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Mangelnde Barrierefreiheit bei der BahnSteige ein, wer kann

Wer ICE fahren will, muss Stufen erklimmen. Für Menschen im Rollstuhl ist das ein Problem. Auch die neuen Vorzeigezüge ändern daran nichts.

Neuer ICE 3neo: mehr Geschwindigkeit, mehr Komfort – aber nicht für alle Foto: Clemens Bilan/epa

Berlin taz | Der neue ICE 3neo ist schnell, digital, und frequenzdurchlässige Fensterscheiben ermöglichen das Telefonieren während der Fahrt. Die Deutsche Bahn wirbt entsprechend mit einem Zugewinn an „Qualität und Komfort“. Für alle Bahn­fah­re­r:in­nen gilt der aber nicht. Behindertenverbände sind wütend, weil man immer noch Stufen nehmen muss, um in den Zug zu kommen. Das ist für viele Menschen beschwerlich oder gar unmöglich.

Roll­stuhl­fah­re­r:in­nen kommen bislang nur mithilfe eines Hublifts in die ICE der Deutschen Bahn. Angesichts dessen, dass auch die 73 nagelneuen 3neo-Züge keinen stufenlosen Einstieg bieten, wird das wohl auch erst mal so bleiben.

Das ist fatal, findet Alexander Ahrens, Sprecher der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben. Er weiß aus Erfahrungsberichten, dass die Hublifte für das Zugpersonal schwer zu bedienen sind und nicht immer funktionieren, wie sie sollten. „Das ist sehr einschränkend, weil Roll­stuhl­fah­re­r:in­nen die Stufen nicht ohne Hilfe überwinden und in diese Züge einsteigen können“, sagt Ahrens.

Menschen mit Rollstuhl sind auf die Hilfe des Zugpersonals oder des Mobilitätsservice angewiesen, wenn sie in einen ICE einsteigen wollen. Zudem muss eine Mitfahrt mit Rollstuhl vorher beim Mobilitätsservice angemeldet werden und ist auch dann nicht rund um die Uhr möglich, sondern nur von 6 Uhr morgens bis 10 Uhr abends.

„Einfach genauso Zug fahren wie Menschen ohne Rollstuhl“

In einem vorangegangenen Schlichtungsverfahren, welches die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben bereits im Jahr 2017 einleitete, ging es um eine Erweiterung dieses Zeitrahmens. Roll­stuhl­fah­re­r:in­nen sollten zeitlich uneingeschränkt mitfahren können. „Wir wollen keinen Sonderstatus, sondern einfach genauso flexibel Zug fahren wie Menschen ohne Rollstuhl“, erklärt Ahrens der taz.

Seit vielen Jahren gibt es einen regelmäßigen Austausch zwischen Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben sowie dem Allgemeinen Behindertenverband Deutschland auf der einen Seite und der Deutschen Bahn auf der anderen.

„Im letzten Präsenztreffen vor der Coronapandemie wurde uns zugesichert, dass nur noch Züge mit ebenerdigem Einstieg gekauft werden sollen“, sagt Ahrens. Umso unerwarteter und enttäuschender war daher der im Juli 2020 geschlossene Rahmenvertrag mit Siemens für eine 2 Milliarden teure Produktion. Als die Verbände von der Bestellung der ersten 30 ICEs erfuhren, war laut Ahrens alles schon „festgezurrt“. Jetzt habe er den Eindruck, dass die Mitsprache der Verbände „eher eine Scheinbeteiligung“ sei.

Das sieht Klaus Heidrich, Vizechef des Behindertenverbands, ähnlich: „Es werden Milliarden Euro für Züge ausgegeben, die nicht einmal annähernd barrierefrei sind.“ Dabei gibt es laut Heidrich und Ahrens Alternativen. So stelle das spanische Unternehmen Talgo etwa einen Triebzug her, der über einen ebenerdigen Einstieg verfügt und den ICE 3neo in puncto Schnelligkeit mit einer Höchstgeschwindigkeit von 360 Kilometern pro Stunde sogar um 40 Kilometer pro Stunde schlägt.

Die Deutsche Bahn weist die Vorwürfe der Verbände von sich. Auf Anfrage der taz sagte ein Unternehmenssprecher, dass beim ICE 3neo „alle aktuellen Vorgaben zur Barrierefreiheit“ berücksichtigt wurden. Maßgeblich sei dabei das Regelwerk der „Technischen Spezifikationen Interoperabilität – Personen mit eingeschränkter Mobilität“.

Bessere Angebote als den ICE 3neo von Siemens habe es nicht gegeben. So sei unter den Angeboten der Hersteller auch kein Triebzug gewesen, der den Ausschreibungsvorgaben entsprochen und über einen stufenlosen Einstieg verfügt habe. „Um die Barrierefreiheit zu gewährleisten, wurde im ICE ein Hublift mit verbesserter Technologie verbaut, der auch vom Bordpersonal bedient werden kann“, heißt es bei der Bahn.

Zudem verfüge der ICE 3neo über zwei Rollstuhlstellplätze, ein Universal-WC, ein umfangreiches Wegleitsystem für Menschen mit eingeschränktem Sehvermögen sowie eine Tür pro Seite ausschließlich für Fahrgäste mit Mobilitätseinschränkungen.

Barrierefreier Personenverkehr ist eigentlich vorgeschrieben

Gemäß dem Behindertengleichstellungsgesetz ist die barrierefreie Gestaltung des Personenverkehrs jedoch auch gesetzlich vorgeschrieben. Für den Nahverkehr wurde die vollständige Barrierefreiheit sogar im Personenbeförderungsgesetz vorgeschrieben, sollte dort seit Anfang des Jahres gelten.

Die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben klagt nun gegen das Eisenbahn-Bundesamt und das Bundesministerium für Digitales und Verkehr. Damit will die Initiative jetzt juristisch einfordern, dass es wenigstens rund um die Uhr eine Einstieghilfe geben muss, solange es mit dem ebenerdigen Einstieg schon nichts wird. Dann wäre das Bahnfahren zwar immer noch nicht so flexibel wie für andere Fahrgäste, aber immerhin nicht nur zu bestimmten Uhrzeiten möglich.

Der Allgemeine Behindertenverband Deutschland sucht das Gespräch mit den fachpolitischen Spre­che­r:in­nen der Regierungsparteien. Ein Treffen mit der Grünen-Fraktion hat bereits stattgefunden, weitere sollen folgen. Einfache Gespräche werden das nicht, da ist sich Heidrich sicher. „Das ist ganz klar viel politische Arbeit, die auf uns zukommt.“

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14 Kommentare

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  • Wozu barrierefreie Züge, wenn man schon wegen dem kaputten oder nicht vorhandenem Lift nicht auf den Bahnsteig kommt?

  • Auch eine Möglichkeit, den Betrieb von Nachtzügen zu erschweren:

    "Damit will die Initiative jetzt juristisch einfordern, dass es wenigstens rund um die Uhr eine Einstieghilfe geben muss, solange es mit dem ebenerdigen Einstieg schon nichts wird."

    Das hat dann nicht etwa zur Folge, dass Nachtzüge mit Einstiegshilfe erreichbar sind, sondern dass nachts eben nich mehr gehalten wird.

  • Das Problem betrifft sowieso nicht ausschließlich Menschen mit Behinderungen. Es betrifft auch alle mit Kinderwagen und all, die nicht mehr jung sind, so wie ich. Habe ich gerade eine kleine Reise gemacht, wo ich bei jedem Ein- und Ausstieg erhebliche Mühe hatte, den Koffer über die Stufen zu katapultieren. Völlig unverständlich, dass dies immer noch ein Problem ist.

  • Um den Verantwortlichen bei der DB einen guten Eindruck von der Barrierefreiheit der Bahn zu vermitteln, setze man sie in einen Rollstuhl und schicke sie auf eine Reise mit ihren Zügen einmal durch das ganze Land. Danach sprechen wir dann nochmal über verbesserte Technologie und entsprechende Möglichkeiten.

  • Ich war schon immer der Meinung, dass sog. Behinderte nicht per sé behindert sind, sondern von der Gesellschaft dazu gemacht werden, nämlich durch Behinderung.

  • "eine Tür pro Seite ausschließlich für Fahrgäste mit Mobilitätseinschränkungen"



    Dies ist genau das, was auch bei Straßenbahnen oder Bussen gängige Praxis ist. Das bedeutet in der Praxis, dass man zum einen trotz eingeschränkt er Mobilität erst einmal überhaupt zur passenden Tür gelangen muss. Nicht jeder Mobilitätseingeschränkte hat einen Rollstuhl. Oft sind diese Bereiche mit Kinderwägen und entsprechend eingeschränkten Personen so voll, dass es keinen Sitzplatz bzw. keinen Platz für einen Rollstuhl mehr gibt. Dies bedeutet: (Straßen-/bahnBus) fahren lassen und warten. Oft kann man erst zwei oder drei Bahnen später einsteigen.

    Dies gilt zumindest für die aktuellen Bedingungen bezüglich Corona und ohne 9 Euro Tickets. Wenn künftig wieder mehr Menschen öffentliche Verkehrsmittel nutzen, wird dies noch schlimmer werden.

  • 1G
    164 (Profil gelöscht)

    "Die Deutsche Bahn weist die Vorwürfe der Verbände von sich. Auf Anfrage der taz sagte ein Unternehmenssprecher, dass beim ICE 3neo „alle aktuellen Vorgaben zur Barrierefreiheit“ berücksichtigt wurden. Maßgeblich sei dabei das Regelwerk der „Technischen Spezifikationen Interoperabilität – Personen mit eingeschränkter Mobilität“."



    Dann ist es ja gar nicht so schlimm dass Leute immer noch nicht selbstständig einsteigen können, wenn alle Vorgaben erfüllt sind. Echt klasse die Bahn!

  • Mein Geburtsjahrgang ist 1953 - ich gehöre also zu den sogenannten älteren Semestern und bin inzwischen auf leichte Einsteigmöglichkeiten in öffentliche Verkehrsmittel angewiesen .



    Es ist mir völlig unverständlich, dass das Management der Deutschen Bahn sich dermaßen ignorant verhält und neue Züge kauft, die nicht nur behindertenfeindlich sind, sondern allen Kundinnen und Kunden, die mit Gepäck, Kinderwagen, Gehhilfen ... verreisen, eigentlich als Nutzerinnen und Nutzer der Bahn nicht will.



    SO kriegen wir die Verkehrswende nicht hin.

  • Unfassbar mit welcher Arroganz und fadenscheinigen Begründungen die Deutsche Bahnb immer noch u schon seit langen das Grundrecht auf autonomen Zugang zu den Zügen für Rollifahrer u Gehbeeinträchtigte torpediert. Wann zwingt man endlich unseren Staatsbetrieb hier seine Pflicht zu tun? Selbständiger Zugang ohne diese technische Hilfsmittel mit Abhängigkeit vom Personal ist ein must. Die Bahn argumentierte in der Vergangenheit wie folgt: Wir mögen den persönlichen Kontakt zu unseren (beeinträchtigten) Kunden." Das kommt einer Verhöhnung gleich.



    Es gibt kein Angebot an barrierefreien, zugänglichen Zügen? Die DB kauft ein Riesenkontingent Züge am Markt und hat keinen Einfluß auf dieses Gestaltungsde tail?



    Man beruft sich auf eine beliebige Verordnung, die man erfüllt und begegnet den Argumenten der Betroffenen mit ignoranter Arroganz des Staatsbetriebes.



    Die DB und die verantwortlichen Politiker sollen sich schämen. Sie sollen sich einmal bewußt machen, wie schnell jeder von ihnen auf einen Rollstuhl angewiesen sein kann.



    Den Vertretern der aller beeinträchtigten Menschen wünsche ich einen langen Atem.

    • @Simpel:

      Ja! So wie mensch selbst per festinstallierter Rampe in öffentliche Gebäude kommt und per Fahrstuhl in die gewünschte Etage, sollte es auch normal sein in Züge hineinzukommen. Und offenbar ist das auch möglich, wie im Artikel ja auf ein Beispiel eines barrierefreien Zug von Talgo hingewiesen wird.

  • Ein weiterer Grund für Menschen mit Behinderungen, lieber mit dem PKW zu reisen. Auch andere Personengruppen bevorzugen den Individualverkehr.

    • @C.O.Zwei:

      Wenn die Gehbehinderten mit dem Auto fahren, ist das weniger schädlich als eine generelle Verteuerung des Bahnfahrens durch überzogene Zugänglichkeitsanforderungen mit der Folge, dass zahlreiche Nicht-Behinderte zusätzlich mit dem Auto fahren.

      • @meerwind7:

        Schon mal auf den Gedanken gekommen, dass nicht ieder und erst recht nicht jeder Gehinderte einen Führerschein hat?

        Ich habe mich früh bewusst gegen das Erwerben eines Führerscheins entschieden. Der Umwelt zuliebe. Jetzt, 30 Jahre später, bin ich gesundheitlich nicht mehr in der Lage, noch einen zu machen. Ich muss aber auch zu Ärzten oder Krankenhäusern, die n8cht um die Ecke sind und will wenigstens ein Mal im Jahr meine Familie sehen, die für mich nur m8t der Bahn erreichbar ist.

        Was also genau sind "überzogene Zugänglichkeitsanforderungen"?

      • 1G
        164 (Profil gelöscht)
        @meerwind7:

        Ich glaube sowas wie "überzogene Zugänglichkeitsanforderungen" an öffentlichen Transport gibt es schlicht nicht. Na gut, vielleicht doch: ich verlange, dass ich mit meinem unangeleinten Krokodil in den ICE komme.