Wirbel um Wagenknechts neues Buch: Wahlkampf gegen die eigene Partei

Eigentlich wollte sich Sahra Wagenknecht zur Linken-Spitzenkandidatin in NRW wählen lassen. Doch nun wurde der Inhalt ihres neuen Buchs bekannt.

Sahra Wagenknecht blickt in Unterlagen von Dietmar Bartsch

2015 bis 2019 war Sahra Wagenknecht zusammen mit Dietmar Bartsch Linke-Fraktionsvorsitzende Foto: Christian Thiel/imago

BERLIN taz | Es ist ein Sprengsatz, der eigentlich erst unmittelbar nach ihrer Kür zur Spitzenkandidatin der nordrhein-westfälischen Linkspartei zünden sollte. Doch nun kursieren bereits vor der digitalen Aufstellungsversammlung am kommenden Wochenende die ersten Exemplare von Sahra Wagenknechts neuem Buch „Die Selbstgerechten“ – und sorgen für mächtig Aufregung in den eigenen Reihen. Denn die frühere Bundestagsfraktionsvorsitzende hat pünktlich zum Bundestagswahlkampf eine Generalabrechnung mit der Linken im Allgemeinen und ihrer Partei im Besonderen verfasst.

345 Seiten umfasst das Werk, das offiziell erst am nächsten Mittwoch erscheint. Bis dahin sollte nach dem Willen des Campus Verlags weder aus dem Buch zitiert noch dessen Inhalt referiert werden. Doch diese Sperrfrist ist inzwischen Makulatur. Die ersten Buchläden haben es bereits vorzeitig auf ihre Ladentheke gelegt. Auch die taz ist so an ein Exemplar gekommen.

„Wer das Buch von Sahra Wagenknecht liest, kann nur zu einem Schluss kommen: Sie befindet sich in einem regelrechten Feldzug gegen die eigene Partei“, sagt der Oberhausener Linkspartei-Bundestagsabgeordnete Niema Movassat der taz. Es sei für ihn „unergründlich, wie jemand, der Teile unserer Wählerschaft und die Programmatik der Partei offensichtlich verachtet, Spitzenkandidatin in NRW werden will.“

Der Grund für Movassats Empörung: Mit scharfen Worten attackiert Wagenknecht in ihrem Buch jegliche emanzipatorische Bewegungen, denen sich die Linkspartei eigentlich verbunden fühlt. Von den Fridays for Future über Black Lives Matter, dem Seebrücke-Bündnis bis hin zu den „Unteilbar“-Demonstrationen – für die einstige linke Frontfrau alles unerquickliche Veranstaltungen einer degenerierten „Lifestyle-Linken“, die den Bezug zu den wahren gesellschaftlichen Problemen verloren habe.

„Liebeserklärung an die rechten Kräfte“

Größere Sympathien hegt Wagenknecht hingegen für die Gelbwesten-Proteste in Frankreich. Da die Gelbwesten „die Vorgaben des linksliberalen Weltbildes beherzt ignorierten, wurden sie insbesondere von deutschen Lifestyle-Linken sofort rechtsradikaler Sympathien verdächtigt“, ärgert sich Wagenknecht – und zitiert als Beleg ihren Fraktionskollegen Bernd Riexinger. Ohne ihn allerdings namentlich zu erwähnen: Für Wagenknecht ist er nur „der damalige Vorsitzende einer deutschen linken Partei, dessen Name heute zu Recht vergessen ist“.

Auf Unverständnis stößt bei Wagenknecht auch der Umgang mit den „großen Anti-Corona-Demonstrationen“, bei denen der Vorstand der Linkspartei „nur ‚Verschwörungstheoretiker‘ und ‚Nazis‘ auf den Straßen“ gesehen habe, „obwohl jeder, der Bilder dieser Kundgebungen unvoreingenommen betrachtet hat, die große Zahl relativ unpolitischer, aber eben unzufriedener Normalbürger kaum übersehen konnte“.

Das Buch sei eine „Abschiedserklärung“ und „eine einzige Liebeserklärung an die rechten Kräfte im Land“, kommentiert Linkspartei-Bundesvorstandsmitglied Thies Gleiss gegenüber der taz. „Vermutlich möchte sie gerne noch einmal in den Bundestag gewählt werden, um dann mit ihren Getreuen etwas Neues aufzubauen“, mutmaßt er.

Tatsächlich liest sich die Schrift über weite Strecken wie eine Kampfansage an die eigene Partei. Die werde – ebenso wie die SPD – dominiert von jener bereits erwähnten „Lifestyle-Linken“, die sich auf den „Irrweg des Linksliberalismus“ begeben habe. Wagenknechts Kernaussage: „Vor allem Arbeiter und Geringverdiener haben keine politische Vertretung mehr, seit die linken Parteien die Seiten gewechselt haben.“ Starker Tobak.

„Spuk um Diversity und Frauenquoten“

Wagenknecht kritisiert, die von ihr angeprangerte „Lifestyle-Linke“ würde sich „auf immer kleinere und immer skurrilere Minderheiten“ richten, „die ihre Identität jeweils in irgendeiner Marotte finden, durch die sie sich von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden und aus der sie den Anspruch ableiten, ein Opfer zu sein“. Sexuelle Orientierung, Hautfarbe oder Ethnie würden dabei immer funktionieren. Auch religiöse Überzeugungen, soweit sie nur von einer Minderheit geteilt werden, könnten „einen zum Opfer und damit unangreifbar machen“.

Wortreich geißelt Wagenknecht den aus ihrer Sicht „Spuk um Diversity und Frauenquoten“. Beim „Rummel um Diversity und Quoten“ gehe es „immer nur darum, bereits privilegierten Frauen und Minderheiten bessere Chancen im Kampf um gut dotierte Stellen zu verschaffen“.

So müsse jede Partei, jede Zeitungsredaktion und jede Rundfunkanstalt heute darauf achten, dass ihr Personal in exponierten Positionen nicht ausschließlich Müller, Maier oder Schuster heiße, sondern ein hinreichender Anteil ausländischer Namen für Weltoffenheit und Multikulturalität bürge. „Wer das nicht beachtet, gilt als muffig und reaktionär“, beklagt sich Wagenknecht.

Kein Verständnis hat sie dafür, dass die „Lifestyle-Linke“ daran mitwirke, „nationale Identitäten und die Sehnsucht nach Stabilität, Vertrautheit und Zusammenhalt moralisch zu diskreditieren“. Nicht mehr geschätzt würden „die traditionellen Gemeinschaftswerte“, obwohl diese „weder rückwärtsgewandt noch überholt“ seien.

Lob ausgerechnet für die PiS

Ein Bekenntnis zum Grundgesetz als gemeinsames Wertgerüst reiche demnach nicht aus: „Wenn man den Begriff Leitkultur sinnvoll definieren will, sollte man darunter die durch kulturelle Überlieferung, Geschichte und nationale Erzählungen begründeten spezifischen Werte und typischen Verhaltensmuster innerhalb einer Nation verstehen, die Teil ihrer gemeinsamen Identität sind und auf denen ihr Zusammengehörigkeitsgefühl beruht.“

Während sie an ihrer eigenen Partei kein gutes Haar lässt, bescheinigt sie ausgerechnet der nationalistisch und klerikal-reaktionär ausgerichteten polnischen Regierungspartei PiS, diese stehe „für eine couragierte Sozialpolitik, wie man sie sich von allen sozialdemokratischen und linken Parteien in Westeuropa wünschen würde“.

Dass Landwirte, Fabrikarbeiter und Rentner, die von dieser Sozialpolitik profitiert hätten, „diese Seite der Politik letztlich wichtiger fanden als die Frage der Gewaltenteilung oder der Pressefreiheit und der PiS daher 2019 zu einem erneuten Wahlsieg verhalfen, ist nicht verwunderlich und ganz sicher kein Beleg für deren rechte Gesinnung“.

Der Kreissprecher der Linkspartei in Köln, Hans Günter Bell, hat dafür nur noch ein Kopfschütteln übrig. „Nach der Lektüre des Buches ist klar, dass sich die Partei und die ehemalige Vorsitzende der Bundestagsfraktion einander entfremdet haben“, sagt Bell der taz. „Warum Sahra Wagenknecht dennoch für diese Partei erneut für den Bundestag kandidieren will, ist mir ein Rätsel.“ Es wäre „ein großer Fehler“, sie im größten Landesverband der Linkspartei auf den Listenplatz 1 für den Bundestag zu wählen.

Wagenknecht verunglimpfe die eigene Mitgliedschaft, findet Daniel Kerekeš, Kreissprecher der Linkspartei in Essen. Die Diskussionen über ihr Buch könnten einen „irreparablen Imageschaden für die Partei zur Folge haben“. Kerekeš hält Wagenknecht als NRW-Spitzenkandidatin für „nicht tragbar“.

Ob das auch die Delegierten am Wochenende so sehen? Nach wie vor hat Wagenknecht Un­ter­stüt­ze­r:in­nen im NRW-Landesverband. Trotz alledem.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.