Diskriminierung in der Bahn: Rollstuhlfahrer aus dem Zug gezerrt
Weil das Mehrzweck-Abteil überfüllt war, warf ein Schaffner einen Knochenkranken aus dem Wagen. Er wehrte sich und hat nun eine Anzeige am Hals.
Emmanuil berichtet, jener Mitarbeiter habe so an ihm gezerrt, dass er verletzt wurde. Er habe gutartige Knochentumore. „Wenn man die anschlägt, dann geht die Knochenhaut ab. Das ist ultra schmerzhaft und es dauert sehr lange, bis es heilt.“
Von den dramatischen Minuten am Bahnsteig hat der 34-Jährige zwei Videos gemacht. Vor ihm hätten alle anderen Menschen, die am Bahnsteig standen, in das Mehrzweck-Abteil für Rollstuhlfahrer einsteigen können. Als er als letzter in den Wagen wollte, habe der Schaffner gesagt, es sei voll. „Ich sagte: ‚Quatsch, da ist doch noch Platz‘ und hab mich aus dem Rolli auf den Boden gesetzt. Das kann ich ganz gut“, berichtet Emmanuil.
Rollstuhl weggerissen
Da habe der Schaffner erst Emmanuils Rucksack auf den Bahnsteig geschmissen und anschließend den Rollstuhl von ihm weggerissen und rausgestellt. „Ich bin dann auf allen Vieren dahin gekrochen und habe ihn mir wieder geschnappt“, beschreibt er die entwürdigende Situation. „Ich robbte mit Rolli an der Hand zum Zug zurück und setzte mich wieder auf den Boden.“
Da habe der Mitarbeiter versucht, ihn mit Gewalt rauszuheben. Dabei sei er gegen die Bahnsteigkante geknallt und mit den Beinen im Spalt zwischen Zug und Bahnsteig hängen geblieben. Der Bahnmitarbeiter habe dann den Rollstuhl auf den Bahnsteig geworfen. „Da sah ich rot. Mein Rollstuhl ist für mich wie ein Teil meines Körpers“, erinnert er. „Ich biss ihn in sein Bein, da ließ er endlich von mir ab.“
Illias Emmanuil
Die beiden Videos sind wackelig und zeigen die Situation kurz vor der Eskalation und die Minuten danach, in denen Emmanuil auf dem Bahnsteig sitzt und die Mitarbeiter auf die Polizei warten. „Ich hatte solche Schmerzen, ich konnte dort nicht aufstehen“, sagt er. Die Beamten halfen ihm aus der misslichen Lage, nahmen aber nur die Personalien eines Zeugen auf, der ihn belastete und jenen Biss bezeugen wollte. „Ich war absolut fertig. Es gab keinen, der zu mir stand und bezeugen wollte, was mir und meinem Rollstuhl passierte“, sagt er. „Der Zug fuhr ohne mich.“
Die Gruppe „Antiableistische Aktion Lüneburg“ trug nun drei weitere Fälle zusammen, bei denen jener Mitarbeiter Rollstuhlfahrer stehen gelassen habe. Die Blinde Justine T. zum Beispiel berichtet, bei ihr habe sich der Schaffner geweigert, die Rampe für ihren E-Rollstuhl auszufahren und statt ihrer Fußgänger und Menschen mit Kinderwagen einsteigen lassen.
Ein anderer Rolli-Fahrer berichtet, er musste lange diskutieren, um seine Mitfahrt durchzusetzen. Auch in diesem Fall hatten Fußgänger die Rollstuhlplätze besetzt. Dabei heißt es in den Beförderungsbedingungen des Metronoms, die gekennzeichneten Bereiche seien schwerbehinderten und in der Gehfähigkeit behinderten Menschen freizugeben.
Der Sprecher der Metronom-Gesellschaft, Björn Tiedemann, verwehrt sich gegen eine Vorverurteilung durch die Veröffentlichung der Videos, die gäben nur einen „kurzen, kontextlosen Ausschnitt“ wieder. Das Zugpersonal habe den Fahrgast darüber informiert, dass ein Einstieg nicht möglich sei. Das sei gängige Praxis und notwendig. „Wenn der Bereich des Zuges für den sicheren Transport von Rollstühlen bereits voll ist, können einfach keine weiteren Rollstühle mitgenommen werden.“
Der Reisende habe dennoch „massiv“ versucht, sich Zutritt zu verschaffen. Aus der sich daraus ergebenden Situation sei es zu einem Angriff gegen einen Mitarbeiter gekommen, der sei wegen Bisswunden am Bein ambulant im Krankenhaus behandelt worden und habe Anzeige erstattet. Zudem habe der Fahrgast sich zwischen Zug und Bahnsteig niedergesetzt und „blockierte so die Weiterfahrt des Zuges“.
Reisende machten keinen Platz für den Rollstuhl
Gefragt, ob denn dieser Bereich tatsächlich durch Rollstühle besetzt war und wenn nicht, ob man nicht andere Reisende hätte bitten können, für den Rollstuhl Platz zu machen, antwortet die Bahnfirma, die genaue Anzahl der dort sich befindlichen Rollstühle sei „nach aktueller Aktenlage nicht zweifelsfrei belegbar“. Der Fahrgast habe seinen Zustieg „mit erheblicher Vehemenz forciert“, bevor eine Umverteilung von Fahrgästen oder eine andere konstruktive Lösung im Sinne einer regel- und sicherheitskonformen Mitfahrt „geprüft und umgesetzt“ werden konnte. Das Zugpersonal habe bereits vor Lüneburg gemeldet, dass ein weiterer Zustieg nicht mehr möglich ist.
Ilias Emmanuil sagt, ein Problem sei, dass viele Menschen Fernreisen mit dem Deutschlandticket machen, weil die ICE-Fahrten zu teuer sind. „Früher reiste man aus Überzeugung mit dem Zug. Da gab es einen Verhaltenskodex, dass man Rücksicht aufeinander nimmt“, sagt er. „Heute gilt nur noch: Der Stärkere kommt rein.“
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