Mangelnde Barrierefreiheit bei der Bahn: Steige ein, wer kann
Wer ICE fahren will, muss Stufen erklimmen. Für Menschen im Rollstuhl ist das ein Problem. Auch die neuen Vorzeigezüge ändern daran nichts.
Rollstuhlfahrer:innen kommen bislang nur mithilfe eines Hublifts in die ICE der Deutschen Bahn. Angesichts dessen, dass auch die 73 nagelneuen 3neo-Züge keinen stufenlosen Einstieg bieten, wird das wohl auch erst mal so bleiben.
Das ist fatal, findet Alexander Ahrens, Sprecher der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben. Er weiß aus Erfahrungsberichten, dass die Hublifte für das Zugpersonal schwer zu bedienen sind und nicht immer funktionieren, wie sie sollten. „Das ist sehr einschränkend, weil Rollstuhlfahrer:innen die Stufen nicht ohne Hilfe überwinden und in diese Züge einsteigen können“, sagt Ahrens.
Menschen mit Rollstuhl sind auf die Hilfe des Zugpersonals oder des Mobilitätsservice angewiesen, wenn sie in einen ICE einsteigen wollen. Zudem muss eine Mitfahrt mit Rollstuhl vorher beim Mobilitätsservice angemeldet werden und ist auch dann nicht rund um die Uhr möglich, sondern nur von 6 Uhr morgens bis 10 Uhr abends.
„Einfach genauso Zug fahren wie Menschen ohne Rollstuhl“
In einem vorangegangenen Schlichtungsverfahren, welches die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben bereits im Jahr 2017 einleitete, ging es um eine Erweiterung dieses Zeitrahmens. Rollstuhlfahrer:innen sollten zeitlich uneingeschränkt mitfahren können. „Wir wollen keinen Sonderstatus, sondern einfach genauso flexibel Zug fahren wie Menschen ohne Rollstuhl“, erklärt Ahrens der taz.
Seit vielen Jahren gibt es einen regelmäßigen Austausch zwischen Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben sowie dem Allgemeinen Behindertenverband Deutschland auf der einen Seite und der Deutschen Bahn auf der anderen.
„Im letzten Präsenztreffen vor der Coronapandemie wurde uns zugesichert, dass nur noch Züge mit ebenerdigem Einstieg gekauft werden sollen“, sagt Ahrens. Umso unerwarteter und enttäuschender war daher der im Juli 2020 geschlossene Rahmenvertrag mit Siemens für eine 2 Milliarden teure Produktion. Als die Verbände von der Bestellung der ersten 30 ICEs erfuhren, war laut Ahrens alles schon „festgezurrt“. Jetzt habe er den Eindruck, dass die Mitsprache der Verbände „eher eine Scheinbeteiligung“ sei.
Das sieht Klaus Heidrich, Vizechef des Behindertenverbands, ähnlich: „Es werden Milliarden Euro für Züge ausgegeben, die nicht einmal annähernd barrierefrei sind.“ Dabei gibt es laut Heidrich und Ahrens Alternativen. So stelle das spanische Unternehmen Talgo etwa einen Triebzug her, der über einen ebenerdigen Einstieg verfügt und den ICE 3neo in puncto Schnelligkeit mit einer Höchstgeschwindigkeit von 360 Kilometern pro Stunde sogar um 40 Kilometer pro Stunde schlägt.
Die Deutsche Bahn weist die Vorwürfe der Verbände von sich. Auf Anfrage der taz sagte ein Unternehmenssprecher, dass beim ICE 3neo „alle aktuellen Vorgaben zur Barrierefreiheit“ berücksichtigt wurden. Maßgeblich sei dabei das Regelwerk der „Technischen Spezifikationen Interoperabilität – Personen mit eingeschränkter Mobilität“.
Bessere Angebote als den ICE 3neo von Siemens habe es nicht gegeben. So sei unter den Angeboten der Hersteller auch kein Triebzug gewesen, der den Ausschreibungsvorgaben entsprochen und über einen stufenlosen Einstieg verfügt habe. „Um die Barrierefreiheit zu gewährleisten, wurde im ICE ein Hublift mit verbesserter Technologie verbaut, der auch vom Bordpersonal bedient werden kann“, heißt es bei der Bahn.
Zudem verfüge der ICE 3neo über zwei Rollstuhlstellplätze, ein Universal-WC, ein umfangreiches Wegleitsystem für Menschen mit eingeschränktem Sehvermögen sowie eine Tür pro Seite ausschließlich für Fahrgäste mit Mobilitätseinschränkungen.
Barrierefreier Personenverkehr ist eigentlich vorgeschrieben
Gemäß dem Behindertengleichstellungsgesetz ist die barrierefreie Gestaltung des Personenverkehrs jedoch auch gesetzlich vorgeschrieben. Für den Nahverkehr wurde die vollständige Barrierefreiheit sogar im Personenbeförderungsgesetz vorgeschrieben, sollte dort seit Anfang des Jahres gelten.
Die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben klagt nun gegen das Eisenbahn-Bundesamt und das Bundesministerium für Digitales und Verkehr. Damit will die Initiative jetzt juristisch einfordern, dass es wenigstens rund um die Uhr eine Einstieghilfe geben muss, solange es mit dem ebenerdigen Einstieg schon nichts wird. Dann wäre das Bahnfahren zwar immer noch nicht so flexibel wie für andere Fahrgäste, aber immerhin nicht nur zu bestimmten Uhrzeiten möglich.
Der Allgemeine Behindertenverband Deutschland sucht das Gespräch mit den fachpolitischen Sprecher:innen der Regierungsparteien. Ein Treffen mit der Grünen-Fraktion hat bereits stattgefunden, weitere sollen folgen. Einfache Gespräche werden das nicht, da ist sich Heidrich sicher. „Das ist ganz klar viel politische Arbeit, die auf uns zukommt.“
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