus-Etikett, das der offene Brief ihr anhängt?
Oskar Lafontaine hat noch als Ministerpräsident federführend an der Verschärfung des Asylrechts mitgewirkt – schon vergessen?
Das war 1992. Wollen Sie Wagenknecht dafür verantwortlich machen?
Wagenknecht schließt daran an und verstärkt gezielt die Stimmung, in der der Abbau der Rechte nichtdeutscher Menschen fortgesetzt wird und noch weiter radikalisiert zu werden droht. Das alles in einer Situation, in der die Kanzlerin durch ihr „Wir schaffen das!“ einen umgekehrten Weg eröffnet und unsere Gesellschaft damit vor ein Entweder-Oder gestellt hat: Ja, wir schaffen das und schaffen damit auch eine andere, eine weltoffenere Gesellschaft – oder nein, wir schaffen und wollen das nicht, wollen unter uns bleiben. Wagenknecht hat dieses Entweder-Oder für sich nach der zweiten Option entschieden, nicht anders übrigens als Nahles oder Kretschmann.
Also gehören Nahles und Kretschmann auch unter Rassismusverdacht?
Ja, natürlich. In diesem Land haben sich Millionen für den Weg des „Wir schaffen das“ entschieden. Linke Politik schließt daran an – oder sie ist keine linke Politik. Wenn man das „Wir schaffen das!“ wählt, kann man natürlich Zweifel haben, ob dann diese oder jene Wendung des Wegs die praktisch richtige sein wird: So verstanden, ist Skepsis gegen offene Grenzen natürlich legitim. Aber Wagenknecht stellt sich der politischen Wahl des „Wir schaffen das!“ aktiv entgegen.
Der offene Brief diskutiert keine konkreten Äußerungen, sondern ist eine pauschale Attacke auf Wagenknecht. Ist Exkommunikation aus der Reihe der Rechtgläubigen nicht ein Ritual linker Debatten, das man besser hinter sich lässt?
Es geht nicht um innerlinke Querelen, sondern um Merkels Entweder-Oder und die Zukunft unserer Gesellschaft. Geben wir dem rassistischen Viertel weiter Raum, oder sammeln wir eine Mehrheit für das „Wir schaffen das!“ Hier ist die Rose, hier tanze!
Jan Korte, unverdächtig, Wagenknecht-Fan zu sein, sagt: „Wer die Fraktionschefin in die rassistische Ecke stellt, hat nicht alle Tassen im Schrank.“ Der offene Brief erzeugt, weil er so leichtfertig mit dem Rassismusvorwurf hantiert, einen Schulterschluss. Er isoliert Wagenknechts Position in der Linkspartei nicht – im Gegenteil.
Die Frage ist nicht, was wer zu dem Brief sagt. Wichtig ist, welche Entscheidung die Partei letztendlich trifft. Sie hat mehrfach schon versucht, Wagenknecht zu stoppen. Die hat sich darüber immer wieder hinweggesetzt. Was wird verbindlich sein: ihre Position oder das Parteiprogramm?
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