Presse- und Meinungsfreiheit: Hat die Gesellschaft noch Bock drauf?
Kürzlich verbot Nancy Faeser „Compact“. Das rechte Magazin selbst hat jetzt Klage dagegen eingereicht. Das ist gut so.
![Nancy Faeser (SPD), Bundesinnenministerin, schaut nachdenklich. Nancy Faeser (SPD), Bundesinnenministerin, schaut nachdenklich.](/picture/7143325/624/35761581-1.jpeg)
Setzt derzeit wenig auf Argumente, mehr auf Härte: Nancy Faeser, Bundesinnenministerin Foto: Boris Roessler/dpa
Bisher lässt sich über den diesjährigen deutschen Sommer nicht viel meckern. Wettermäßig benimmt er sich zwar wie ein opportunistischer Wechselwähler, politisch aber liefert er ab: verweigert den befürchteten Nationalismusschub durch die Fußball-EM, versorgt US-Berater*innen im Prenzlauer Berg mit jeder Menge Stoff für falsche Prophetie („Das war’s! Diesen Mann kann niemand mehr schlagen“), und der Bundesinnenministerin gibt er den Raum, sich mit Rechtsextremist*innen, Islamist*innen und Klimaaktivist*innen anzulegen.
Ob in der Auseinandersetzung mit den Rechten die Innenministerin und die Demokratie als Gewinnerinnen vom Platz gehen oder die Truppe rund um Jürgen Elsässer und sein Magazin Compact, ist noch unentschieden.
Die einen feiern das Verbot von Compactmit den Worten Nancy Faesers als einen „Schlag gegen den Rechtsextremismus“. Die anderen warnen vor zu früher Freude und kritisieren die dünne Argumentation, mit der das BMI einen eklatanten staatlichen Eingriff in die Presse- und Meinungsfreiheit legitimiert habe.
Ich stehe in dieser Frage in der Ecke der Kritiker. Zum einen, weil ich finde, dass man da als Journalist*in sowieso immer besser aufgehoben ist. Zum anderen finde ich zwar auch, dass man besser früher als später drohendes Unheil bekämpft, aber der Eingriff des BMI wirft eine Frage auf, die kaum offen gestellt wird: Hat diese Gesellschaft noch Bock auf die bisher in der Verfassung festgehaltene, sehr weit gehende Definition von Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit in Deutschland?
Wenige Argumente, viel Härte
All die Debatten über die Macht der Sprache in den letzten Jahren – die Frage der praktischen Auswirkung von hatespeech, toxischen Wörtern und hetzerischer Rhetorik der Rechten – laufen darauf hinaus.
Ich finde es daher sehr gut, dass die rechtsextremen Kretins Klage gegen das Compact-Verbot eingereicht haben. Denn wie auch immer das Bundesverwaltungsgericht entscheidet, die Verhandlungen werden eine gute Grundlage bieten, um ausgerechnet im 75. Jubiläumsjahr der bundesrepublikanischen Verfassung darüber zu diskutieren, ob die Presse- und Meinungsfreiheit, wie sie das Grundgesetz bisher garantiert, Segen oder Fluch für eine freiheitliche Gesellschaft ist. Also darüber, wie viel Freiheit in Presse- und Meinungsfreiheit noch stecken soll.
Nancy Faeser aber setzt derzeit wenig auf Argumente, mehr auf Härte. Als wäre dieses Wochenende Einsendeschluss für die Leistungsnachweise ihrer Amtszeit, nahm sie sich am Ende auch noch die Klimaaktivist*innen vor. Flughäfen zu blockieren, so sagte sie, sei „gefährlich, dumm und kriminell“, und drohte, Flughäfen stärker gesetzlich zur Verbesserung der Sicherheit zu verpflichten.
EC-Karte geklaut
Ich hätte mir diese Woche noch eine weitere beherzte Ansage von der Innenministerin gewünscht. Meine EC-Karte wurde nämlich geklaut, und trotz sofortiger Sperrung wurden mit der Karte tagelang Waren im Wert von über 3.000 Euro gekauft. Wie das geht? Kann mir weder die Bank noch die Polizei erklären. Nur, dass Kartenzahlung ohne PIN, nur mit Unterschrift, auch dann geht, wenn die Karte gesperrt ist.
Sperrung bedeutet nicht Sperrung? Die Auskunft „Ihre Karte ist jetzt gesperrt“ bedeutet also nicht, dass die Karte jetzt gesperrt ist? Und das soll weniger gefährlich, dumm und kriminell sein?
Ich wünsche mir eine faesersche Ansage: verschärfte gesetzliche Pflichten zur Sicherheit bei EC-Karten. Geht auch in einem Tweet: „Heute habe ich Banken und Händlern verboten, gesperrte Karten nicht ganz zu sperren. Ab sofort ist die Bezahlung mit Unterschrift nicht mehr möglich.“ Sicher, die Rechten würden die nächste Debatte über die Verbotspolitik der Innenministerin vom Zaun brechen. In diesem Fall aber stünde ich komplett hinter ihr.
Leser*innenkommentare
Elise Hampel
Ich halte für Problem - schlicht und polemisch gesagt -
dass die Herrschaften keine Bekanntschaft mit Bundesanwaltschaft, Staatsschutzsenat, dem Einzweckgebäude und der Anstalt von Stuttgart-Stammheim machen.
Und zwar nicht abstrakt als Partei, mit den Mitteln des Parteienrechts, nicht als Verein, mit den Mitteln des Vereinsrechts, nicht als Druck /Presse /Medienerzeugnis mit den Mitteln des Vereins- oder Pressrechts.
Das alles würde in der Nachfolge (womöglich) greifen. Bildete aber nicht den juristisch angreifbaren Kern.
Zu kriminalisieren ist Agenda, Plan, Projekt für terroristische Praxis. Damit konkrete Personen, die das vertreten, verbreiten verfolgen. Also organisieren, unterstützen Werbung dafür machen.
Voraussetzung dafür ist: Zum Beispiel das Projekt "Remigration" als terroristeischen Plan /Praxis von Terroristen zu analysieren, unter Strafe zu stellen und zu verfolgen.
Oder wie nennt man den Versuch einen ethnisch-völkischen Bürgerkrieg in einem Einwanderungsland zu eskalieren /auszulösen? Plus der ausschweifend und theoretisierenden Massnahmen ihn dann als Faschist auch zu gewinnen?
Wat sacht das Lowandorder so fachlich-sachlich dazu?
Herbert Eisenbeiß
Das Verbot von Compact war und ist in mehrerer Hinsicht bemerkenswert:
1. es ging vom Bund aus.
2. es basiert auf dem Vereinsrecht, was rechtlich zwar möglich aber ziemlich an den Haaren herbeigezogen ist.
3. der Bund hat sich hier in die Angelegenheiten der Länder eingemischt, denn die Pressefreiheit achten und verteidigen ist Ländersache.
4. solch einen Vorgang gab es vorher nicht.
Und treffen kann so etwas im Prinzip alle, egal welche politische Ausrichtung vorhanden ist.
der_bjoern
Ich finde wir müssen endlich unterscheiden zwischen der Meinungsfreiheit des einzelnen und derer von Organisationen.
Der Privatmensch muss seine Freiheit behalten, aber was wir aktuell an Kommentaren in Bild oder Zeit lesen oder was man von Merz und Lindner (also CDU und FDP) hört, da wird mir nicht nur angst und bange. Die Auswirkungen dessen, kann man sich ja bei jeder Wahlumfrage ansehen.
Kawabunga
In der Debatte um das Compact-Verbot wird meiner Meinung nach häufig die politische Zielrichtung mit der Wahl der Mittel vermischt. Natürlich finde bspw. ich es absolut begrüßenswert, dass das Drecksmagazin weg vom Markt ist. Aber ich will trotzdem sichergestellt wissen, dass Nancy Faeser, die sehr auf öffentlichkeitswirksame Paukenschläge und Hau-Drauf-Aktionen steht, dabei alle Maßstäbe von Gesetz und Verhältnismäßigkeit eingehalten hat, um keine Präzedenzfälle/eingeübte Praxis für den Umgang mit jedem - je nach politischer Ausrichtung, die gerade am Hebel sitzt - unerträglichen Medienerzeugnis etc. entstehen zu lassen. Das ist eine - diesmal tatsächlich praxisbezogene und damit mehrdimensionale - Erweiterung des allseits beliebten popperistischen Toleranz-Paradoxons.
Bambus05
Frau Akrap hat nicht unrecht, die Klage hilft, die Sache klarzustellen. Was muss die Gesellschaft an rechter Hetze, an Irrsinn, an Verblendung aushalten und was eben nicht mehr?
Dass Compact ein widerlicher Pamphlet ist dürfte unter Menschen, die bei Trost sind, unstrittig sein, nur wann darf der Staat eingreifen?
Die Sache mit der ec-Karte dürfte mit der Bank nach Hause gehen, wenn diese offensichtlich bei der Sperrung der Karte versagt dürfte Sie den Schaden zu tragen haben.
realnessuno
"Ich bin nicht Ihrer Meinung aber werde dafür kämpfen dass Sie diese äußern können."
So ähnlich kenne ich das aus der Schule. Diese Haltung erfordert aber ein Miteinander, welches von Werbekanälen (twitter, facebook, instagram, tiktok.....) unterminiert wurde und wird, so dass inzwischen eher ein "Gegeneinander" vorherrscht.
In einer solchen Atmosphäre gibt es vermutlich zu wenig Wohlwollen und Solidarität, um auch unbequeme Rechte (juristisch) mittragen zu wollen.
aujau
Meinungsfreiheit kann doch nicht bedeuten, zielgerichtet notwendige Kritik an Fehlern in der Migrationssituation mit den Mitteln nationalistischer Verdummung und Hetze zu vermengen.
Sollen sie klagen, hoffentlich verlieren sie und bleiben auf den Kosten sitzen.
Lowandorder
@aujau Sorry. Sie scheinen nicht ganz zu überreissen worauf Doris Akrap hinauswill.
Handreichung - NZZ -
Mit dem Verbot von «Compact» geht die deutsche Innenministerin ins Risiko
Nancy Faeser hält ihr Vorgehen gegen das rechtsextreme Magazin «Compact» für gerechtfertigt. Sollten Richter allerdings anders entscheiden, stärkt die Ministerin diejenigen, die sie schwächen will.
Morten Freidel, Berlin
474 Kommentare
www.nzz.ch/der-and...-risiko-ld.1839822
unterm—btw & entre nous but not only
In unserer Bundes-D-Mannschaft ist uns
Nancy Fraency vande Görg Ffm eine besondere Fehlbesetzung! Gelle
Sie hatte sich bis dato Kanzlei Görg -
Ausschließlich mit ZivilR im Wirtschaftsbereich beschäftigt!
Aus jahrelanger Erfahrung als Öffentichrechtler - weiß ich daß derart konnotierte regelmäßig nicht in der Lage sind - sich unfallfrei im Öffentlichen - insbesondere verfassungsrechtlichen Recht zu bewegen! Allein wenn ich ihre hilflosen Begründungsbemühungen mal über mich ergehen lasse! Gelle
Rollen sich mir die Zehnägel nach innen!
Michas World
@Lowandorder Ich stimmen Ihne ja nicht immer zu, hier aber in jedem Falle. Zum einen passt die Rechtsgrundlage nicht, zum anderen greift sie in Länderrecht ein. Alles andere als eine Aufhebung des Verbots, allein aus formalen Gründen würde mich überraschen. So adelt man Compact.
aujau
@Lowandorder Mag sein, dass Sie Recht haben. Trotzdem freue ich mich naiv-gutgläubig zunächst über eine Behinderung des nationalistischen Projekts, auch wenn diese vorläufig ist. Kann natürlich sein, dass die vor Gericht gewinnen und dann gestärkt werden oder sich bei Niederlage als Märtyrer präsentieren können.
Michas World
@aujau Sue haben die Problematik nicht wirklich verstanden. Im Grunde ähnlich zum anstehenden AfD-Verbotsverfahren. Scheitert es, bekommt due AfD das Siegel des Bundesverfassungsgericht. Schnellschüsse treffen selten das Ziel.
Lowandorder
@aujau “Mag sein, dass Sie Recht haben.“
Mit Verlaub - darum geht es doch gar nicht & hab ne eigene doch gar nicht geäußert! Woll
Denkanstöße - that’s it - & de Jung vonne NZZ macht das echt gut!
Denn dann! gilt Harry Rowohlts Satz:
“Sagen - was man denkt!
Und vorher was gedacht haben - wäre fein!“;))
ke1ner
@aujau Nationalistischer Verdummung kann wan politisch und argumentativ etwas entgegensetzen (wenn wan es kann), Hetze mit den Mitteln des Strafrechts entgegentreten.
Die Mühe sollte wan sich schon machen (müssen), wenn einem an Meinungs- und Pressefreiheit gelegen ist.
Jochen Laun
@aujau Doch, all das steckt in der Meinungsfreiheit drin. Die ganze Freiheit oder keine. Rosinen picken geht nicht. Und, um auf die Frage der Autorin einzugehen: Ich fürchte, weite Teile der Gesellschaft haben keinen Bock auf Meinungsfreiheit. Ausgerechnet die Progressiven haben's gern autoritär in diesen Zeiten, so scheint es mir.
Michas World
@aujau Sie klagen schon und dürften Recht bekommen, allein schon aus formalen Gründen.